Vierhundert starben, ich überlebte
ES WAR der 10. Oktober 1986. Ich machte mich gerade fertig, um meine Parfümerie in San Salvador abzuschließen und über Mittag nach Hause zu gehen. Plötzlich wurde das gesamte fünfgeschossige Rubén-Darío-Gebäude gewaltig erschüttert.
Später erfuhr ich, daß dies das schlimmste Erdbeben in der Geschichte El Salvadors war — 7,5 auf der Richter-Skala. Es kamen 1 200 Menschen um, 400 allein im Rubén-Darío-Gebäude, und 300 000 wurden obdachlos. Wie Präsident Duarte angab, forderte das Beben mehr Menschenleben als die sieben Jahre Bürgerkrieg.
Während des Bebens fiel mir etwas auf den Kopf, und ich verlor das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, lag ich mit dem Gesicht zur Erde auf dem Boden; es war stockdunkel. Die Leute schrien vor Schmerzen und Angst: „Herr, rette mich!“ „Warum bestrafst du uns so?“ „Hilf mir!“
Ich betastete mein Gesicht. Glücklicherweise hatte ich mich nicht verletzt, aber meine Füße waren unter Trümmern eingeklemmt. Die Luft war so stickig, daß ich kaum atmen konnte. Aus der Nähe kam eine Stimme. Herr Quijano, der Gebäudeverwalter, rief mir zu: „Sie sind die Frau vom Kosmetikgeschäft! Ist mit Ihnen alles in Ordnung?“
„Ja, aber meine Füße sind eingeklemmt“, antwortete ich. „Ist Ihnen etwas passiert?“
„Ich glaube, ich habe mir die Arme und die Beine gebrochen. Ich kann mich nicht rühren. Helfen Sie mir bitte!“
Ich streckte meine Arme aus, so weit ich konnte, fühlte jedoch nur Glasscherben. „Es tut mir leid, aber ich kann nichts tun. Ich komme mit meinen Füßen nicht los.“
Der Mangel an Sauerstoff wurde erdrückend, und ich betete zu Gott: „Bitte, hilf mir!“ Seine Worte an Josua kamen mir in den Sinn: ‘Sei mutig und stark, denn Jehova, dein Gott, ist mit dir’ (Josua 1:9). „Aber ich muß mein Teil tun“, sagte ich mir.
Danach fühlte ich mich stärker und gewann neuen Mut. Ich entschloß mich, alles daranzusetzen, meine Füße freizubekommen, ehe ich sie nicht mehr spürte und sie anschwollen. So bewegte ich einen Fuß hin und her, um ihn herauszuziehen. In der Zwischenzeit bebte die Erde wieder, und das Gebäude knarrte und schwankte. Mein Geschäft war im Erdgeschoß gewesen.
Schließlich gelang es mir, den rechten Fuß zu befreien. Ich dankte Jehova laut dafür. Herr Quijano, der nur noch schwer atmete, muß das gehört haben. Er sagte: „Beten Sie weiter zu Jehova, und beten Sie bitte auch für mich!“
Meine Füße fühlten sich kalt und feucht an. „Ich blute“, dachte ich. Als ich den linken Unterschenkel betastete, merkte ich jedoch, daß die klebrige Flüssigkeit, die ich fühlte, entweder Shampoo oder Feuchtigkeitslotion aus dem Schaukasten war. Da die Flüssigkeit glitschig war, konnte ich auch den linken Fuß aus der Falle ziehen.
„Hat Jehova Ihnen geholfen?“ fragte Herr Quijano.
„Ja!“ antwortete ich. „Meine Füße sind jetzt frei.“
„Bitte, helfen Sie mir!“ schrie er.
Ich schleppte mich mit all meinen Kräften auf Herrn Quijano zu. Bei jeder Bewegung schnitt ich mich an Glasscherben. Dann ertastete ich eine Menge verbogenes Eisen zwischen uns.
„Es tut mir leid, Herr Quijano, aber ich komme nicht weiter.“
„Schon gut“, erwiderte er. „Lassen Sie uns einfach beieinander bleiben.“
Aus der Nähe waren die Stimmen von wenigstens zwei Männern und einem kleinen Jungen zu hören. Sie waren im ersten Stock gewesen, der sich nun knapp einen Meter über uns befand. Es gelang mir, meinen Kopf durch eine Lücke zu stecken, aber ich zog ihn sofort wieder zurück. Die Luft war so voller Staubteilchen, daß ich kaum atmen konnte. Plötzlich verließen mich meine Kräfte, und ich wollte nur noch schlafen.
