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  • Ein Einblick in die Probleme des Stotterers
    Erwachet! 1986 | 8. November
    • Ein Einblick in die Probleme des Stotterers

      An heißen Tagen war es schon Familientradition, an der Eisdiele haltzumachen. Mein Lieblingseis war Pekannußeis. In meiner schwitzigen Hand hielt ich verkrampft das dicke, glatte 5-Cent-Stück fest, das mein Vater mir gegeben hatte. Mein Herz klopfte, und Schweißtropfen rannen mir die Schläfen hinunter. Ich kämpfte mit mir, ob ich nicht doch meinen Vater bitten sollte, für mich das Eis zu bestellen, aber ich wußte schon im voraus, was er erwidern würde. Allzuoft hatte er gesagt: „Carl, wenn du unbedingt ein Eis haben möchtest, dann kannst du es dir auch selbst bestellen.“ Ich hätte ihn deswegen verwünschen können. Konnte er denn nicht verstehen, wie sehr ich dabei litt? Zitternd stand ich nun wortlos vor der hohen, verchromten Theke. Auf den Zehenspitzen gelang es mir gerade noch, das feuchte Geldstück zu dem jungen Verkäufer mit dem grinsenden, pockennarbigen Gesicht hochzureichen.

      „Welche Sorte, Kleiner?“

      „Ich möchte Pe ..., bitte ein ... PPe ... Pe Pe Pe ...“

      Meine Lippen gingen keinen Millimeter auseinander, und ich rang nach Worten, ohne eine Silbe herauszubekommen. Ich bemerkte, daß der Verkäufer über meinen Kopf hinweg meinen Vater ansah. Es war der Gesichtsausdruck, den jeder Stotterer nur zu gut kennt, der Blick, der sagt: „Warum hilfst du ihm nicht? Das Kind scheint einen Anfall zu haben, und das macht mich nervös.“ Natürlich mußte ich nur noch mehr nach Worten ringen, bis ich voller Zorn und verwirrt nach Luft schnappte. Endlich kam es heraus: „Pekannußeis!“ Mir tat alles weh, aber es war vollbracht (The Best of Letting Go, Newsletter, San Francisco [USA]).

      WIE hättest du reagiert, wenn du neben Carl gestanden und beobachtet hättest, wie er sich ein Eis bestellte? Dr. Oliver Bloodstein, der in der Behandlung von Sprachstörungen über 37 Jahre Erfahrung verfügt, machte die interessante Bemerkung, daß „Nichtstotterer — wenn nicht ein besonderer Grund vorliegt — selten wissen, wie erschreckend und frustrierend das Stottern für den Betreffenden ist“. Für viele Stotterer ist das Sprechen ein Problem, das ihnen ständig großen Kummer bereitet und sie in Angst versetzt.

      Wie steht es mit dir? Sprichst du, ohne zu stottern? Wenn ja, dann fällt es dir wahrscheinlich schwer, eine solche Angst zu begreifen. Warum? Weil sich die wenigsten über das Sprechen Gedanken machen. Wenn wir das Bedürfnis verspüren, etwas zu essen, gehen wir in ein Restaurant und bestellen uns etwas. Wenn wir ein Geschenk aussuchen, fragen wir den Verkäufer, ob er uns behilflich sein kann. Wenn das Telefon klingelt, zögern wir nicht, den Hörer abzunehmen. Für Personen, die stottern, können alltägliche Ereignisse wie diese ein Alptraum sein.

      Vielleicht fragst du dich, ob das Problem tatsächlich so groß ist. Hast du je über das Leben eines Stotterers nachgedacht? Damit du ihn besser verstehen und dich besser in seine mißliche Lage versetzen kannst, laden wir dich ein, festzustellen, wie es im Inneren eines Stotterers aussieht, wie ihm zumute ist.

