Ich habe so viele Gründe, dankbar zu sein!
VON LOTTIE HALL ERZÄHLT
ES GESCHAH 1963 auf dem Weg von Kalkutta (Indien) nach Rangun (Birma). Kurz nach dem Abflug bemerkte einer der Brüder, daß Öl auf die Tragfläche tropfte. Als man die Besatzung davon unterrichtete, kündigte sie an, daß wir notlanden müßten. Vorher mußte das Flugzeug allerdings eine Menge Treibstoff ablassen. Der Steward rief: „Wenn Sie beten möchten, tun Sie es jetzt!“ Wir beteten natürlich zu Jehova, er möge uns, wenn es sein Wille sei, eine sichere Landung gewähren. Alles ging glatt. Wie dankbar konnten wir doch dafür sein!
JA, UND es gibt vieles mehr, wofür ich dankbar bin. Mit 79 Jahren verfüge ich noch über ein gewisses Maß an Gesundheit und Kraft, die ich im Vollzeitdienst einsetzen kann. Außerdem habe ich zusätzlich zu den Segnungen, die dem Volk Jehovas im allgemeinen zuteil werden, viele außergewöhnliche Erfahrungen machen dürfen. Und vor allem ist es mein kostbares Vorrecht, Jehova seit mehr als 60 Jahren zu dienen, über die Hälfte dieser Zeit als Vollzeitverkündiger oder Pionier.
Angefangen hat alles mit meinem Vater, als wir noch in Carbondale (Illinois, USA) wohnten. Er war mit den Jüngern Christi verbunden und wollte gern Geistlicher werden. Ernüchternd waren für ihn jedoch die Erfahrungen, die er auf zwei Bibelseminaren machte, da er eigene Vorstellungen von der Dreieinigkeit, der Unsterblichkeit der Seele und der ewigen Höllenqual hatte.
In der biblischen Wahrheit, die ihm ein Kolporteur der Bibelforscher im Jahre 1924 brachte, fand er schließlich das, wonach er gesucht hatte. Damals war ich gerade 12 Jahre alt. Mein Vater freute sich, zu erfahren, daß es noch mehr Menschen gab, die so dachten wie er, nämlich daß es sich bei der Dreieinigkeit, der Feuerhölle und der Unsterblichkeit der Menschenseele um Irrlehren handelt. Bald versammelte sich unsere Familie regelmäßig mit den Bibelforschern, wie Jehovas Zeugen seinerzeit genannt wurden. Ich war wirklich dankbar, die Wahrheit über Jehova und sein Wort kennenzulernen.
Kurz darauf geschah jedoch etwas Schlimmes. Wie sich herausstellte, war der Mann, der meinen Vater mit der Wahrheit bekannt gemacht hatte, unehrlich und unmoralisch. Er brachte meinen Vater zum Straucheln, aber nicht meine Mutter und mich. Inzwischen war ich 15 — das älteste von sechs Kindern —, und gemeinsam mit meiner Mutter hielt ich an der Wahrheit fest.
Im Sommer 1927 wurde angekündigt, daß in Toronto (Kanada) ein großer Kongreß der Bibelforscher stattfinden sollte. Mein Vater sagte, er könne es sich nicht leisten zu gehen, doch meine Mutter war eine entschlossene Frau. Sie begann, verschiedene Haushaltsgegenstände zu verkaufen, und als der Kongreß heranrückte, hatte sie acht Dollar zusammen. Mit dieser Summe machten wir uns per Anhalter auf die Reise in das 1 600 km entfernte Toronto. Nach fünf Tagen, in denen wir von 37 verschiedenen Fahrzeugen mitgenommen wurden, hatten wir es schließlich geschafft. Einen Tag vor Kongreßbeginn trafen wir in Toronto ein. Da wir nur so wenig Geld hatten, baten wir um eine kostenlose Unterkunft, die wir auch erhielten. Als Bruder A. H. Macmillan von unserer Reise erfuhr, berichtete er darüber in der Kongreßzeitung unter der Überschrift: „Steigende Eisenbahnpreise können diese Bibelforscher nicht erschüttern“.
