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Wälder im MeerErwachet! 1987 | 22. März
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Wälder im Meer
Mein Name ist Garibaldi. Dies ist mein Zuhause. Ist es nicht schön?
Einmal wollte man mich fangen und in einen kleinen Behälter setzen. Man stelle sich das vor! Ich wäre an Klaustrophobie gestorben. Entschuldigung, daß ich so großspurig daherrede. Das bedeutet Furcht vor geschlossenen Räumen.
Aber nun bin ich in Sicherheit. Man hat mich zum kalifornischen Staatsemblem erkoren, und jetzt bin ich geschützt.
Wenn du mehr über mein schönes Zuhause wissen möchtest und an einigen meiner Nachbarn interessiert bist, dann lies über die [Wälder im Meer].
IN DEN kalifornischen Küstenwäldern stehen die Besucher inmitten der immergrünen Mammutbäume und schauen vor Staunen sprachlos nach oben. Von riesigen, in den Himmel ragenden Baumstämmen umgeben und von dem grünen Baldachin hoch oben beschirmt, durch den Lichtstrahlen schräg einfallen, kommt man sich klein und unbedeutend vor. Bei der atemlosen Stille inmitten des riesigen Waldes, in dem sich die Lichtstrahlen so drastisch gegen das schattige Dunkel abzeichnen, überkommt einen ein Gefühl der Ehrfurcht. Viele fühlen sich in diesen Mammutbaumwäldern geborgen.
Nicht so viele hingegen würden sich in Riesenwäldern einer anderen Art geborgen fühlen. Diese befinden sich nicht an der Küste, sondern vor der Küste Kaliforniens. Auch sie ragen in die Höhe und breiten einen Baldachin aus, durch den Lichtstrahlen in die düstere Umgebung einfallen. Und auch dort herrscht Ruhe, Stille. Die Lichtstrahlen verleihen dem Wald eine betörende Schönheit — und ähnliche Gefühle des Staunens und der Ehrfurcht überkommen einen.
Dieser Wald hat keine Bäume, sondern Thalluszweige; keine Baumstämme, sondern Stiele; keine Blätter, sondern Thalluslappen; keine Wurzeln, sondern Haftorgane. Dieser Wald wächst unter Wasser. Der botanische Name der Pflanze, um die es geht, lautet Macrocystis pyrifera. Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt sie Birntang — es ist eine Braunalge und „die größte und am schnellsten wachsende Meerespflanze der Welt“. Wer sich diesen Wald ansehen möchte, muß besonders ausgerüstet sein. Man legt ein Atemgerät an und zieht einen Taucheranzug über zum Schutz gegen die Kälte des Meeres. Und wenn man mehr als nur Erinnerungen mitnehmen will, muß man eine Unterwasserkamera und künstliche Beleuchtung dabeihaben.
Der Birntang ist zunächst mikroskopisch klein. Sporen setzen sich an Felsen bis in dreißig Meter Tiefe fest. Aus ihnen entstehen winzige männliche und weibliche Pflänzchen, die durch eine Verbindung von Spermatozoiden und Eizellen Embryos bilden. Von diesen Embryos wachsen Thalluszweige in die Höhe, während dünne Schnüre nach unten wachsen. Die Thalluszweige strecken sich zur Meeresoberfläche hin, d. h. zum Sonnenlicht, während sich die Schnüre an Felsgestein heften, um die Pflanzen fest zu verankern. Diese Schnüre wachsen in großen Bündeln und sind Haftorgane.
Während die Thalluszweige wachsen, entstehen Schwimmblasen, durch die sie an der Meeresoberfläche gehalten werden. Dort wachsen sie weiter, breiten sich aus und bilden einen dichten Baldachin. Die einzelnen Thalluszweige leben nur etwa sechs Monate, aber von den Haftorganen aus wachsen jeweils neue Zweige in die Höhe. Die gesamte Pflanze kann mehr als fünf Jahre leben. Sie nimmt ihre Nährstoffe durch die ganze Oberfläche auf — Thalluslappen, Stiel und Haftorgane.
Die Thalluszweige können am Tag über einen halben Meter wachsen. Mitunter wachsen sie über 30 Meter, bis sie die Meeresoberfläche erreichen, und dann weitere 30 Meter, um ihren im Wasser treibenden Baldachin zu bilden. Durch dieses Dach dringen Sonnenstrahlen ein, die dem Unterwasserreich eine überirdische Schönheit verleihen.
In einem Tangdickicht wimmelt es von Leben. Wissenschaftler behaupten, daß eine einzige ausgewachsene Birntangpflanze über eine Million Organismen ernähren kann. Rund 180 Arten leben allein an den Haftorganen — Krabben, Schnecken, Schlangensterne, Würmer und so weiter. Insgesamt leben schätzungsweise 800 Arten im Bereich eines solchen Tangdickichts, das ihnen als Nahrungsquelle, Schutz oder Jagdgebiet dient. Seesterne, Anemonen, Quallen, Muränen und viele Fische befinden sich in dem Tangdickicht. Ein recht kampflustiger kleiner Vertreter ist der leuchtendorange Garibaldi — der auch Staatsemblem von Kalifornien ist.
