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  • Worum es ging — Wie alles anfing
    Erwachet! 2003 | 8. Januar
    • Worum es ging — Wie alles anfing

      DER KLEINE ORT STRATTON im amerikanischen Bundesstaat Ohio liegt in der Nähe des Flusses Ohio, der die Grenze zwischen Ohio und West Virginia bildet. Stratton ist eine ländliche Gemeinde mit eigenem Bürgermeister. Im Jahr 1999 stand der kleine Ort mit weniger als 300 Einwohnern unversehens im Mittelpunkt einer Kontroverse. Die örtliche Behörde hatte von Jehovas Zeugen (neben anderen, die ebenfalls von Tür zu Tür gehen) verlangt, eine schriftliche Genehmigung einzuholen, bevor sie die Menschen mit der Botschaft der Bibel zu Hause besuchen.

      Warum ist diese Angelegenheit von Bedeutung? Wie aus dem folgenden Bericht hervorgeht, schränken derartige behördliche Verordnungen und Kontrollen in Wirklichkeit das Recht auf freie Meinungsäußerung ein — nicht nur von Zeugen Jehovas, sondern von allen Bürgern der Vereinigten Staaten.

      Wie es zu dem Konflikt kam

      Viele Jahre lang besuchten Zeugen Jehovas aus der nahe gelegenen Versammlung Wellsville die Bewohner von Stratton, doch wegen ihrer Haus-zu-Haus-Besuche gab es seit 1979 Probleme mit einigen Behördenvertretern am Ort. Anfang der 1990er Jahre jagte ein Polizist eine Gruppe von Zeugen mit den Worten aus dem Ort: „Ihre Rechte sind mir völlig egal!“

      Die Angelegenheit spitzte sich zu, als sich der Bürgermeister von Stratton 1998 persönlich einer Gruppe von Zeuginnen Jehovas in den Weg stellte. Die Frauen hatten Personen besucht, die schon zuvor Interesse an biblischen Gesprächen gezeigt hatten, und waren gerade dabei, aus dem Ort zu fahren. Wie eine der Betroffenen sagte, erklärte der Bürgermeister, wenn sie Männer gewesen wären, hätte er sie ins Gefängnis werfen lassen.

      Der aktuelle Konflikt wurde durch eine Verordnung der Gemeinde gegen „unerwünschtes Hausieren und Werben auf Privatbesitz“ ausgelöst. Die Verordnung besagte, dass jeder, der mit einem Anliegen von Tür zu Tür gehen wolle, zuvor beim Bürgermeister eine gebührenfreie Genehmigung einholen müsse. Jehovas Zeugen betrachteten diese Verordnung als einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und gegen die Religions- und Pressefreiheit. Als die Gemeinde darauf bestand, die Verordnung durchzusetzen, brachten Jehovas Zeugen den Fall vor ein Bundesgericht.

      Am 27. Juli 1999 fand eine Anhörung vor einem Bezirksrichter für den Südbezirk Ohio statt. Der Richter befand die Gemeindeverordnung für verfassungsgemäß. Am 20. Februar 2001 erklärte auch das zuständige Berufungsgericht (6. Gerichtsbezirk) die Gemeindeverordnung im Sinne der Verfassung für rechtens.

      Um die Angelegenheit endgültig zu klären, beantragte die Watchtower Bible and Tract Society of New York gemeinsam mit der Versammlung der Zeugen Jehovas in Wellsville eine Überprüfung vor dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten.

  • Das Oberste Bundesgericht lässt das Revisionsverfahren zu
    Erwachet! 2003 | 8. Januar
    • Das Oberste Bundesgericht lässt das Revisionsverfahren zu

      IN DEN LETZTEN JAHREN hat das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten von über 7 000 Anträgen jährlich nur etwa 80 bis 90 Fälle zur Verhandlung und schriftlichen Stellungnahme angenommen, also wenig mehr als ein Prozent.

      Im Mai 2001 legten Jehovas Zeugen dem Obersten Bundesgericht ihren Antrag auf ein Revisionsverfahren vor. Die Frage lautete: „Ist es verfassungsgemäß, Diener Gottes, die eine biblisch fundierte, jahrhundertealte Tätigkeit der Glaubensverkündigung von Haus zu Haus ausüben, mit kommerziellen Hausierern gleichzusetzen, und benötigen sie eine amtliche Genehmigung, um biblische Gespräche zu führen oder biblische Literatur kostenfrei anzubieten?“

      Am 15. Oktober 2001 erhielt die Rechtsabteilung der Watchtower Society die Antwort: Das Oberste Bundesgericht hatte den Fall Watchtower Bible and Tract Society of New York, Inc. et al. gegen Village of Stratton et al. zur Revision zugelassen.