Meine Mutter hielt meinen Vater durch Postkarten auf dem laufenden. Daher entschloß er sich in letzter Minute, doch noch zu kommen, und traf mit dem Auto am letzten Kongreßtag — rechtzeitig zum öffentlichen Vortrag — ein. Jetzt mußten wir nicht per Anhalter nach Hause fahren. Welch ein Kongreß! Wie dankbar war ich, daß wir ihn besuchen konnten und daß er meinem Vater half, sein geistiges Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Wenn man mich nach meiner Religion fragte, antwortete ich jahrelang „IBV“, da diese Abkürzung für Internationale Bibelforscher-Vereinigung stand. Aber ganz glücklich war ich über die Bezeichnung nie. Ich war deshalb dankbar, als wir 1931 auf dem Kongreß in Columbus (Ohio) den neuen Namen Jehovas Zeugen annahmen.
Meine Laufbahn in der Schule
Zu den vielen Segnungen, die mein Leben bereichert haben, gehören auch solche in Verbindung mit der Musik. Ich liebte die Musik und lernte schon in jungen Jahren das Klavierspielen. Jahrelang hatte ich das Vorrecht, zum Gesang in der Versammlung die Begleitmusik zu spielen. Bevor die Gesellschaft Aufnahmen der Königreichslieder machte, bat mich einmal ein Missionar, der in Papua-Neuguinea diente, einige unserer Lieder aufzunehmen, damit die Papua lernen konnten, sie zu singen. Das tat ich wirklich sehr gern.
Mein Lieblingsinstrument war allerdings die Klarinette. Im Schulorchester spielte ich sie mit Vorliebe. Dem Lehrer gefiel es so gut, wie ich spielte, daß er mich bat, in der Blaskapelle mitzumachen. Da es damals ganz und gar unüblich war, daß eine Frau in einer Blaskapelle spielte, wollten die Musiker streiken, als sie von der Empfehlung des Lehrers erfuhren. Sie überlegten es sich allerdings anders, nachdem man ihnen mitgeteilt hatte, daß sie im Fall eines Streiks von der Schule verwiesen würden. Mit einer weiteren Tradition wurde gebrochen, als ich mit der Kapelle in einer ganztägigen Parade mitmarschieren mußte. Für die Zeitung schien es eine Sensation zu sein, denn sie berichtete darüber unter der dicken Schlagzeile: „Musikerin in einem Meer von Männern“.
Schließlich wurde mir eine Stelle als Musiklehrerin angeboten. Als ich jedoch über all die Probleme nachdachte, die sich einstellen könnten, wenn ich Musik unterrichtete — daß man von mir beispielsweise verlangen könnte, religiöse oder nationalistische Musik zu lehren und zu spielen —, beschloß ich, etwas anderes zu tun, und ich erhielt dann eine Anstellung als Lehrerin für Weltgeschichte. Dieser Wechsel hielt mich aber in späteren Jahren nicht davon ab, auf meinen Reisen zu internationalen Kongressen von Jehovas Zeugen in vielen Ländern im Kongreßorchester Klarinette zu spielen.
Später lehrte ich Weltgeschichte an einer großen High-School in einem Vorort von Detroit, und in dieser Funktion wurde ich einmal vom Direktor gebeten, aus einer Reihe neuer Lehrbücher eines zu empfehlen. Bei der Durchsicht der Bücher fiel mir auf, daß die neuen im Gegensatz zu dem bisher verwendeten Buch, in dem der Name Jehova achtmal erwähnt wurde, den Namen des Gottes der Hebräer verschwiegen, wogegen sie viele Götter heidnischer Nationen wie Ra, Molech, Zeus und Jupiter namentlich nannten. Als ein Vertreter vorsprach, fragte ich ihn, warum der Name Jehova in seinem Lehrbuch nicht vorkam, und er sagte: „Wegen der Zeugen Jehovas wollen wir in unserem Buch diesen Namen nicht verwenden.“ Daher erwiderte ich ihm: „Na schön. Dann will ich Ihr Buch auch nicht empfehlen.“ Er warf es in seine Tasche und stürmte hinaus.
