Ich bestieg den schönsten aller Berge
ICH bin in einer Kleinstadt in den Bergen Osteuropas geboren und aufgewachsen. Meine Eltern waren zwar katholisch, aber sie legten keinen Wert darauf, daß ich in die Kirche ging, und zu Hause wurde weder gemeinsam gebetet noch über Religion gesprochen. Wie viele andere junge Leute verwandte ich daher meine Zeit und Energie auf meine Ausbildung, auf Sport und Reisen.
In unserer Stadt gab es eine sehr aktive Bergsteigergruppe, die von einem freundlichen, erfahrenen Mann geführt wurde, der viel über die Berge wußte. Ihm habe ich es zu verdanken, daß ich selbst ein geübter Bergsteiger wurde. Von meinem 19. Lebensjahr an war es für mich die größte Freude, die prächtigen Ausblicke von hohen Gipfeln zu genießen, die Erregung zu verspüren, gefährliche Situationen gemeistert zu haben, und mit denjenigen Kameradschaft zu pflegen, die einem in diesen Gefahren zur Seite standen.
Als ich der Gruppe fünf Jahre angehörte, geschah etwas, woran ich mich noch immer gut erinnern kann. Wir waren bei einer Bergbesteigung an einer Stelle angelangt, wo das Gelände kaum Schwierigkeiten bot, und so ließ ich kurz vor dem Gipfel in meiner Konzentration nach. Plötzlich löste sich Gestein von der Spitze eines Felsens, auf den ich steigen wollte. Ich konnte nur noch zur Seite springen und meinen Kameraden warnen. Ein herabfallender Felsbrocken durchtrennte das Seil, das uns verband, und ich stürzte ab. Glücklicherweise wurde mein Fall 4 Meter tiefer von einem kleinen Grasplateau aufgehalten. In diesem Sport geht es jedoch nicht immer so glimpflich ab.
Mit 24 Jahren, nach Abschluß meines Universitätsstudiums, übernahm ich die Leitung der kleinen Alpinistengruppe in meiner Heimatstadt. Bald darauf hatten wir genug Geld für einen Kleinbus zusammen, der uns und unsere Ausrüstung zu weiter entfernten Bergen bringen sollte. Doch das Fahrzeug war in so schlechtem Zustand, daß ich drei Monate lang Tag und Nacht daran herumbastelte. Als es fertig war, sahen wir uns alle nach gefährlichen und somit gut bezahlten Arbeiten um, beispielsweise Bauarbeiten in großer Höhe. Damit verdienten wir uns das Geld für eine Reise in den Iran, die wir 1974 unternahmen. Dort bestiegen wir den 5 800 Meter hohen Vulkan Damavand. Der Aufstieg war anfangs relativ leicht, aber als wir uns dem Gipfel näherten, machte uns tiefer Schnee zu schaffen sowie Kurzatmigkeit wegen der großen Höhe und schädliche Dämpfe aus dem Vulkan.
Auf der Heimfahrt in unserem Kleinbus kam uns die Idee, den Ararat zu besteigen. Wegen der politischen Spannungen ließ sich unser Vorhaben allerdings nicht ausführen. 1975 machten wir Skiurlaub in den österreichischen Alpen, und zu jener Zeit riefen wir einen landesweiten Fotowettbewerb unter dem Motto „Mensch und Berg“ ins Leben. Dieser Wettbewerb wird immer noch jedes Jahr durchgeführt. Wir hatten alle das Gefühl, unser Leben sei ausgefüllt und befriedigend.
Ernüchterung
Im Alter von etwa 30 Jahren verlor das Bergsteigen für mich jedoch an Faszination, und ich fragte mich: „Ist das der ganze Sinn des Lebens?“ Man riet mir zu heiraten, doch einige meiner verheirateten Freunde schienen auch nicht besonders glücklich zu sein. Selbst bei Ehepaaren, deren Verbindung durch die Gefahren und die Erregung des Bergsteigens zusammengeschmiedet wurde, blieb in der Realität des Alltagslebens vom Glück offenbar nicht mehr viel übrig. Warum sie keine glückliche Ehe führten, wußte ich allerdings nicht. Ich wünschte mir zwar, verheiratet zu sein, aber nicht, um so unglücklich zu sein wie sie.
Außerdem fiel mir auf, daß die jungen Leute, die sich jetzt dem Bergsteigen zuwandten, anders waren. Früher hatte immer ein Geist der Disziplin, Zusammenarbeit und Freundschaft unter den Bergsteigern geherrscht. Doch nun waren unerfahrene und undisziplinierte Jugendliche darunter, die sich nicht mit allmählichen Fortschritten zufriedengaben. Sie wollten angeben und Klettertouren unternehmen, die für sie viel zu schwierig und gefährlich waren. Die zunehmende Ernüchterung veranlaßte mich, lange, tiefgründige Gespräche mit meinem Freund Bonjo zu führen. Er empfahl mir schließlich, mit Henry, einem Bergsteigerkameraden, zu sprechen.
Henry lieh mir das Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt. Als ich es las, war ich erstaunt, daß darin Fragen behandelt wurden, über die ich mir selbst schon Gedanken gemacht hatte. Es stellte sich heraus, daß Henry mit einem Zeugen Jehovas die Bibel studierte, und ich fragte ihn, ob ich mitmachen dürfe. Er war einverstanden, und so studierte ich zwei Jahre lang intensiv die Bibel und alle biblische Literatur, die ich bekommen konnte.
