Die Matroschka — Eine herrliche Puppe!
VON UNSEREM KORRESPONDENTEN IN RUSSLAND
SOBALD Touristen mich auch nur flüchtig zu sehen bekommen, wollen sie mich meist schon mit nach Hause nehmen und sind bereit, sich dafür in Unkosten zu stürzen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie so erpicht auf mich sind. Eigentlich wissen die meisten doch kaum etwas über mich. Ob sie mich wohl kaufen, weil es jeder tut? Zunächst will ich mich aber einmal vorstellen: Ich heiße Matroschka und stamme aus ... Doch beginnen wir lieber ganz von vorn!
Niemand weiß genau, woher ich komme und wer meine richtigen Eltern sind. Darüber sind zwei Versionen im Umlauf. Einige behaupten, ich würde von der japanischen Insel Honshu stammen, wo ich einst ein ungewöhnliches Spielzeug aus mehreren zusammenfügbaren Teilen gewesen sein soll. Sie meinen, daß mich die Frau eines russischen Mäzens namens Sawa I. Mamontow (1841—1918) Ende des 19. Jahrhunderts von Honshu nach Rußland mitgenommen hat. Glaubt man hingegen gewissen Japanern, dann war es ein russischer Mönch, der Japan zuerst mit der Idee bekannt machte, aus mir eine außergewöhnliche Puppe zu machen. Na, wie dem auch sei, russischen Kunsthandwerkern gefiel die Idee jedenfalls, und so wurde Matroschka geboren.
Ende der 1880er Jahre baute Rußland seine Wirtschaft und seine Kultur aus. Gleichzeitig entwickelten die Russen ein größeres Interesse daran, ihr Volkstum zu bewahren. Fest dazu entschlossen, die russische Kultur wiederaufleben zu lassen, begannen sich Intellektuelle um Mamontow zu scharen, darunter so berühmte russische Maler wie Ilja Repin, Wiktor Wasnezow und Michail Wrubel. Man richtete in der Nähe von Moskau Künstlerateliers ein, um das Andenken an die russische Bauernschaft zu bewahren. Dort wurden volkstümliche Gegenstände, Spielzeug und Puppen aus allen Teilen des Landes gesammelt.
Ein Kunstgewerbler mit Namen Sergej Maljutin machte die ersten Skizzen von mir, doch sah ich damals noch ein bißchen anders aus. Ich sollte ein Bauernmädchen mit einem rundlichen Gesicht und strahlenden Augen darstellen. Ich trug ein sarafan (ein bodenlanges Trägerkleid), und mein glatt anliegendes, sorgfältig frisiertes Haar war fast ganz von einem großen bunten Kopftuch verdeckt. Weitere Püppchen, von denen eine immer kleiner war als die vorherige, wurden in mich hineingesteckt. Sie trugen Kleidungsstücke wie die kosoworotka (Russenbluse, die seitlich versetzt geschlossen wird), den poddjowka (taillierter Herrenmantel), das Leibchen und die Schürze. So sah ich also aus, als man mich um 1891 in Moskau anfertigte — die Skizzen Maljutins verraten es.
Über meinen Namen habe ich mir schon öfter Gedanken gemacht. Nun, ich fand heraus, daß Ende des 19. Jahrhunderts Matrjona (mit der Koseform Matroschka) einer der beliebtesten Mädchennamen in Rußland war. Der Name wurde hergeleitet von dem lateinischen Wort matrona, das „Mutter“, „ehrbare Frau“ oder „Mutter einer Familie“ bedeutet. Eine Figur in die andere zu stecken war auch ein passendes Symbol für Fruchtbarkeit und Fortbestand.
Nicht so einfach herzustellen
Man weiß von Leuten, die bei dem Versuch, mich anzufertigen, viel Material verschwendet haben und sich schließlich geschlagen geben mußten. Kein Wunder, denn meine Herstellung war bis vor kurzem noch ein Geheimnis! So konnten nur einige wenige eine Matroschka besitzen. Aber jetzt werde ich das Geheimnis verraten.
Die mit meiner Anfertigung verbundene Arbeit erfordert große Geschicklichkeit. Zuerst einmal ist es wichtig, das richtige Holz auszuwählen. Allgemein bevorzugt man wegen seiner Weichheit das Holz der Linde, aber man nimmt auch Erlen- oder Birkenholz. Nach dem Fällen der Bäume, was normalerweise zu Beginn des Frühlings geschieht, wird von den Baumstämmen ein Großteil der Rinde entfernt und nur gerade so viel übriggelassen, wie notwendig ist, damit das Holz während des Trocknens nicht reißt. Die Stämme bleiben dann mehrere Jahre aufgeschichtet liegen, so daß sie bei ausreichender Luftzirkulation trocknen können.
Für das Drechseln des Holzes muß genau der richtige Zeitpunkt abgepaßt werden, es darf weder zu trocken noch zu feucht sein. Nur der Fachmann kann das entscheiden. Jedes einzelne Holzstück durchläuft 15 Arbeitsgänge. Als erstes wird das kleinste Püppchen der Serie gemacht, das sich nicht mehr öffnen läßt. Mitunter ist es so winzig, daß man schon ganz angestrengt hinsehen oder sogar ein Vergrößerungsglas nehmen muß, um es deutlich erkennen zu können.