      Wie es im Inneren aussieht

      Joe: „Für mich ist das Stottern nicht nur eine Behinderung des Sprachvermögens; es ist eine Behinderung des Lebens schlechthin. Es erschwert einem, normal zu leben. Es behindert die Schulausbildung, das Ausdrucksvermögen und den Kontakt zur Gesellschaft. Ich kenne Personen, die deswegen keinen Ehepartner gefunden haben, ... sie haben keine Freunde. Sie stehen abseits, sind der Umwelt entfremdet, geächtet.“

      Donna: „Ich stottere ungefähr seit meinem neunten Lebensjahr. Als ich 27 Jahre alt war, war es so schlimm, daß ich zu Hause nie ans Telefon ging. Es erschreckt mich zu Tode, wenn mich jemand nach meinem Namen fragt und ich ihm antworten muß, da mir ‚Donna‘ nur sehr schwer über die Lippen kommt. In den letzten zwei Jahren habe ich 122mal verschiedene Namen angegeben.“

      Anonym: „Wie das Stottern mein Leben beeinflußt, kann ich am besten erklären, wenn ich ein wenig über den heutigen Tag erzähle. Bis zum Frühstück war alles soweit in Ordnung. Ich mußte ja nicht sprechen. Ich hatte verschlafen oder, besser gesagt, bin einfach im Bett liegengeblieben und hatte Angst vor dem Tag. Dann ging ich in eine Schnellgaststätte an der Ecke. Eigentlich hatte ich Appetit auf Kaffee und Brötchen, aber ich bestellte Milch und Hafergrütze, weil ich wußte, daß ich bei den anderen Wörtern immer sehr ins Stocken komme. Ich wollte von der Frau, die mich bediente, nicht bemitleidet werden. Hafergrütze schmeckt mir übrigens ganz und gar nicht.

      Im Unterricht rief mich der Dozent auf, und obwohl ich die Antwort wußte, stellte ich mich dumm und verneinte die Frage durch Kopfschütteln; danach fühlte ich mich hundeelend. Nach dem Unterricht flüchtete ich mich in die Bibliothek, nahm ein Buch zur Hand, und wenn jemand vorbeikam, tat ich so, als ob ich mich in den Stoff vertieft hätte.

      Da ich abgebrannt war, schrieb ich meinem Vater und bat ihn um Geld. Den Brief hätte ich gern als Eilbrief frankiert, doch mir fiel ein, daß ich, als ich das letztemal auf dem Postamt versucht hatte, eine entsprechende Marke zu kaufen, über das Ei-Ei-Ei-Ei-Ei-Ei nicht hinausgekommen war. Der Schalterbeamte war ungeduldig geworden und die Leute in der Schlange hinter mir auch. Das wollte ich nicht noch einmal ertragen; deshalb besorgte ich mir eine normale Briefmarke aus dem Automaten und frankierte den Brief damit. Ich bekam 30 Cent heraus, für die ich mir etwas zu essen kaufen konnte.“

      W. J.: „Ich bin ein Stotterer und bin deshalb anders als andere Leute. Ich bin gezwungen, anders zu denken, anders zu handeln und anders zu leben — weil ich ein Stotterer bin. Wie bei anderen Stotterern waren auch in meinem Leben großer Kummer und große Hoffnungen dicht beieinander. Das hat aus mir den Menschen gemacht, der ich heute bin. Eine schwere Zunge hat mein Leben geprägt.“

      Anonym: „Ich war Heizer auf einer Lokomotive auf einem Verschiebebahnhof. Einmal benutzten wir zum Rangieren einen Teil der Hauptstrecke. Uns war nicht bekannt, daß in der nächsten halben Stunde ein Zug zu erwarten war. Ich schaute nach draußen, um etwas zu überprüfen, und sah einen Güterzug genau auf uns zukommen. Mein Lokführer war gerade auf dem Führerstand. Ich versuchte, ihn zu warnen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich konnte nicht einmal rechtzeitig stottern. Der Güterzug hatte kein besonders hohes Tempo, doch beide Lokomotiven waren hinterher nicht mehr zu gebrauchen. Zwar kam niemand ums Leben, aber mein Kollege verlor immerhin ein Bein. Ich mache mir immer noch Vorwürfe. Hätte ich ihn doch nur warnen können!“

      Fünf Menschen berichteten. Ihre Empfindungen und Erlebnisse vermitteln uns zumindest einen kleinen Einblick in die Frustrationen, Ängste und Demütigungen, mit denen Stotterer Tag für Tag rechnen müssen. Um das gesamte Ausmaß zu erkennen, müßte man diese Erfahrungen mit 15 Millionen multiplizieren. Verstehst du nun besser, warum das Stottern ständig Angst verursacht?