Als ich erwachte, herrschte eine unheimliche Stille. „Sind alle geborgen worden, oder sind alle tot?“ Das war mein erster Gedanke. Sogleich rief ich Herrn Quijano. Dreimal rief ich nach ihm, doch er stöhnte nur leise. Ich betete weiter.
Nach einer Weile hörte ich ein hackendes Geräusch. „Herr Quijano“, rief ich, „Gott hat uns jemand zur Rettung geschickt! Sie werden bald dasein, und dann sage ich ihnen, daß sie Sie da herausholen sollen!“ Seine Antwort war nur ein schwaches Ächzen und dann Stille.
Kurz darauf fragte eine Stimme aus dem Dunkeln über mir: „Ist da jemand?“
„Ja, ja!“ schrie ich.
„Wie viele?“
„Hier sind mehrere, einige sind schwer verletzt“, antwortete ich. Das Hacken ging weiter. Dann fragte jemand: „Sehen Sie ein Licht?“
„Ja!“ rief ich zurück. „Ich sehe das Licht!“ Die Rettungsleute hackten die Öffnung weiter auf, und bald war der Raum, in dem ich lag, fast erhellt.
„Zeigt Ihnen das Licht einen Fluchtweg?“ fragten sie. „Ja, ich will es versuchen!“ antwortete ich.
Ich rief denen im ersten Stock zu: „Hierher, versucht hierherzukommen! Wir können hinaus! Schickt den Jungen zuerst her!“
Ich schleppte mich über verbogene Eisenteile, Steine, Glas und Betonbrocken. „Ich muß weiter“, dachte ich. „Ich kann hier nicht bleiben.“ Nun war ich der Öffnung so nahe, daß ich einen Schlauch mit einer Sauerstoffmaske zu fassen bekam, der durch das Loch gereicht wurde. Ich kroch weiter, bis ich die enge Öffnung erreichte.
Man zog mich heraus, zuerst einen Arm, dann den ganzen Körper. Meine Kleidung war zerrissen und mein Körper zerkratzt. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte jemand. „Ich bin glücklich“, erwiderte ich.
Als ich auf die Straße gelangte, sah ich dort ein Menschengewirr; einige halfen Verletzten, andere gruben in den Trümmern des Gebäudes. Besorgte Menschen kamen auf mich zu und wollten wissen, in welchem Teil des Gebäudes ich gewesen sei.
„Haben Sie meine Frau gesehen?“ „Haben Sie meinen Vater gesehen?“ „Haben Sie meine Schwester gesehen?“ fragten sie verzweifelt. Ich konnte nur antworten: „Dort drinnen sind noch viele eingeschlossen und am Leben. Versuchen Sie es weiter.“
Es wurden noch mehr Leute durch dieselbe Öffnung herausgeholt, darunter einige Schwerverletzte. Viele andere waren jedoch erstickt. Auf der Straße, direkt vor dem Gebäude, bot sich ein entsetzlicher Anblick — dort waren Leichname aufgereiht. Herr Quijano und der kleine Junge aus dem ersten Stock gehörten zu diesen Unglücklichen. (Von Antonieta de Urbina erzählt.)
[Kasten auf Seite 22]
Das Rubén-Darío-Gebäude
In dem fünfgeschossigen Rubén-Darío-Gebäude in der Stadtmitte von San Salvador gab es Cafés, Friseur- und Schönheitssalons, Zahnarztpraxen und Zahnlabors, Schuhgeschäfte und Büroräume. Unmittelbar um das Gebäude herum wurde von Imbissen bis Lotteriescheinen alles mögliche verkauft. In den Fernsehnachrichten war zu hören, daß in dem Gebäude allein 400 Menschen umkamen — einige starben unter den Trümmern, andere verbrannten oder erstickten. Unter ihnen befanden sich auch einige Zeugen Jehovas. Mindestens 92 der eingeschlossenen Menschen konnten lebend geborgen werden, doch einige davon erlagen später ihren Verletzungen.
[Bilder auf Seite 23]
Das Rubén-Darío-Gebäude vor und nach dem Erdbeben
Antonieta de Urbina wurde am Tag des Bebens früh am Abend lebend geborgen