Die Zukunft der Religion im Spiegel ihrer Vergangenheit
Teil 8: von ca. 563 v. u. Z. an — Eine Erleuchtung, die Befreiung verhieß
„Der Prüfstein für eine Religion oder Philosophie ist die Anzahl der Dinge, die sie erklären kann“ (Ralph Waldo Emerson, amerikanischer Dichter des 19. Jahrhunderts)
MAN weiß von ihm kaum etwas mit Sicherheit. Nach der Überlieferung wurde er rund 600 Jahre vor der Geburt Christi im nordindischen Reich der Schakjas geboren, trug den Namen Siddhartha Gautama und war ein Prinz. Er wurde auch Schakjamuni (Weiser aus dem Geschlecht der Schakjas) und Tathagata genannt — ein Titel von ungewisser Bedeutung. Die meisten kennen ihn unter seinem bekannteren Titel: der Buddha.
Gautama wuchs an einem Fürstenhof auf. Mit 29 Jahren wurde ihm plötzlich das Elend um ihn herum bewußt. Er suchte nach einer Erklärung, ähnlich wie Menschen von heute, die sich nach dem Grund für die Schlechtigkeit und das Leid fragen. So verließ er seine Frau und seinen kleinen Sohn und floh in die Öde, wo er sechs Jahre lang das Leben eines Asketen führte. Er schlief auf Dornen und ernährte sich eine Zeitlang von einem einzigen Reiskorn täglich. Aber das brachte ihm nicht die Erleuchtung.
Im Alter von ungefähr 35 Jahren entschied sich Gautama für einen gemäßigteren Weg, den er als Mittleren Weg bezeichnete. Er gelobte, so lange unter einem Feigenbaum sitzen zu bleiben, bis er die Erleuchtung empfangen würde. Nach einer Nacht der Visionen glaubte er schließlich, das Ziel erreicht zu haben. Seitdem ist er als der Buddha bekannt, was „der Erleuchtete“ bedeutet. Doch Gautama erhob nicht als einziger Anspruch auf diesen Titel. Daher wird immer ein Artikel gebraucht, ein Buddha oder, in Gautamas Fall, der Buddha.
Der Weg der Befreiung
Die Hindugötter Indra und Brahma sollen den Buddha gebeten haben, anderen seine neugefundenen Wahrheiten zu verkünden. Dies tat er auch. Obwohl der Buddha die Toleranz des Hinduismus übernahm, der allen Religionen einen Wert zuerkennt, lehnte er das Kastensystem und die vielen Tieropfer ab. Er verwarf die Behauptung, die hinduistischen Veden seien Schriften göttlichen Ursprungs. Zwar leugnete er nicht die Möglichkeit der Existenz Gottes, aber er wies die Vorstellung von einem Schöpfergott zurück. Das Gesetz der Ursache, so erklärte er, sei ohne Anfang. Und er ging weiter als der Hinduismus, indem er in seiner ersten Predigt verhieß: „Dies, o Mönche, ist jener Mittlere Weg, der Einsicht verleiht, der Erkenntnis verleiht, der zu Frieden, höherer Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirwana führt.“
Was ist das Nirwana? „Es ist schwierig, auf diese Frage eine Antwort zu finden, die nicht irgendwie zutrifft“, schreibt der Historiker Will Durant, „denn der Meister ließ diesen Punkt im dunkeln, und seine Anhänger gaben dem Worte jede erdenkliche Bedeutung.“ „Es gibt keine einheitliche buddhistische Ansicht“, heißt es in der Encyclopedia of Religion, denn die Vorstellung vom Nirwana „richtet sich nach der Kultur, der geschichtlichen Zeitspanne, der Sprache, der Schule und sogar nach der Einzelperson“. Ein Autor bezeichnet es als „völliges Erlöschen der Begierde, Unendlichkeit der Leere, die keinen Zeitbegriff kennt, ... ewige Todesruhe ohne Wiedergeburt“. Andere sagen mit Bezug auf die Sanskritwurzel des Wortes, die die Bedeutung von „ausblasen“ hat, es sei wie eine Flamme, die erlischt, wenn der Brennstoff aufgebraucht ist. In jedem Fall verheißt das Nirwana Befreiung.