      Wenn unter deinen Freunden jemand stottert, frage ihn doch einmal, wie er über die Sache denkt. Du wirst womöglich überrascht sein, wieviel Mut und Entschlossenheit er tagaus, tagein aufbringen muß.

      Bekunde Mitgefühl

      Wie sollte man sich gegenüber Stotterern verhalten, da sich ihre Sprachstörung naturgemäß tiefgreifend auf sie auswirkt — psychologisch und emotional? Sollte man sie bemitleiden und sie sozusagen mit Glacéhandschuhen anfassen? Sollte man sie anders behandeln als andere? Diese Fragen legte Erwachet! Personen vor, die mit dem Problem zu kämpfen haben oder hatten. Hier sind einige ihrer Kommentare.

      MACHT EUCH BITTE NICHT LUSTIG ÜBER UNS. Der 29 Jahre alte Frank hat seit seinem zehnten Lebensjahr Sprachstörungen. „Ich möchte, daß man nicht vergißt, daß jemand, der stottert, dennoch Empfindungen und Gefühle hat und wie ein normaler Mensch behandelt werden möchte, nicht wie jemand, über den man sich lustig macht“, sagt er. „Stotterer haben ein Problem — mehr nicht. Jeder hat irgendein Problem, und meins ist eben, daß ich stottere.“ Eine bekannte Kolumnistin bezeichnete das Stottern einmal als die einzige Behinderung, die offen belächelt wird, weil sie nicht lebensbedrohend ist. Robert gibt zu, daß seine Freunde ihn, ohne sich etwas dabei zu denken, wegen der Art seines Sprechens belächeln. „Das stört mich nicht“, sagt er schmunzelnd. „Ich weiß, daß sie es nicht böse meinen.“ Natürlich empfindet jeder anders, und manch einem, der stottert, mag es absolut nichts ausmachen, wenn man über ihn mal einen kleinen Witz macht. Wäre es aber nicht vernünftiger, Mitgefühl zu bekunden und jemanden, der stottert, so zu behandeln, wie man selbst an seiner Stelle behandelt werden möchte?

      BEMITLEIDET UNS BITTE NICHT. Ein Stotterer wird einen verständnisvollen Menschen bestimmt schätzen; Mitleid wird er dagegen übelnehmen. „Wir möchten nicht, daß man uns bemitleidet, sondern daß man Geduld mit uns hat“, sagt Carol, die seit 25 Jahren mit diesem Problem zu tun hat. „Ich lege keinen Wert darauf, wegen meines Stotterns bemitleidet zu werden“, bemerkt auch Kate, die schon das sechzigste Lebensjahr überschritten hat. „Ich möchte, daß man mich als vollwertigen Menschen betrachtet und man sich bewußt ist, daß es um uns herum schlimmere Probleme gibt als das Stottern. Stottern ist lediglich eine nebensächliche Beeinträchtigung.“

      HALTET UNS BITTE NICHT FÜR UNINTELLIGENT ODER NERVENKRANK. „Ich wünschte, man würde aus alledem nicht übertrieben viel herauslesen wollen oder alles genau erforschen oder einer Psychoanalyse unterziehen wollen“, sagt Robert. „Habt keine Angst vor uns“, sagt Carol. „Ihr könnt euch bei uns nicht anstecken. Ich meine, daß eine Mutter ihr Kind nicht von uns fernzuhalten braucht. Mein Wunsch ist, daß man Stotterer mit Würde und Respekt behandelt. Wir sind ebenso intelligent wie alle anderen. Wir können nur nicht alles sagen, was wir sagen möchten, mehr nicht. Und alles, was wir tun, wie wir uns bewegen und gebärden, ist nur Teil unseres Bemühens, das Wort herauszubekommen.“

      Du sagst vielleicht: „Es ist gut, zu wissen, wie Stotterer empfinden. All das wird mir künftig eine Hilfe sein. Aber ich frage mich: ‚Wie wird der Betreffende selbst damit fertig?‘“ Die Frage ist berechtigt und verdient es, daß man ihr nachgeht.

