Nach Menschen fischen in der Arktis
Jeden Sommer predigen viele Zeugen Jehovas in „nichtzugeteilten Gebieten“ — abgelegenen Gegenden, in denen es keine Versammlungen gibt. Zu ihnen gehören Berufstätige und Schüler, die ihren Urlaub bzw. die Ferien dafür verwenden. Andere, die bereits als Pioniere im Vollzeitdienst stehen, dehnen ihre Tätigkeit vorübergehend auf solche Gebiete aus. Sie alle erleben die Freude, die gute Botschaft zu abgeschieden lebenden Menschen zu bringen. Außerdem haben sie dadurch die Gelegenheit, mit ihren Familienangehörigen und mit Glaubensbrüdern noch enger zusammenzuarbeiten. Der folgende Bericht handelt von einer solchen Reise, die eine Gruppe von Zeugen im hohen Norden unternahm.
LANGSAM glitt der Fischkutter Skagstein an einem Frühsommerabend vom Kai. Ein leichter Ostwind kräuselte das Meer und linderte ein wenig den Fisch- und den Ölgeruch. Wir standen an Deck und winkten zum Abschied, als wir aus Båtsfjord, dem größten Fischerdorf in der östlichen Finnmark (Norwegen), ausliefen.
An Bord befand sich eine achtköpfige Besatzung. Øivind und Åshild waren 11 Jahre zuvor nach Båtsfjord gezogen, um das Predigtwerk in diesem abgelegenen Gebiet zu unterstützen. Jetzt wollten sie in ein anderes Gebiet ziehen, da es hier inzwischen eine blühende Versammlung mit fast 40 Königreichsverkündigern gibt. Zur Besatzung gehörten außerdem der Kapitän Jarle (ein Berufsfischer und „zeitweiliger“ Pionier), zwei Pionierschwestern, ein Baggerfahrer, ein Industriearbeiter und ein Mitarbeiter aus dem norwegischen Bethel. Was hatte diese Gruppe zusammengeführt? Und was hatte sie auf ihrer Reise vor?
Von Insel zu Insel
Jarle wollte mit uns auf dieser Fahrt keinen Kabeljau fangen. Wir hatten uns vorgenommen, auf dem Weg von Båtsfjord im hohen Norden nach Brønnøysund im Nordland mit der Skagstein eine Insel nach der anderen und einen abgelegenen Ort nach dem anderen anzulaufen und dort zu predigen. Auf diese Weise wollten wir über die Hälfte der norwegischen Küste bearbeiten. Warum? Nun, weil viele dieser Orte ausschließlich mit Privatbooten erreicht werden können, ist es Jehovas Zeugen nur im Abstand von mehreren Jahren möglich, dort die Königreichsbotschaft zu verkündigen. Wir beabsichtigten, in diesen abgelegenen Orten nach Menschen zu fischen (Matthäus 4:18, 19).
Nachdem wir den Båtsfjord hinter uns gelassen hatten, fuhren wir die ganze Nacht auf Westkurs die Küste entlang. Es war der 1. Juli. Die Mitternachtssonne, die hinter einer dünnen Wolkendecke verborgen war, spendete ein fahles, angenehmes Licht. Auf den Felsen waren Tausende von Möwen zu sehen. Das Auf und Ab der offenen See gefiel zwar unserem Kapitän, aber einigen von uns Landratten kam das Meer schon recht rauh vor.
Am nächsten Morgen legten wir am Kai von Honningsvåg an. Hier sollte unser „Fischzug“ — unsere Evangelisierungsreise — beginnen. Die Nordnorweger stehen in dem Ruf, gastfreundlich und zuvorkommend zu sein. Sobald wir unsere Mission kurz erklärt hatten, wurde uns im allgemeinen in der Küche ein Stuhl angeboten und Kaffee serviert. Dann mußten wir ausführlich berichten, wer wir waren, woher wir kamen, welchen Beruf wir ausübten, wie unser Boot hieß und wie groß es war, ob wir schon Fische gefangen hatten und wie unsere weitere Reiseroute aussah. Erst nachdem das alles geklärt war, konnten wir zum eigentlichen Grund unseres Besuchs kommen — die gute Botschaft von Gottes Königreich.