Der Buddha faßte die Notwendigkeit der Befreiung in den vier edlen Wahrheiten zusammen: Leben ist Leiden; Leiden entsteht durch die Lebensgier, durch Lust und Begehren; der Weg der Weisheit ist, diese Gier zu unterdrücken; das wird durch den achtfachen Pfad erreicht. Dieser Pfad umfaßt rechte Anschauung, rechte Absicht, rechtes Reden, rechtes Handeln, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Überdenken und rechtes Sichversenken.
Erfolg im Ausland, Niederlage in der Heimat
Der Buddhismus fand von Anfang an gute Aufnahme. Eine Gruppe von Materialisten, Charvakas genannt, hatte bereits den Weg dafür gebahnt. Sie lehnten die heiligen Schriften des Hinduismus ab, spotteten über den Glauben an Gott und leugneten die Religion im allgemeinen. Ihr Einfluß war nachhaltig, und sie hinterließen gemäß Will Durant „eine Leere, die nahezu das Wachsen einer neuen Religion erzwang“. Diese Leere und „der geistige Verfall der alten Religion“ führten zu der Entstehung der zwei großen Reformbewegungen jener Zeit — Buddhismus und Dschainismus.
Mitte des 3. Jahrhunderts v. u. Z. trug König Aschoka, dessen Reich einen Großteil des indischen Subkontinents umfaßte, sehr zur Ausbreitung des Buddhismus bei. Er betonte die Mission, indem er nach Ceylon (Sri Lanka) und möglicherweise auch in andere Länder Missionare aussandte. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung verbreitete sich der Buddhismus in ganz China. Von dort aus gelangte er über Korea nach Japan. Im 6. und 7. Jahrhundert u. Z. war er in Ost- und Südostasien überall vorzufinden. Heute gibt es weltweit über 300 Millionen Buddhisten.
Doch schon vor König Aschoka hatte sich der Buddhismus ausgebreitet. „Gegen Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. gab es in Athen buddhistische Missionare“, schreibt E. M. Layman. Auch sagt er, daß nach der Entstehung des Christentums die ersten christlichen Missionare überall, wohin sie gingen, auf die buddhistische Lehre stießen. Als die ersten katholischen Missionare nach Japan kamen, wurden sie sogar für Vertreter einer neuen buddhistischen Sekte gehalten. Wie kam das?
Die beiden Religionen hatten offensichtlich vieles gemein. Gemäß dem Historiker Durant gehörten dazu „die Reliquienverehrung, der Gebrauch von Weihwasser, Kerzen und Weihrauch, der Rosenkranz, die geistlichen Gewänder, eine liturgische tote Sprache, Mönche und Nonnen, die Klostertonsur und der Zölibat, die Beichte, die Fasttage, die Heiligsprechung, das Fegefeuer und die Totenmessen“. All das ist, wie er erklärt, im Buddhismus wahrscheinlich „zuerst aufgetreten“. „Die Buddhisten“, so heißt es, „sind in der Erfindung und Abhaltung der den beiden Religionen eigentümlichen Zeremonien der Römischen Kirche um fünf Jahrhunderte voraus.“
In der Erklärung, wie diese Ähnlichkeiten entstanden, weist E. M. Layman auf einen gemeinsamen Ursprung hin. Er schreibt: „In der christlichen Ära ... waren heidnische Einflüsse in buddhistischen Kulthandlungen offenbar geworden. ... Wahrscheinlich waren [auch] einige religiöse Bräuche, die in der christlichen Kirche entstanden, heidnischen Einflüssen zuzuschreiben.“
Trotz seiner weltweiten Erfolge erlitt der Buddhismus in seiner Heimat eine schwere Niederlage. Heute zählen sich weniger als 1 Prozent der Bevölkerung Indiens zum Buddhismus; 83 Prozent sind Hindus. Der Grund dafür ist nicht genau bekannt. Vielleicht war der Buddhismus so tolerant, daß er einfach von dem älteren Hinduismus wieder aufgesogen wurde. Oder die buddhistischen Mönche waren nachlässig, was die Führung der Laien betrifft. Entscheidend war jedoch der Einbruch des Islam in Indien. Es kam zu einer islamischen Herrschaft, und besonders in Nordindien traten viele zum Islam über. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts war etwa ein Viertel der Bevölkerung muslimisch. Gleichzeitig kehrten viele Buddhisten zum Hinduismus zurück, da sie ihn wahrscheinlich für besser gerüstet hielten, dem islamischen Ansturm entgegenzuwirken. Der tolerante Hinduismus hieß sie mit einer herzlichen Umarmung willkommen und erleichterte ihnen die Rückkehr, indem der Buddha zum Gott ausgerufen wurde — eine Fleischwerdung Wischnus.