      Wie einige die Situation meistern

      Um diese Frage zu beantworten, sind einige Zeugen Jehovas befragt worden, da sie sich in einer Situation befinden, die besondere Anforderungen an sie stellt. So werden sie zum Beispiel in der wöchentlichen Theokratischen Predigtdienstschule unterwiesen, vor einer großen Zuhörerschaft zu sprechen. Auch einige, die stottern, nehmen an diesem Schulkurs teil. Darüber hinaus verkündigt jeder Zeuge Jehovas anderen die gute Botschaft vom Königreich Gottes, meist von Haus zu Haus. Es liegt auf der Hand, daß sich für Stotterer die Verständigung oft schwierig gestaltet. Wie meistern sie die Situation? Zwei Dinge sind ihnen eine Hilfe: das Beispiel anderer und das Gebet.

      Kate hält sich stets Moses’ Beispiel vor Augen. Moses war vermutlich irgendwie sprachbehindert. Als er von Jehova Gott beauftragt wurde, die Israeliten aus Ägypten hinauszuführen, erwiderte er: „Aber ich bin kein gewandter Redner, ... denn ich bin schwerfällig von Mund und schwerfällig von Zunge“ (2. Mose 4:10). Daraufhin stellte Jehova ihm seinen Bruder Aaron als Sprecher zur Seite. Diese Maßnahme war nur vorübergehend nötig. Im 5. Buch Mose ist zu lesen, daß Moses später vor den Israeliten begeisternde Ansprachen halten konnte. Aarons Hilfe erübrigte sich. Daß Moses seine Sprachbehinderung schließlich überwand, ist für Kate eine Quelle großer Ermunterung.

      Robert dient in seiner Versammlung als Ältester. „Bevor ich zum Podium gehe und eine Ansprache halte, bete ich stets“, sagt er. Ist das eine Hilfe? „Ja, es wirkt beruhigend.“ Mae, jetzt über fünfzig Jahre alt, hat seit 11 Jahren Sprachstörungen. Sie sagt, daß sie früher zwar von Haus zu Haus gegangen sei, aber nur mit anderen. Eines Tages begleitete sie einen Zeugen, der sie freundlich fragte: „Was für einen Sinn siehst du eigentlich darin, im Dienst tätig zu sein, wenn du zu den Leuten kein einziges Wort sagst?“ Natürlich war die Frage berechtigt. Deshalb fragte sie ihn, was sie tun könne. Sein Rat: Bete. Mae war daraufhin mehrere Jahre als Vollzeitprediger tätig und verwandte im Monat mindestens 90 Stunden darauf, anderen von Gottes Königreich zu erzählen. „Sogar wenn ich an der Tür mit jemandem ein Gespräch führe und zu stottern anfange, spreche ich schnell ein kurzes Gebet“, sagt sie. „Danach geht es besser, und ich bin wieder ausgeglichen.“

      Die Angst verscheuchen

      Bist du mit jemandem, der stottert, eng befreundet? Empfindest du wie das junge Mädchen, das über seinen Freund sagte: „Er ist ein wunderbarer, herzensguter, fürsorglicher Mensch. Er hat viel zu geben, kann sich aber nicht ausdrücken.“? Wenn du so empfindest, dann sehnst du dich bestimmt ebenso wie der Stotterer nach Heilung.