Herzliche Aufnahme im kalten Norden
Spricht die Botschaft die Menschen auf einer Insel 480 km nördlich des Polarkreises an? Welche Sorgen macht man sich dort? Es sind genau dieselben Sorgen, die die Menschen überall sonst auch haben: soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, finanzielle und familiäre Schwierigkeiten und persönliche Probleme. Auch dort macht man sich Gedanken wegen der gespannten Weltlage — seien es die Spannungen zwischen Nord und Süd oder zwischen Ost und West.
Leicht konnten wir auf die Lösung der Bibel, auf Gottes Königreich, verweisen. Und wir wurden reich belohnt, wenn wir sahen, wie an die Stelle von Pessimismus und Skepsis Freude und Hoffnung traten. Viele Menschen in diesen abgelegenen Orten haben zwar von klein auf im Vaterunser um das Königreich gebetet, aber sie haben nie verstanden, was dieses Gebet eigentlich bedeutet (Matthäus 6:9-13). Wir ließen bei vielen Inselbewohnern biblische Literatur zurück und vereinbarten, mit ihnen brieflich in Kontakt zu bleiben, da wir das Interesse wachhalten wollten.
Obwohl es eigentlich Sommer war, betrug die Temperatur in Rolvsøy nur 2 °C, und es wehte ein scharfer Wind. Ein Bruder, den es trotz seines Mantels fröstelte, sprach einen Mann an, der allein am Strand stand.
„Ist dir kalt?“ fragte der Mann.
Der Bruder brachte kaum ein Wort über die Lippen.
„Komm mit, trink erst einmal etwas Warmes und iß etwas.“
Im Haus wurde der Bruder in die Küche geführt, wo die Frau beschäftigt war.
„Hast du Kaffee für diesen Burschen?“ fragte der Mann.
Heißer Kaffee wurde serviert, dazu Brot, selbstgemachte Marmelade und Lachs. Nach einer schönen Unterhaltung ließ der Bruder biblische Literatur zurück und ging aufgewärmt und mit frischem Mut zum nächsten Haus. So schöne Erlebnisse hatten wir in Verbindung mit unserer Zeugnistätigkeit bei den freundlichen und gastfreien Menschen in diesen abgelegenen Gebieten.
Eine wertvolle Erfahrung
Wenn die Skagstein auf der Fahrt von Insel zu Insel durch die Wellen pflügte, wurde die Besatzung nicht nur buchstäblich hin und her geworfen. Acht Menschen, die Tage, ja Wochen auf einem 12 Meter langen Boot auf engstem Raum leben, lernen recht schnell die verschiedenen Charakterzüge der anderen kennen. Es gelang uns jedoch, gut miteinander auszukommen und Rücksicht zu nehmen. Die scharfen Kanten wurden abgeschliffen, und unsere christliche Persönlichkeit wurde aufpoliert (Kolosser 3:9, 10). Daher erwies sich unsere Fahrt auch in dieser Hinsicht als eine äußerst wertvolle Erfahrung.
Wir besprachen gemeinsam den Tagestext und tauschten die Erfahrungen aus, die wir tagsüber gemacht hatten. Dann erörterten wir, was gesagt und getan worden war und was man hätte sagen und tun können. Dadurch wurden wir angespornt, uns noch mehr zu bemühen, die Menschen auf wirkungsvolle Weise anzusprechen. Die Jüngeren und Unerfahreneren erhielten guten Rat und wurden ermuntert, einen größeren Anteil am Dienst zu haben.
„Schon seit meiner Taufe liebäugele ich mit dem Vollzeitdienst“, sagte der 27jährige Bjørn. „Im Verlauf unserer Reise ist in mir der Wunsch und der Mut gewachsen, ‘Jehova auf die Probe zu stellen’. Ich habe erfahren, welch großes Vertrauen wir zu Jehova haben können. Die Reise hat es mir leichter gemacht, den Pionierdienst aufzunehmen“ (Maleachi 3:10).