Die vielen Gesichter des Buddhas
„Die ersten Bildnisse des Buddhas wurden von den Griechen angefertigt“, schreibt E. M. Layman. Die Buddhisten behaupten, diese Statuen würden nicht angebetet, sondern dienten lediglich als Hilfe, dem großen Lehrer Verehrung und Achtung entgegenzubringen. Mitunter wird der Buddha stehend dargestellt, doch meistens sieht man ihn im Schneidersitz mit nach oben gerichteten Fußsohlen. Wenn seine Hände aufeinanderliegen, ist er in Meditation versunken; wenn seine rechte Hand in Kinnhöhe erhoben ist, segnet er; und wenn der Daumen der rechten Hand den Zeigefinger berührt oder beide Handflächen vor der Brust aneinanderliegen, lehrt er. Die Ruhelage zeigt ihn im Augenblick seines Übergangs in das Nirwana.
So, wie seine Positur unterschiedlich dargestellt wird, gibt es auch Unterschiede in seiner Lehre. 200 Jahre nach seinem Tod sollen bereits 18 verschiedene Versionen des Buddhismus existiert haben. Heute, 25 Jahrhunderte nach Gautamas „Erleuchtung“, gibt es zahlreiche buddhistische Auslegungen, wie das Nirwana zu erreichen sei.
Erik Zürcher von der Universität Leiden (Niederlande) erklärt, daß es „im Buddhismus drei grundlegende Richtungen“ gibt, „jede mit eigenen Lehrmeinungen, Kulthandlungen, heiligen Schriften und ikonographischen Überlieferungen“. Diese Richtungen werden in der buddhistischen Terminologie als Fahrzeuge bezeichnet, weil sie gleich einer Fähre den Menschen über den Lebensfluß bringen, bis er schließlich das Ufer der Befreiung erreicht hat. Dann kann er das Fahrzeug unbesorgt verlassen. Der Buddhist vertritt die Ansicht, daß die Art des Reisens — die Art des Fahrzeugs — unwesentlich ist. Worauf es ankommt, ist, ans Ziel zu gelangen.
Zu diesen Fahrzeugen gehört der Theravada-Buddhismus, der den Lehren Buddhas recht nahe geblieben ist und besonders in Birma, Sri Lanka, Laos, Thailand und Kamputschea (früher Kambodscha) vertreten ist. Der Mahajana-Buddhismus, der in China, Korea, Japan, im Tibet und in der Mongolei vorherrscht, ist liberaler und hat seine Lehren darauf abgestimmt, mehr Leute zu erreichen. Aus diesem Grund wird er als großes Fahrzeug bezeichnet im Gegensatz zu Theravada, dem kleinen Fahrzeug. Wadschrajana, das Diamantfahrzeug, das allgemein als Tantrismus oder esoterischer Buddhismus bekannt ist, verbindet das Ritual mit dem Betreiben von Yoga, wodurch angeblich das Erreichen des Nirwana beschleunigt wird.
Diese drei Richtungen sind in viele Schulen aufgespalten, die alle gewisse wesentliche Elemente unterschiedlich auslegen, was oft daran liegt, daß besonderer Nachdruck auf bestimmte Teile der buddhistischen Schriften gelegt wird. Und da der Buddhismus, wie E. Zürcher ausführt, „mehr oder weniger von örtlichen Anschauungen und Bräuchen beeinflußt wurde“, brachten diese Schulen bald etliche ortsgebundene Sekten hervor. Ähnlich wie die Christenheit mit ihren Tausenden von Sekten und Untergruppen hat der Buddha sozusagen viele Gesichter.