      Es wäre wirklich großartig, wenn man einem Stotterer einfach sagen könnte: „Tu dies oder jenes! Das hilft immer.“ Aber so einfach geht es nicht. Das Stottern ist eine komplexe Störung. Außerdem ist jeder Stotterer anders und muß anders behandelt werden. Was also dem einen hilft, das Stottern zu überwinden, muß sich bei einem anderen nicht genauso auswirken. Heißt das, daß ein Stotterer sein Leben lang kaum auf Besserung hoffen darf?a

      Robert, Mae und Kate würden dir gern bestätigen, daß es eine Heilung gibt — und zwar bald. Sie würden gern mit dir ihre Hoffnung auf Gottes Verheißung teilen, daß einmal die Zunge der Stummen jubeln wird. Sie würden dir auch erzählen, daß Jesus einen Mann von einer Sprachstörung geheilt hat. Ferner würden sie dir erklären, daß die Zeit nahe ist, wo Jesus als verherrlichter König des Königreiches Gottes seine Aufmerksamkeit der Erde zuwenden wird. Und wenn das geschieht, wird er für viele genau das tun, was er vor Jahrhunderten für jenen Stummen getan hat. Ja, sie setzen ihr Vertrauen darauf, daß Jehova, „der Gott allen Trostes“, und sein Sohn, Jesus Christus, Freude daran finden werden, die Angst, die mit dem Stottern einhergeht, für immer zu beseitigen (2. Korinther 1:3, 4).

      Es besteht somit kein Zweifel, daß in der Zukunft alles besser wird. Wie steht es aber um die Gegenwart? Robert, Mae, Kate und andere bemühen sich sehr, mit ihrem Problem zu leben. Sollte man sie die Last allein tragen lassen? Bestimmt nicht. Wir können ihnen helfen, indem wir sie respektvoll behandeln und stets freundlich, verständnisvoll und geduldig sind. Wir können auf das achten, was sie zu sagen haben. Ja, wie leicht es ihnen fällt, ihr Problem zu akzeptieren, wird oft davon abhängen, inwieweit wir bereit sind, die Angst zu verstehen, die den Stotterer quält.

      [Fußnote]

      a Siehe bitte das folgende Interview hinsichtlich einiger Punkte in bezug auf Therapie und Selbsthilfe sowie den Artikel „Eine Sprachstörung, die besserungsfähig ist“, erschienen in der Erwachet!-Ausgabe vom 22. Juli 1966.

      [Herausgestellter Text auf Seite 20]

      „Mein Wunsch ist, daß man Stotterer mit Würde und Respekt behandelt“

      [Herausgestellter Text auf Seite 22]

      „Im Gespräch mit einem Stotterer reagiert man am besten auf das, was er sagt, statt darauf, wie er etwas sagt“ (Dr. Oliver Bloodstein, Logopäde)

      [Kasten auf Seite 23]

      „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“

      Dieses alte Sprichwort ist vermutlich orientalischen Ursprungs. Die hebräische Entsprechung lautet: „Wenn ein Wort einen Schekel wert ist, ist Schweigen zwei Schekel wert“ (Brewer’s Dictionary of Phrase and Fable).

      Ein weiser Mann aus alter Zeit drückte es wie folgt aus: „Für alles gibt es eine bestimmte Zeit, ja eine Zeit für jede Angelegenheit unter den Himmeln: ... eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden“ (Prediger 3:1, 7).

      [Bild auf Seite 21]

      Hast du je über das Leben eines Stotterers nachgedacht?

  • „Erwachet!“ fragt einen Logopäden
    Erwachet! 1986 | 8. November
    • Erwachet! fragt einen Logopäden

      Erwachet! interviewte Dr. Oliver Bloodstein, eine bekannte Autorität auf dem Gebiet der Sprachheilkunde. Nachstehend werden einige Fragen behandelt, die im Verlauf des Interviews angeschnitten wurden.

      Dr. Bloodstein, wie lange sind Sie schon auf diesem Gebiet tätig?

      Siebenunddreißig Jahre.

      Kann man ein Stotterer werden, wenn man sich unter Stotterern aufhält?

      Das ist eine wichtige Frage, zumal diese Ansicht verbreitet ist. Unseres Wissens besteht diese Gefahr nicht. Stottern wird nicht durch Nachahmung erworben.