Daraufhin sagte ich dem Direktor, daß wir eigentlich kein neues Lehrbuch brauchten, und nannte ihm einige plausible Gründe dafür. Er stimmte mir zu. Alle waren froh über diese Entscheidung, als nur einige Monate später beschlossen wurde, das Fach Weltgeschichte vom Stundenplan der High-School zu streichen. Es wurde an allen 14 Schulen des Bezirks durch ein neues Fach, Sozialkunde, ersetzt. Welch ein Verlust, wenn die Schule neue Geschichtsbücher gekauft hätte!
Obwohl ich eine strenge Lehrerin war, machte ich während dieser Zeit viele schöne Erfahrungen. Es entwickelten sich eine ganze Reihe lebenslanger Freundschaften. Mir boten sich auch oft Gelegenheiten, informell Zeugnis zu geben. Doch schließlich führten mich Zeit und Umstände in den Vollzeitdienst.
Internationale Kongresse
Nachdem ich 20 Jahre lang unterrichtet hatte, ließ meine Sehkraft nach. Außerdem meinten meine Eltern, daß sie mich brauchten. So bat mich mein Vater, nach Hause zu kommen, und sagte, daß bei ihnen ein wichtigeres Lehrwerk zu tun sei. Jehova würde schon dafür sorgen, daß ich keinen Mangel litt. 1955 schied ich aus dem Schuldienst aus, und eine der ersten Segnungen danach war für mich der Besuch der Kongreßserie „Triumphierendes Königreich“ in Europa. Wie dankbar war ich, bei unseren Brüdern in Europa zu sein, von denen viele während des Zweiten Weltkriegs sehr gelitten hatten. Ein besonderes Vorrecht war es, unter den 107 000 Personen zu sein, die die Zeppelinwiese in Nürnberg füllten, wo Hitler nach dem Zweiten Weltkrieg seine Siegesparade abhalten wollte.
Das war die erste von vielen Weltreisen, die ich unternehmen durfte. 1963 gehörten meine Mutter und ich zu den 583 Kongreßbesuchern, die anläßlich des Kongresses „Ewige gute Botschaft“ um die ganze Welt reisten. Die Reise ging von New York nach Europa, dann weiter nach Asien sowie auf die pazifischen Inseln und endete in Pasadena (Kalifornien). Unterwegs hatten wir das schreckliche Erlebnis, von dem ich in der Einleitung berichtete. Spätere Reisen führten uns zu Kongressen in Südamerika, im Südpazifik und in Afrika. Durch diese Reisen wurde mein Leben wirklich bereichert, und es war eine besondere Freude für mich als Musikliebhaberin, vielerorts im Kongreßorchester mitspielen zu dürfen.
Pionierdienst
Im Jahre 1955, nach der Rückkehr aus Europa, schloß ich mich meiner Mutter für ein Jahr im Pionierdienst an. Dann bat mich die Gesellschaft, mit der kleinen Versammlung in Apalachicola (Westflorida) zusammenzuarbeiten. Sieben Jahre half ich dort gemeinsam mit einer anderen Schwester bei der Durchführung des Werkes, und bald konnte die Versammlung einen Königreichssaal errichten, um der Mehrung gerecht zu werden. Der Fortschritt hielt an, kurz darauf wurde in Port Saint Joe eine weitere Versammlung gegründet. 11 Jahre lang war ich in drei verschiedenen Versammlungen in Westflorida tätig.
Einmal wurde ich vom Kreisaufseher gebeten, eine Örtlichkeit für einen Kreiskongreß zu suchen. Ich konnte die Benutzung des renommierten Centennial Building in Port Saint Joe für nur 10 Dollar vereinbaren. Wir brauchten aber auch eine Cafeteria und zogen dafür die Einrichtungen einer Schule in Betracht. Doch ich mußte feststellen, daß der Schulinspektor uns nicht gewogen war, und er verwies mich an die Schulbehörde. Der Bürgermeister war auch zugegen, weil er sich dafür einsetzen wollte, daß wir die Cafeteria benutzen durften. Als er fragte, was dagegenspreche, sagte der Leiter der Schulbehörde, daß noch nie eine religiöse Gemeinschaft Schuleinrichtungen benutzt habe. Der Bürgermeister gab mir Gelegenheit, dazu Stellung zu nehmen. Ich hatte einige Handzettel dabei, aus denen hervorging, daß wir bereits in anderen Städten Schulgebäude für unsere Zusammenkünfte verwendet hatten, und dann verwies ich auf Apostelgeschichte 19:9, wo gesagt wird, daß der Apostel Paulus im Hörsaal einer Schule predigte. Daraufhin war alles klar. Die Behörde schloß sich der Ansicht des Bürgermeisters an und überließ uns die Cafeteria — für 36 Dollar.