Ende der 50er Jahre waren die Birntangwälder Kaliforniens dem Aussterben nahe. Wärmeres Meerwasser ist für den Birntang lebensbedrohlich, und Stürme reißen ihn von seinen Haftorganen los. Doch in der Hauptsache wurde er vom Seeigel bedroht. Wie so oft, steckte allerdings der Mensch dahinter. In einer Information der Kelco-Gesellschaft heißt es:
„Seeigel — stachelige Meerestiere — ernähren sich von den Haftorganen, Thalluszweigen und Jungpflanzen des Tangs. Der Seeotter, der größte natürliche Feind des Seeigels, wurde in den vorhergehenden Jahren stark bejagt. Dadurch wurde das ökologische Gleichgewicht der Tangdickichte durcheinandergebracht. Die Seeigel, die sich nun ungehindert von dem Tang ernähren konnten, vermehrten sich ungehemmt und verschlangen breite Streifen des Tangwaldes. Es heißt von den Seeigeln, daß sie in einem Monat bis zu 10 Meter in das Tangdickicht vordrangen.“
Doch der Mensch sorgte auch für Abhilfe. Die Seeotter wurden geschützt, und sie nahmen an Zahl zu, während die Zahl der Seeigel abnahm. Die Birntangbestände erholten sich wieder. Kelco berichtet: „Heute haben die Bestände an Birntang fast wieder die Üppigkeit, die sie vor sechzig Jahren hatten. Das ökologische Gleichgewicht ist wiederhergestellt, und eine einst gefährdete Ressource ist wiedererstanden.“
Und so ist es Tauchern möglich, durch das Tangdickicht zu gleiten und mit ihrer Kamera einen Abglanz der Herrlichkeit ans Tageslicht zu bringen, die diese Meereswälder in sich bergen.
[Ganzseitiges Bild auf Seite 17]
[Bilder auf Seite 18]
Seeotter
Seeigel
Haftorgan
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Der Tang im täglichen LebenErwachet! 1987 | 22. März
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Der Tang im täglichen Leben
BIRNTANG ist für uns unentbehrlicher, als wir denken. In einem Artikel der Zeitschrift Oceanus erläutern die Meeresbiologen Ron H. McPeak und Dale A. Glantz, wie der Birntang aus dem Meer in unser tägliches Leben gelangt. Er wird entlang der kalifornischen Küste von San Diego aus in Richtung Norden bis nach Carmel geerntet.
Produktive Bestände können dreimal im Jahr abgeerntet werden. Moderne Ernteschiffe fahren mit dem Heck voran durch das Tangdickicht. Schneideblätter, die sich hin- und herbewegen und an einer Förderanlage angebracht sind, arbeiten wie ein Rasenmäher. Sie schneiden die Thalluszweige einen Meter unterhalb der Meeresoberfläche ab. Die Förderanlage bringt dann den geschnittenen Tang an Bord. An einem Tag kann ein Ernteschiff 550 Tonnen ernten. In Kalifornien hat die Algenindustrie in einem Jahr 156 000 Tonnen geerntet.
Die Meereswälder werden durch das Ernten nicht beschädigt. Die geschlechtliche Fortpflanzung geschieht in dem Teil des Tangs, der unter Wasser belassen wird. Außerdem sind an der Auftriebskraft und an der Photosynthese die Thalluszweige als Ganzes beteiligt. Nach der Entfernung des dichten Baldachins tritt mehr Sonnenlicht ein, wodurch das Wachstum der neuen Thalluszweige, die sich unterhalb der Oberfläche befinden, angeregt wird. Bald hat sich ein neues Tangdickicht gebildet und wartet auf die nächste Ernte.
Der geerntete Birntang gelangt weit über den Küstenstrich hinaus. Die daraus hergestellten Produkte finden in deine Küche, in dein Eßzimmer und in deine Hausapotheke Eingang. Algen werden zu Viehfutter und Dünger verarbeitet, und Bestandteile der Algen gelangen in die Produkte der Industrie.
Der wichtigste Bestandteil der Algen ist Algin. Es wurde 1883 von einem englischen Apotheker entdeckt. Aber erst 1929 stellte die Kelco-Gesellschaft, eine Firma in San Diego, als erste in der Welt Alginprodukte her. Heute bringt der Verkauf der Alginprodukte aus Kalifornien jährlich über 35 Millionen Dollar ein. Die Anwendungsgebiete sind unzählig. „Verbunden mit anderen Stoffen, dicken sie ein, glätten, emulgieren, stabilisieren, gelatinieren oder bilden einen Film“, informiert die Zeitschrift Sport Diver. Weiter heißt es darin:
„Viele Brauer benutzen Alginate, damit der Schaum im Bierglas fester ist und länger hält. Alginate verhindern, daß sich Hautcremes entmischen, und sie tragen dazu bei, daß Speiseeis cremig ist. Der Geschmack und die Dickflüssigkeit mancher Kakaogetränke und Glasuren wird zum Teil durch Alginate erreicht. Man kann damit Papier beschichten, dessen Druckqualität verbessern und es fettundurchlässig machen.
Damit nicht genug, dienen Alginate auch zur Imprägnierung von Stoffen, wodurch die Brennbarkeit herabgesetzt wird. Andere Formen werden in Wäschestärke und Textilfarbe verarbeitet. Auch in einigen Arzneimitteln ist Algin enthalten sowie in bestimmten Klebstoffen, Gummiprodukten und Autopolituren.“
Die Ernte des Birntangs wird vom staatlichen Ausschuß zum Schutz der Fische und des Wildes in Kalifornien überwacht. Hoffentlich wird der Ausschuß seiner Aufgabe gut nachkommen und den Tang vor der Ausbeutung durch den Menschen bewahren. Und hoffentlich werden die reizenden Seeotter die Algen weiterhin vor den Seeigeln schützen, damit die Schönheit dieser Wälder uns weiterhin eine Augenweide ist und die Algenprodukte uns eine Gaumenfreude bleiben.
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