      Das Gericht beschränkte die Zulassung des Revisionsverfahrens auf einen speziellen Punkt zum Thema freie Meinungsäußerung. Es wollte prüfen, ob die im 1. Zusatzartikel zur Verfassung garantierte Redefreiheit das Recht einschließt, mit anderen über ein Anliegen zu sprechen, ohne zuvor bei einer Behörde vorstellig zu werden.

      Als Nächstes folgte die mündliche Anhörung vor neun Richtern des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten. Sowohl Jehovas Zeugen als auch die Gemeinde Stratton wurden durch ihre Anwaltsteams vertreten. Wie würde die Anhörung vor diesem Forum wohl ausgehen?

      [Kasten auf Seite 5]

      WAS BESAGT DER 1. ZUSATZARTIKEL ZUR VERFASSUNG DER VEREINIGTEN STAATEN?

      „ERSTER ZUSATZARTIKEL (RELIGIONSEINFÜHRUNG; RELIGIONS-, REDE-, PRESSE-, VERSAMMLUNGS- UND PETITIONSFREIHEIT) Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen“ (Verfassung der Vereinigten Staaten).

      „Der 1. Zusatzartikel ist die Grundlage der demokratischen Verfahrensweise in den Vereinigten Staaten. Der 1. Zusatzartikel verbietet dem Kongress, Gesetze zu erlassen, die die Rede- und Pressefreiheit sowie das Recht einschränken, sich friedlich zu versammeln oder Petitionen zu stellen. Viele betrachten das Recht auf freie Meinungsäußerung als wichtigstes Freiheitsrecht und als Grundlage aller anderen Freiheitsrechte. Der 1. Zusatzartikel untersagt dem Kongress ebenfalls, Gesetze zu erlassen, die eine Staatsreligion begründen oder die Religionsfreiheit einschränken“ (The World Book Encyclopedia). Interessanterweise befand das Oberste Bundesgericht in dem wegweisenden Urteil Cantwell gegen Staat Connecticut, 310 U.S. 296 (1940), bei dem es ebenfalls um Jehovas Zeugen ging, dass die im 1. Zusatzartikel gegebenen Garantien nicht nur dem „Kongress“ (und damit der Regierung), sondern auch örtlichen und einzelstaatlichen Behörden verbieten, Gesetze zu erlassen, die gegen diese Rechte und damit gegen die Verfassung verstoßen.

      [Bilder auf Seite 5]

      Bei den strittigen Fragen ging es um verschiedene Formen des Vorsprechens von Haus zu Haus

      [Bildnachweis auf Seite 4]

      Foto von Franz Jantzen, Sammlung des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten

  • Erste Hürde — Anhörung vor dem Obersten Bundesgericht
    Erwachet! 2003 | 8. Januar
    • Erste Hürde — Anhörung vor dem Obersten Bundesgericht

      DIE ANHÖRUNG vor dem Präsidenten des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten, William Rehnquist, und acht Bundesrichtern war auf den 26. Februar 2002 festgesetzt worden. Jehovas Zeugen wurden von vier Anwälten vertreten.

      Mit folgenden Worten lenkte der Hauptprozessbevollmächtigte der Zeugen die Aufmerksamkeit auf seine Ausführung: „Samstag, 11 Uhr in der Gemeinde Stratton [klopf, klopf, klopf]. ‚Einen schönen guten Morgen. Ich habe mich heute extra aufgemacht, um auch mit Ihnen über die aktuellen Ereignisse zu sprechen. Ich möchte mich nämlich gern mit Ihnen über etwas unterhalten, was der Prophet Jesaja „etwas Besseres“ nannte. Es handelt sich um die gute Botschaft vom Königreich Gottes, die Botschaft, von der schon Jesus Christus gesprochen hat.‘ “

      Er fuhr fort: „Mit dieser Botschaft von Haus zu Haus zu gehen, ohne zuvor eine amtliche Genehmigung eingeholt zu haben, ist in der Gemeinde Stratton eine Straftat.“

      „Sie bitten nicht um Geld?“

      Richter Stephen G. Breyer stellte einem Anwalt der Zeugen einige gezielte Fragen wie etwa: „Trifft es zu, dass Ihre Klienten nicht um Geld bitten, nicht um einen Cent, und dass sie keine Bibeln, ja überhaupt nichts verkaufen, sondern nur sagen: ‚Ich möchte mit Ihnen über Religion sprechen‘?“

      Der Anwalt antwortete: „Euer Ehren, die Sachlage ist eindeutig: In der Gemeinde Stratton haben Jehovas Zeugen nicht um Geld gebeten. Auch in anderen Gegenden erwähnen sie nur gelegentlich die Möglichkeit, eine freiwillige Spende zu geben. . . . Uns geht es nicht darum, Geld zu sammeln. Wir versuchen einfach, mit den Menschen über die Bibel zu sprechen.“

      Amtliche Genehmigung nötig?