Schon mit 13 Jahren, dem Alter, in dem ich mich taufen ließ, betete ich: „O Gott, laß mich nur eine Person in die Wahrheit bringen.“ Dieses Gebet wurde viel öfter als einmal erhört, denn ich durfte einer ganzen Anzahl von Personen helfen, für Jehova und sein Königreich Stellung zu beziehen. Wiederholt wurde ich jedoch, kurz bevor jemand, mit dem ich die Bibel studierte, so weit war, daß er sich Gott hingeben und taufen lassen konnte, in eine andere Versammlung versetzt. Trotzdem hatte ich das Vorrecht, zu pflanzen und zu begießen, und eine ganze Reihe derjenigen, mit denen ich studierte, erwiesen sich als Freunde fürs Leben. Die Beteiligung an dieser fruchtbaren Tätigkeit gab mir wirklich viele Gründe, dankbar zu sein.
Die Hilfe der Medien
Die Medien berichten zwar an manchen Orten immer wieder negativ über die Tätigkeit der Zeugen Jehovas, aber erfreulicherweise kann ich sagen, daß mir die Medien im Gebiet von De Land (Florida) — wo ich gegenwärtig diene — geholfen haben, Zeugnis zu geben. Von einer der Kongreßweltreisen schickten meine Mutter und ich ausführliche Berichte an die Lokalzeitung, und diese wurden zusammen mit Bildern bereitwillig veröffentlicht. Die Ausführungen waren zwar im Stil eines Reiseberichts geschrieben, doch es gelang uns stets, darin auch über Jehovas Namen und sein Königreich Zeugnis zu geben.
Ähnliche Erfahrungen konnte ich in Verbindung mit dem Straßendienst machen. Ich habe an einer Straßenecke zwei Liegestühle; auf dem einen sitze ich, und auf dem anderen breite ich unsere Literatur aus. Einmal brachte eine Lokalzeitung einen halbseitigen Bericht mit Bild unter der Überschrift: „De Lands Lottie führt die Tätigkeit der Eltern als Zeugen fort“. Vor nicht allzu langer Zeit, 1987, erschien in einer anderen Zeitung ein weiterer halbseitiger Bericht mit Farbbild, der überschrieben war: „Lottie Hall hat ihre eigene Ecke für Christus abgesteckt“. Im Jahr darauf veröffentlichte ein Blatt auf der ersten Seite ein Bild von mir zusammen mit Kommentaren wie: „Sie ist immer da“ und „Die pensionierte Lehrerin führt an ihrer Straßenecke vom Liegestuhl aus das Missionswerk der Zeugen Jehovas durch.“ Auch der lokale Fernsehsender hat schon viermal Bilder von meiner Zeugnistätigkeit gebracht. Ich beteilige mich immer noch in begrenztem Maße an allen Zweigen des Königreichsdienstes: Predigen von Haus zu Haus, Rückbesuche und Heimbibelstudien. Wegen meines Alters und gewisser körperlicher Beschwerden verbringe ich heute allerdings ziemlich viel Zeit im Straßendienst.
Rückblickend steht außer Frage, daß ich wirklich viele Gründe habe, dankbar zu sein. Zusätzlich zu den Segnungen, die das Volk Jehovas im allgemeinen verspürt, hatte ich als Lehrerin das Vorrecht, junge Menschen positiv zu beeinflussen; ich hatte die Freude, zahlreiche Kongresse in der ganzen Welt zu besuchen; mein Pionierdienst hat viel Frucht getragen, und ich bin auch in Verbindung mit der Musik gesegnet worden. Hinzu kommt noch das Zeugnis, das ich durch die Medien geben konnte. Wie der Psalmist David kann ich sagen: „Ich will den Namen Gottes im Lied preisen, und mit Danksagung will ich ihn hoch erheben“ (Psalm 69:30).