Bibelstudium
Mit zunehmender Erkenntnis verspürte ich immer größere Freude. Ich war nur oberflächlich mit der Lehre der katholischen Kirche vertraut gewesen, aber mit Erstaunen mußte ich feststellen, daß das Christentum der Bibel nicht aus Zeremonien, Traditionen und Gefühlsduselei besteht. Statt dessen sind hohe sittliche Maßstäbe zu beachten, die jeden Lebensbereich eines Christen berühren. Des weiteren war ich sehr erstaunt, daß die Bibel absolut logisch ist und den wirklich fundierten wissenschaftlichen Lehren nicht widerspricht.
Der Zeuge, der mit Henry und mir studierte, zwang uns nicht, unsere Ansichten und unsere Lebensweise zu ändern. Er hielt uns lediglich deutlich vor Augen, was die Bibel sagt. Daher beschäftigte ich mich in den ersten beiden Jahren des Studiums weiterhin mit dem Bergsteigen. Mit zunehmender Erkenntnis wurde mir allerdings bewußt, daß das Bergsteigen bei mir gleichsam eine Sucht war. Der Zwischenfall mit dem herabstürzenden Felsbrocken rief mir außerdem das in den Sinn, was Jesus zu Satan gesagt hatte, als dieser ihn herausforderte, sich von der Zinne des Tempels zu stürzen: „Du sollst Jehova, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen“ (Matthäus 4:5-7). Ich erkannte, daß dieser Sport mangelnden Respekt vor dem Leben verriet, das Jehova mir gegeben hatte.
So übertrug ich die Verantwortung für unsere Alpinistengruppe einem anderen erfahrenen Bergsteiger. Und rückblickend kann ich sagen, daß es gar nicht schwer war, das Bergsteigen zugunsten des Christentums aufzugeben. Als ich meine gesamte Ausrüstung — Skier, Steigeisen, Karabinerhaken, Hämmer, Felshaken und Eispickel — verschenkte oder verkaufte, war sie für mich, um mit den Worten des Apostels Paulus zu sprechen, nur noch „eine Menge Kehricht“ (Philipper 3:8). Die Beteiligung an dem großartigen Werk, Gottes Namen öffentlich zu preisen, erfüllte mich mit tiefer Zufriedenheit. 1977 symbolisierten Henry und ich unsere Hingabe an Jehova durch die Wassertaufe.
Anderen Zeugnis geben
Damals hatte die Bergsteigergruppe in unserer Stadt etwa 15 Mitglieder, und im Laufe der Zeit gaben Henry und ich allen Zeugnis. Welch eine Freude war es, als mein Bruder, der ihr ebenfalls angehörte, und seine Frau die Bibel studierten und sich 1981 taufen ließen! Schließlich stieß auch Bonjo zu uns, ebenso ein fünftes Mitglied des Alpinistenvereins. Wir brauchten keine hohen Berge mehr zu besteigen. Unsere größte Freude bestand nun darin, in den Tälern die Menschen zu besuchen, die die biblische Wahrheit schätzten. Diesen Wechsel nahm meine Mutter mit großer Erleichterung auf, da sie immer in Sorge gewesen war, wenn mein Bruder und ich Klettertouren unternommen hatten. Auch sie schloß sich uns in der reinen Anbetung Jehovas an.
Jetzt war ich nicht mehr so sehr darauf bedacht zu heiraten. Aus Gottes Wort kannte ich die Grundsätze für eine erfolgreiche Ehe, aber ich war glücklich, Gott im ledigen Stand ohne Ablenkungen dienen zu können. Salomo sagte: „Eine verständige Ehefrau ist von Jehova“ (Sprüche 18:22; 19:14). Daher beschloß ich, geduldig auf Jehova zu warten und in der Zwischenzeit so zu leben, daß ich einmal einen guten Ehemann abgeben würde. Jehova segnete mich 1982 in wunderbarer Weise mit einer lieben Frau.
Wir, meine Frau und ich, leben immer noch in den Bergen, die ich auch weiterhin sehr mag. Aber unser Hauptaugenmerk ist heute darauf gerichtet, Menschen zu helfen, einen anderen Berg zu besteigen. Welcher Berg ist das? Er wird in der Prophezeiung Jesajas erwähnt, wo es heißt: „Es soll geschehen im Schlußteil der Tage, daß der Berg des Hauses Jehovas fest gegründet werden wird über dem Gipfel der Berge, und er wird gewiß erhaben sein über die Hügel; und zu ihm sollen alle Nationen strömen. Und viele Völker werden bestimmt hingehen und sagen: ‚Kommt, und laßt uns zum Berg Jehovas hinaufziehen, zum Haus des Gottes Jakobs; und er wird uns über seine Wege unterweisen, und wir wollen auf seinen Pfaden wandeln.‘ Denn von Zion wird das Gesetz ausgehen und das Wort Jehovas von Jerusalem“ (Jesaja 2:2, 3). Welch eine Freude, diesen schönsten aller Berge bestiegen zu haben! (Eingesandt.)