      Richter Antonin Scalia stellte eine Frage, die den Kern der Sache berührte: „Sie stehen doch auf dem Standpunkt, dass Sie nicht erst die Genehmigung des Bürgermeisters einholen müssen, um mit Ihren Mitmenschen über etwas von Interesse zu sprechen, nicht wahr?“ Der Anwalt der Zeugen erwiderte: „Wir meinen, dieses hohe Gericht sollte keine Verordnung gutheißen, die von einem Bürger verlangt, eine Genehmigung einzuholen, bevor er sich mit einem anderen Bürger bei ihm zu Hause unterhalten darf.“

      Gegenargumente — Stimmungsumschwung

      Jetzt sollten die Argumente der Gemeinde Stratton gehört werden. Ihr Hauptprozessbevollmächtigter erläuterte die Gemeindeverordnung und sagte: „Stratton übt seine Polizeigewalt aus, indem es versucht, die Privatsphäre seiner Bewohner zu schützen und Straftaten vorzubeugen. Die Verordnung gegen Werbung und Hausieren auf Privatgrundstücken verlangt nichts weiter, als sich registrieren zu lassen und eine Genehmigung bei sich zu tragen, während man von Tür zu Tür geht.“

      Richter Scalia hakte sofort ein und brachte die Angelegenheit auf den Punkt: „Hat uns [dem Obersten Bundesgericht] jemals ein Fall vorgelegen, bei dem eine derart umfassende Verordnung auch nur erwähnt wurde, also eine Verordnung, in der es um jemanden geht, der ein Anliegen vorbringt, aber nicht um Geld bittet und nichts verkaufen will, sondern beispielsweise sagt: ‚Ich möchte über Jesus Christus sprechen‘, oder: ‚Ich möchte über den Umweltschutz sprechen.‘ Haben wir so einen Fall schon einmal gehabt?“

      Richter Scalia fuhr fort: „Derartige Fälle sind mir nicht bekannt, in über zweihundert Jahren nicht.“ Worauf der Vorsitzende, Richter Rehnquist, konterte: „So alt sind Sie ja auch noch nicht.“ Diese Bemerkung sorgte für Gelächter im Gerichtssaal. Richter Scalia ließ sich nicht abbringen: „Eine Angelegenheit dieser Reichweite ist mir neu.“

      Eine glänzende Idee?

      Richter Anthony M. Kennedy fragte treffend: „Halten Sie es für eine glänzende Idee, dass ich eine amtliche Genehmigung brauche, wenn ich Leute in der Nachbarschaft, die ich nicht so gut kenne, aufsuchen will, um mit ihnen über unsere Müllabfuhr oder über unseren Kongressabgeordneten oder über sonst was zu reden, worüber ich mir Gedanken mache? Muss ich die Regierung dafür um Erlaubnis bitten?“ Nach einer kurzen Unterbrechung ergänzte er: „Eine seltsame Vorstellung.“

      Darauf schaltete sich Richterin Sandra Day O’Connor ein: „Wie steht es denn mit Kindern, die an Halloween von Tür zu Tür ziehen? Brauchen sie auch eine Genehmigung?“ Richter Scalia schloss sich diesem Gedanken an. Richterin O’Connor brachte ein weiteres Argument vor: „Wie ist es denn, wenn ich bei meiner Nachbarin um eine Tasse Zucker bitten möchte? Brauche ich eine Genehmigung, um mir bei meiner Nachbarin eine Tasse Zucker zu holen?“

      Sind die Zeugen Werber?