      Sind Stotterer emotionell unausgeglichen?

      Allgemein existiert eine Klischeevorstellung von Stotterern — zurückgezogen, Einzelgänger, introvertiert, nervös, verkrampft. Diese Vorstellung stützt sich aber ganz und gar nicht auf Forschungen hinsichtlich der Persönlichkeit von Stotterern.

      Früher war man der Meinung, alle Stotterer seien nervlich krank, doch die Logopädie hat sich von dieser Theorie getrennt. Der Grund war die Fülle von Forschungen zu dem Thema „Die Persönlichkeit von Stotterern“, die in den 30er, 40er und 50er Jahren betrieben wurden. Hauptsächlich zeigte es sich, daß die meisten Stotterer bei Tests in bezug auf die Anpassung im Normalbereich lagen. Auch konnte keine Wechselbeziehung zwischen dem Stottern und einem besonderen Persönlichkeitstyp nachgewiesen werden.

      Sind Stotterer so intelligent wie Nichtstotterer?

      Ja. Etliche Studien ergaben sogar, daß Stotterer, die das College besuchten, bei Intelligenztests um viele Punkte besser abschnitten als Nichtstotterer.

      Gibt es Fälle, in denen sich das Stottern verliert?

      Es scheint die Tendenz zu bestehen, daß sich das Stottern irgendwann vor dem Erwachsenenalter verliert. Der beste Beweis dafür ist, daß sich bei etwa 80 Prozent der stotternden Kinder der Sprachfehler vor Erreichen des Erwachsenenalters wieder gibt.

      Können Eltern demnach unbesorgt sein, wenn ihr Kind stottert?

      Wenn das Stottern im Kindesalter auftritt, bezeichnen wir die Chancen, daß es sich nach kurzer Zeit wieder geben wird, gewöhnlich als gut. Gegenwärtig läßt sich allerdings nicht sagen, bei welchem Kind sich das Stottern verliert und bei welchem nicht. Daher raten wir folgendes: Wenn Eltern besorgt sind, sollten sie einen Therapeuten aufsuchen, das Kind untersuchen lassen und sehen, ob ihm geholfen werden kann. Unseres Wissens sind die Heilungschancen um so besser, je jünger das stotternde Kind ist. Wenn das Stottern anhält, sinkt die Wahrscheinlichkeit zunehmend, daß es sich bei dem Kind ohne Behandlung legt.

      Welche Therapien wendet man heute an?

      Es gibt zwei Therapieaspekte. Der eine ist, den Stotterer zu lehren, seine Angst abzubauen und sein Problem objektiv zu betrachten. Bei dem anderen Aspekt bekämpft man das Stottern direkt.

      Bei der direkten Bekämpfung geht man nach zwei völlig verschiedenen Methoden vor. Die eine Methode — es ist die seit dem 19. Jahrhundert übliche Methode — besteht darin, den Stotterer eine veränderte Sprechweise zu lehren. Es ist bekannt, daß sich das Stottern legt, sobald der Stotterer auf ungewohnte Weise spricht — singend, monoton, langsam oder mit veränderter Atmung. Dieser Effekt bot sich daher für die Behandlung geradezu an. Und tatsächlich ist die Methode auch heute noch die gängigste. Doch sie hat ihre Schattenseiten. Die dunkelste ist die hohe Rückfallquote innerhalb weniger Monate. In manchen Fällen kann Stotterern auf Dauer geholfen werden, bei den meisten kommt es jedoch zu Rückfällen. Ferner ist der Stotterer ständig gezwungen, auf seine Sprechweise zu achten, was nicht selten zu einer unnatürlichen Sprache führt.

      Sie sagten, es gebe zwei Methoden, das Stottern direkt zu beeinflussen. Worum handelt es sich bei der zweiten?