Buddhismus und Politik
Wie der Judaismus und das vorgebliche Christentum hat sich der Buddhismus nicht mit einem religiösen Tätigkeitsfeld begnügt, sondern er hat das politische Denken und Verhalten mit geformt. „Zur ersten Verschmelzung von Buddhismus und politischer Betätigung kam es während der Herrschaft [König] Aschokas“, schreibt Jerrold Schecter. Die politische Betätigung hat sich bis heute fortgesetzt. In der zweiten Hälfte des Jahres 1987 wurden in Lhasa 27 tibetische buddhistische Mönche verhaftet, weil sie an antichinesischen Demonstrationen teilgenommen hatten. Und die Mitwirkung des Buddhismus im Vietnamkrieg der 60er Jahre veranlaßte Schecter zu der Schlußfolgerung: „Der friedliche Pfad des Mittleren Weges ist abgebogen in Richtung der neuen Gewalt bei Straßendemonstrationen. ... Der Buddhismus in Asien ist ein in Flammen aufgehender Glaube.“
Mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und sittlichen Mißständen des Westens unzufrieden, wenden sich viele auf der Suche nach einer Erklärung östlichen Religionen zu, beispielsweise dem Buddhismus. Kann aber „ein in Flammen aufgehender Glaube“ die Lösung bieten? Wie ist nach Emersons Aussage, der Prüfstein für eine Religion sei die Anzahl der Dinge, die sie erklären könne, die Erleuchtung Gautamas zu beurteilen? Schneiden andere asiatische Religionen besser ab? Unsere nächste Fortsetzung, betitelt „Die Suche nach dem richtigen Weg im Fernen Osten“, gibt darüber mehr Aufschluß.
[Kasten auf Seite 18]
Einiges über Menschen und Stätten im Buddhismus
Adam’s Peak: Berg in Sri Lanka, der als heilig gilt; ein Abdruck in seinem Gestein wird von Buddhisten als der Fußabdruck des Buddhas betrachtet, von Muslimen als der Adams und von Hindus als der Schiwas.
Bodhi-Baum: Der Feigenbaum, unter dem Gautama zum Buddha wurde; bodhi bedeutet „Erleuchtung“; ein Sproß des Baumes soll noch existieren und wird in Anuradhapura (Sri Lanka) verehrt.
Buddhistische Mönche: Sie sind an ihren charakteristischen Gewändern zu erkennen und sind bedeutende Personen im Buddhismus; sie geloben, wahrheitsliebend zu sein, Menschen und Tiere mitfühlend zu behandeln, das tägliche Brot zu erbitten, Vergnügen zu meiden und in Keuschheit zu leben.
Dalai-Lama: Weltlicher und religiöser Führer Tibets, der von Buddhisten als Reinkarnation des Buddhas angesehen wird und 1959 ins Exil gehen mußte; das Wort dalai, das sich von dem mongolischen Wort für „Meer“ herleitet, bedeutet großes Wissen; lama bezeichnet einen geistlichen Lehrer (wie der Guru in Sanskrit). Gemäß Nachrichtenmeldungen gab der Dalai-Lama bei den tibetischen Demonstrationen im Jahre 1987 „zivilem Ungehorsam seinen Segen, verurteilte aber Gewalt“, worauf er von Indien, seinem Gastland, darauf hingewiesen wurde, daß er durch politische Erklärungen seinen Aufenthalt im Land gefährde.
Zahntempel: Buddhistischer Tempel in Kandy (Sri Lanka), in dem ein Zahn, der angeblich vom Buddha stammte, als Reliquie aufbewahrt wird.
[Kasten auf Seite 19]
Tee und das buddhistische „Gebet“
Trotz gewisser Ähnlichkeiten mit dem Gebet ist es im Buddhismus korrekter, von „Meditation“ zu sprechen. Selbstdisziplin und tiefe Meditation werden besonders im Zen-Buddhismus betont. Er gelangte im 12. Jahrhundert u. Z. nach Japan und gründet sich auf Ch’an, eine chinesische Art des Buddhismus, die auf den indischen Mönch Bodhidharma zurückgeht. Dieser ging im 6. Jahrhundert u. Z. nach China und übernahm bei der Schaffung des Ch’an vieles vom chinesischen Taoismus. Man sagt, daß er sich in einem Zornausbruch die Augenlider abschnitt, weil er beim Meditieren eingeschlafen war. Sie fielen zu Boden, schlugen Wurzeln und brachten die erste Teepflanze hervor. Diese Legende bildet die Grundlage für die Tradition des Teetrinkens, durch das sich die Zen-Mönche beim Meditieren wach halten.
[Bilder auf Seite 16, 17]
Buddhistische Tempel wie der Marmortempel in Bangkok (Thailand) sind sehr eindrucksvoll
[Bild auf Seite 17]
Auch ist hier die Statue eines buddhistischen Dämons als Tempelhüter zu sehen und unten eine Buddhastatue. Dies sind in buddhistischen Ländern vertraute Anblicke.