      Richter David H. Souter fragte: „Wieso sind Jehovas Zeugen überhaupt davon betroffen? Sind sie etwa Werber, Vertreter, Hausierer, fliegende Händler oder bieten sie irgendwelche Dienstleistungen an? Das alles trifft doch gar nicht auf sie zu, oder?“ Daraufhin zitierte der Vertreter der Gemeinde ausführlich aus der Verordnung und erklärte, das Bezirksgericht habe Jehovas Zeugen als Werber (canvasser) definiert. Worauf Richter Souter erwiderte: „Dann ist Ihre Definition von Werbern ja ziemlich umfassend, wenn sie Jehovas Zeugen einschließt.“a

      Um zu zeigen, dass die Definition auf Jehovas Zeugen nicht zutrifft, zitierte Richter Breyer aus einem Wörterbuch und ergänzte: „Ich habe in Ihrem Schriftsatz nichts gelesen, was erklärt, warum sich diese Leute [Jehovas Zeugen], denen es weder um Geld noch um Geschäfte, ja nicht einmal um Wählerstimmen geht, im Rathaus registrieren lassen sollen. Was bezweckt die Gemeinde damit?“

      Das „Sonderrecht“ der Kommunikation

      Daraufhin erklärte der Anwalt der Gemeinde, dass „die Gemeinde ihre Grundstücksbesitzer vor Störungen bewahren will“. Wie er außerdem erläuterte, gehe es darum, die Bewohner vor Betrug und vor Kriminellen zu schützen. Darauf belegte Richter Scalia durch Zitate aus der Verordnung, dass der Bürgermeister den Antragsteller auffordern kann, weitere Auskünfte über seine Person und sein Vorhaben zu geben sowie „die Art des gewünschten Sonderrechts genau zu beschreiben“. Pointiert kommentierte der Richter: „Herumzugehen und seine Mitbürger von der einen oder anderen Sache zu überzeugen soll also ein Sonderrecht sein — das begreife ich einfach nicht.“

      Er setzte noch einmal nach: „Also sollte man von jedem, der an einer Tür klingeln will, verlangen, sich vorher im Rathaus seine Fingerabdrücke abnehmen zu lassen? Rechtfertigt es die geringe Gefahr eines Verbrechens, von jedem, der an einer Tür klingeln will, zu verlangen, sich eine amtliche Erlaubnis zu beschaffen? Natürlich nicht.“

      Eine Verordnung zum Schutz der Bürger?

      Nachdem seine Redezeit von 20 Minuten verstrichen war, überließ der Anwalt der Gemeinde dem Generalstaatsanwalt als oberstem Prozessvertreter des Bundesstaates Ohio das Wort. Dieser argumentierte, die Verordnung gegen Besuche von Werbern schütze die Bewohner vor dem Besuch von Fremden, also vor „offenkundig nicht eingeladenen Personen, die mein Grundstück betreten, . . . und wie ich meine, hat die Gemeinde das Recht zu sagen: Derartige Aktivitäten beunruhigen uns.“

      Daraufhin stellte Richter Scalia fest: „Die Gemeinde meint also, sogar im Fall von Leuten, die von Jehovas Zeugen besucht werden wollen, weil sie allein zu Hause sitzen und gerne einfach nur mit irgendjemand reden möchten, müssen sich die Zeugen erst beim Bürgermeister registrieren lassen, bevor sie das Sonderrecht erhalten, bei diesen Leuten zu klingeln.“

      „Eine sehr maßvolle Einschränkung“

      Im Verlauf der Befragung brachte Richter Scalia ein gewichtiges Argument vor. Er sagte: „Wir sind uns alle darin einig, dass totalitäre Diktaturen die sichersten Gesellschaften sind. Dort gibt es kaum Kriminalität. Das ist allgemein bekannt. Der Preis der Freiheit besteht unter anderem in einem erhöhten Kriminalitätsrisiko. Die Frage ist, ob diese Verordnung ihrem Zweck gerecht wird und kriminelle Aktivitäten so stark eindämmt, dass man in Kauf nimmt, das Klingeln an der Haustür zu einem Sonderrecht zu machen.“ Der Generalstaatsanwalt erwiderte, es handle sich um „eine sehr maßvolle Einschränkung“. Worauf Richter Scalia sagte, sie sei so maßvoll, dass „wir keinen einzigen Fall dokumentiert finden, in dem irgendeine andere Gemeinde jemals eine derartige Verordnung erlassen hätte. Ich halte das keinesfalls für maßvoll.“

      Einer der Richter bohrte so lange nach, bis der Generalstaatsanwalt schließlich einräumte: „Ich denke, man kann es nicht rundweg verbieten, an einer Haustür zu klingeln oder zu klopfen.“ Mit dieser Bemerkung endete seine Ausführung.