Ist das kleinste Püppchen fertig, fängt der Kunsthandwerker mit der nächsten Puppe an, in die die erste hineinpassen soll. Ein Holzstück wird so lange gedrechselt, bis es die gewünschte Größe hat, und dann in zwei Teile getrennt, ein oberes und ein unteres. Die untere Hälfte der Puppe wird zuerst bearbeitet. Schließlich werden beide Teile der zweiten Puppe so ausgehöhlt, daß das kleinere Püppchen bequem hineinpaßt. Nebenbei bemerkt, gibt sich ein geübter Handwerker nicht damit ab, die Maße zu berechnen, sondern vertraut da ganz auf seine Erfahrung. Den Vorgang wiederholt er bei der nächsten, etwas größeren Puppe, in die wiederum die zwei vorherigen hineinpassen.
Die Anzahl der Puppen in einer Puppe reicht von 2 bis 60. Die größte davon kann so groß wie der Hersteller sein! Wenn eine Puppe fertig ist, wird sie mit einem Stärkekleister überzogen, der etwaige Unebenheiten auf der Oberfläche ausgleicht. Die Puppe muß noch trocknen und wird anschließend poliert, bis die Oberfläche so glatt ist, daß der Maler die Farbe gleichmäßig auftragen kann. Dann erhält sie ihr unverwechselbares Aussehen.
Die Zeit ändert einiges
Wenn Menschen älter werden, verändern sie sich, und dasselbe kann man auch von mir sagen. Die Kunst der Herstellung von Matroschkas breitete sich langsam von Moskau auf andere Städte und Ortschaften aus, darunter Semjonow, Polkhowskij Meidan, Wjatka und Twer.a An jedem Ort entwickelte sich ein ganz eigener Stil künstlerischer Gestaltung. Den Verlust meiner Identität empfand ich als störend, aber ich habe mich nicht beklagt. Anläßlich der Hundertjahrfeier zum Gedenken an den russischen Feldzug von 1812 gab jemand den Auftrag für eine Serie von Puppen, die den russischen Feldmarschall Michail Kutusow und den französischen General Napoleon Bonaparte darstellen sollten. Diese zwei Oberbefehlshaber machten die größten Puppen aus, und die sich im Krieg gegenüberstehenden feindlichen Generäle wurden entsprechend kleiner gefertigt, damit sie in ihre jeweiligen Befehlshaber hineinpaßten.
Lange Zeit unterlag die Herstellung und der Verkauf dieser Art von Puppen strengen Kontrollen. Doch die politischen Veränderungen Ende der 80er Jahre brachten für die Kunsthandwerker ganz neue Möglichkeiten und Freiheiten mit sich. Sie konnten ihre Produkte nun ganz unbesorgt anfertigen und zum Verkauf anbieten.
Zu den ersten, deren Puppen in der Öffentlichkeit große Popularität erlangten, gehörte ein Maler namens Sikorskij. Seine Puppen erzielen die höchsten Preise, wobei ein einziger Satz 3 000 Dollar kosten kann. Der Erfolg Sikorskijs war für andere Künstler ein großer Anreiz, und in den vergangenen sechs Jahren hat die Herstellung von Matroschkapuppen einen enormen Aufschwung erlebt.
Der Name Matroschka wird mittlerweile für alle Puppen gebraucht, die man ineinanderstecken kann. Beim Bemalen verwendet man ganz unterschiedliche Motive: Blumen, Kirchen, Ikonen, Szenen aus dem Familienleben oder aus Volkserzählungen und sogar prominente Geistliche und Politiker. Die heute vorhandene reichhaltige Auswahl trägt dazu bei, daß ich einigermaßen erschwinglich bleibe.
Als ich im Sommer 1993 wie gewöhnlich in einem Schaufenster in Moskau stand, hörte ich plötzlich das Stimmengewirr einer sich nähernden ausländischen Touristengruppe. Ich bekam mit, daß sie etwas über den Besuch eines Kongresses der Zeugen Jehovas sagten und daß sie mich alle gern als Andenken an ein so wunderbares Erlebnis mit nach Hause nehmen wollten. Fragend starrte ich sie mit großen Augen an. Und einer von ihnen sagte, als ob er mir antworten wollte: „Sie ist irgendwie mehr als nur ein Souvenir. Meine Freunde müssen einfach einmal ihre Augen gesehen haben. Ich sehe in ihnen den gleichen Ausdruck, wie ich ihn in den Augen der russischen Menschen entdeckt habe, mit denen ich über das Königreich und den Namen Gottes aus der Bibel gesprochen habe.“
Jehovas Zeugen? Das Königreich? Der Name Gottes? Die Bibel? Meine Augen wurden immer größer, während ich zuhörte, und mein Herz klopfte ein bißchen schneller bei der Aussicht, von diesen sympathisch aussehenden Menschen mit in die Ferne genommen zu werden. Vielleicht könnte ich dann ja auch mehr darüber erfahren, warum sie überhaupt nach Rußland gekommen waren. Es steckte ganz bestimmt mehr dahinter, als lediglich mit mir Bekanntschaft zu machen — mit einer Puppe namens Matroschka.
[Fußnote]
a Während der 30er Jahre wurde Wjatka unter dem Namen Kirow bekannt, und Twer nannte man Kalinin. Mit der Auflösung der Sowjetunion haben diese Städte wieder ihren ursprünglichen Namen erhalten.