Die Fahrt half uns auch, die Dringlichkeit der Zeit noch deutlicher zu erkennen. Viele der Orte, die wir besuchten, sind auf dem besten Wege zu veröden. Immer mehr fischverarbeitende Fabriken werden stillgelegt, und Postämter und Läden werden geschlossen. Die Menschen sind beunruhigt darüber, daß die jungen Leute schöne neue Häuser und den traditionellen Lebensstil aufgeben, weil sie ihr Glück in weit entfernten Städten suchen. Überall auf der Welt fehlt es Millionen an Obdach und Nahrung. Hier gibt es leerstehende Häuser und genügend Nahrung aus dem Meer. Aber relativ wenige geben sich damit zufrieden. All das ist ein beredter Beweis dafür, daß die Welt aus den Fugen geraten ist.
Der weitere Verlauf der Reise
Wir setzten unsere Reise entlang der Nordküste von Sørøya bis nach Kvænangen fort. Bei unseren Zwischenaufenthalten mußten wir manchmal mit dem Ruderboot ans Ufer fahren. Mancherorts konnte die Skagstein jedoch direkt am Kai anlegen. Viele der Einheimischen strömten herbei, um zu sehen, wer die Fremden waren, da wir ganz bestimmt nicht wie Fischer aussahen. Wenn sie erfuhren, daß wir Zeugen Jehovas waren und mit der guten Botschaft der Bibel kamen, entwickelten sich gewöhnlich angeregte Unterhaltungen.
Nachdem wir diese Gegend bearbeitet hatten, nahmen wir Kurs auf Tromsø, wo einige von uns den Bezirkskongreß „Göttlicher Frieden“ besuchen wollten. Dieser Teil der Reise war ein wirklich einmaliges Erlebnis. Es war zwar Nacht, aber die Mitternachtssonne, die knapp über dem Horizont stand, schien hell. Zur Rechten hatten wir die Silhouetten dunkler Inseln und Inselchen, und zur Linken glitzerten schneebedeckte Berge im Sonnenlicht. Die Luft war mild und das Meer leicht gekräuselt. Die Stille wurde nur durch das rhythmische Stampfen der Maschine und durch die leise Musik aus unserem Radio unterbrochen. Welch wunderbare Stimmung!
Nach dem Kongreß in Tromsø ergab sich eine kleine Änderung in der Mannschaft. Dann ging es weiter — an der Küste der Insel Senja und der Vesteråleninseln entlang nach Bodø und von dort nach Brønnøysund, dem letzten Etappenziel. An vielen Orten auf unserem Weg, so zum Beispiel auf Rødøy, trafen wir Menschen, die noch nie mit einem Zeugen Jehovas gesprochen hatten. Da Jahre vergangen waren, seit man dort das letztemal gepredigt hatte, war inzwischen eine neue Generation herangewachsen.
Eine unvergeßliche Reise
Als wir Brønnøysund erreichten, war es Ende August. Wir können rückblickend auf die Wochen, die wir an Bord der Skagstein verbrachten, sagen, daß es eine unvergeßliche Reise war. Wir haben unterwegs insgesamt 880 Stunden auf das Predigen der guten Botschaft verwendet und 126 Bücher sowie 1 026 Zeitschriften abgegeben. Außerdem konnten wir 12 Abonnements auf die Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! aufnehmen. Eine Menge Königreichssamen ist in diesem dünnbesiedelten Gebiet gesät worden.
„Das war mein schönster Urlaub!“ rief einer der jungen Reiseteilnehmer aus. Jeder, der das Vorrecht hatte, an dieser Reise teilzunehmen, empfand genauso. Wir hatten das Empfinden, daß es nicht nur ein schöner Urlaub war, sondern daß die Fahrt in geistiger Hinsicht zu dem Nützlichsten und Lohnendsten gehörte, was wir jemals unternommen hatten.
[Karten auf Seite 25]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
SCHWEDEN
FINNLAND
UdSSR
Brønnøysund
Rødøy
Bodø
NORWEGEN
Senja
Tromsø
Kvænangen
Sørøya
Rolvsøy
Honningsvåg
Båtsfjord