      Die zweite Methode besteht nicht darin, den Stotterer zu lehren, anders zu sprechen, sondern man lehrt ihn, anders zu stottern. Das mag zwar befremdend klingen, doch schon in den 30er Jahren kam die heute noch einflußreiche Bewegung auf, die dem Stotterer folgende Empfehlung gibt: Gib es auf, das Stottern mit Tricks zu bekämpfen, wie zum Beispiel durch eine singende oder monotone Sprechweise; ändere vielmehr das Stottern so, daß es nicht unnormal klingt. Stottere entspannter, auf eine Art, die normalen Unterbrechungen im Redefluß ähnelt. Pausen beim Sprechen macht jeder.

      Diese Methode ist weniger schwierig, aber auch sie hat ihre Nachteile. Der größte ist, daß der Stotterer nur selten fließend sprechen lernt. Anhand dieser Methode wird ihm eher geholfen, weniger zu stottern, als das Stottern abzulegen.

      Damit möchte ich sagen, daß es bis heute keine ideale Methode zur Überwindung des Stotterns gibt. Gleichwohl kann zahlreichen Stotterern sehr geholfen werden.

      Empfiehlt es sich für einen Stotterer, langsam zu sprechen und tief zu atmen?

      Die Antwort auf diese Frage ist schwierig, weil die Menschen so verschieden sind. Gemäß dem, was ich während meiner Ausbildung gelernt habe, ist es grundfalsch, Eltern zu empfehlen, ihrem Kind so etwas zu raten. Aufgrund eigener Erfahrungen bin ich davon überzeugt, daß Eltern das Problem durch derartige Empfehlungen leicht verschlimmern können. Es hat Fälle gegeben, in denen dem Kind gesagt wurde, tief zu atmen. Am nächsten Tag stotterte es nicht nur, sondern hatte außerdem Atembeschwerden. Das läßt sich jedoch keineswegs verallgemeinern, da es nach meiner Überzeugung auch eine ganze Anzahl von Kindern gibt, denen die Empfehlungen ihrer Eltern geholfen haben, ihre Sprachstörung zu überwinden. Es hängt also vom Einzelfall ab. Als Vater würde ich mich aber davor hüten, mein Kind ständig dazu anzuhalten, langsam zu sprechen, tief Luft zu holen oder zu denken, bevor es etwas sagt.

      Kann der Stotterer selbst irgend etwas tun?

      Nach meiner Ansicht ist die wichtigste Einzelmaßnahme, die ein Stotterer ergreifen kann, darauf hinzuarbeiten, beim Sprechen die Situation im Griff zu haben — soweit ihm das möglich ist. Damit meine ich, daß er seine Sprachstörung nicht verborgen halten, sondern es lernen soll, hin und wieder mit anderen darüber zu reden. Sich als Stotterer wie ein normaler Sprecher geben zu wollen ist wegen der damit verbundenen Anspannung nicht ratsam. Es ist empfehlenswerter, dafür Sorge zu tragen, daß jeder in seinem Bekanntenkreis seine Sprachstörung kennt, damit das Thema kein Tabu ist und niemand peinlich berührt wird, wenn sie zutage tritt.

      Er könnte sogar lernen, sein Stottern mit Humor zu betrachten. Stotterern fällt es meist schwer, dem Stottern etwas Humorvolles abzugewinnen. Ich kenne allerdings jemand, der, wenn er ins Stocken geriet, zu sagen pflegte: „Zwischen den Wörtern wird jetzt eine kleine Pause eintreten“, und das löste die Spannung. Bei anderen Gelegenheiten sagte er: „Zufolge einer technischen Störung tritt jetzt eine kurze Sendepause ein.“

      Wie kann der Gesprächspartner dem Stotterer entgegenkommen?

      Die meisten Stotterer sind nicht erbaut, wenn ein Gesprächspartner wegsieht, sobald sie ins Stottern kommen. Im Gespräch mit einem Stotterer reagiert man am besten auf das, was er sagt, statt darauf, wie er etwas sagt. Das heißt, der Gesprächspartner sollte es unterlassen, dem Stotterer mit Worten auszuhelfen oder ihm zu sagen: „Mach dir nichts daraus.“

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