      In seiner Erwiderung wies ein Anwalt der Zeugen darauf hin, dass die Verordnung keineswegs eine Kontrolle ermögliche. „Ich kann ins Rathaus gehen, mich als Herr Soundso vorstellen, mir eine Genehmigung geben lassen und dann von Tür zu Tür gehen.“ Er erwähnte außerdem, der Bürgermeister sei befugt, jemandem die Genehmigung zu verweigern, wenn dieser angebe, keiner Organisation anzugehören. Der Anwalt sagte: „Hier geht es offenkundig um eine Ermessensentscheidung. . . . Mit allem Respekt möchte ich darauf hinweisen, dass der 1. Zusatzartikel im Kern zweifellos unsere Tätigkeit [die der Zeugen Jehovas] betrifft.“

      Kurz darauf schloss der Vorsitzende, Richter Rehnquist, die mündliche Anhörung mit den Worten: „Der Fall ist dem Obersten Bundesgericht zur Entscheidung vorgelegt.“ Die gesamte Anhörung hatte nur etwas länger als eine Stunde gedauert. Wie wichtig diese Stunde war, sollte das schriftliche Urteil zeigen, das im Juni verkündet wurde.

      [Fußnote]

      a Der englische Ausdruck canvasser ist umfassender als das deutsche Wort Werber. Er bedeutet je nach Zusammenhang unter anderem Kundenwerber, Werbevertreter, Anzeigenvertreter, Wahlstimmenwerber.

      [Bilder auf Seite 6]

      Richter Rehnquist, Vorsitzender

      Richter Breyer

      Richter Scalia

      [Bildnachweis]

      Rehnquist: Sammlung der Historischen Gesellschaft des Obersten Bundesgerichts/Dane Penland; Breyer: Sammlung der Historischen Gesellschaft des Obersten Bundesgerichts/Richard Strauss; Scalia: Sammlung der Historischen Gesellschaft des Obersten Bundesgerichts/Joseph Lavenburg

      [Bilder auf Seite 7]

      Richter Souter

      Richter Kennedy

      Richterin O’Connor

      [Bildnachweis]

      Kennedy: Sammlung der Historischen Gesellschaft des Obersten Bundesgerichts/Robin Reid; O’Connor: Sammlung der Historischen Gesellschaft des Obersten Bundesgerichts/Richard Strauss; Souter: Sammlung der Historischen Gesellschaft des Obersten Bundesgerichts/Joseph Bailey

      [Bild auf Seite 8]

      Innenansicht des Gerichtssaals

      [Bildnachweis]

      Foto von Franz Jantzen, Sammlung des Obersten Bundesgerichts der Vereinigten Staaten

  • Das Oberste Bundesgericht urteilt zugunsten der Redefreiheit
    Erwachet! 2003 | 8. Januar
    • Das Oberste Bundesgericht urteilt zugunsten der Redefreiheit

      DIE ENTSCHEIDUNG fiel am 17. Juni 2002, als das Oberste Bundesgericht seine schriftliche Stellungnahme veröffentlichte. Wie hatte es entschieden? Es folgen einige Schlagzeilen aus der Presse. Die New York Times verkündete: „Gericht weist Einschränkung der Besuche von Jehovas Zeugen zurück“. Die in Ohio erscheinende Zeitung The Columbus Dispatch schrieb: „Oberster Gerichtshof erklärt Verordnung für ungültig“. Der Plain Dealer aus Cleveland (Ohio) meldete einfach: „Kein O. K. aus dem Rathaus nötig“. Die USA Today verkündete auf ihrer Meinungsseite: „Sieg für Redefreiheit“.

      Die Urteile der Bezirksgerichtsbarkeit gegen Jehovas Zeugen wurden mit 8 zu 1 Stimmen aufgehoben. Die offizielle Urteilsbegründung des Gerichts umfasst 18 Seiten und wurde von Richter John Paul Stevens verfasst. Die Entscheidung stellt die öffentliche Tätigkeit der Zeugen Jehovas zweifelsfrei unter den Schutz des 1. Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung. In der schriftlichen Stellungnahme erklärte das Gericht, die Zeugen würden „ihre Befugnis, zu predigen, aus der Bibel ableiten“ und hätten aus diesem Grund gar nicht erst um eine Genehmigung ersucht. Anschließend zitierte das Gericht aus dem Antrag von Jehovas Zeugen: „Eine Behörde um Erlaubnis zum Predigen zu bitten käme für uns beinahe einer Beleidigung Gottes gleich.“

      In der Urteilsbegründung hieß es: „Seit über 50 Jahren hebt dieses Gericht Verordnungen auf, die das Werben [canvassing] und das Verteilen von Druckschriften von Tür zu Tür einzuschränken suchen. Es ist mehr als nur ein historischer Zufall, dass die meisten Verfahren, in denen es um den 1. Zusatzartikel ging, von Jehovas Zeugen angestrengt wurden, deren Religion erfordert, von Tür zu Tür zu gehen. Wie wir bereits im Fall Murdock gegen Pennsylvania, . . . (1943), vermerkt haben, beanspruchen Jehovas Zeugen‚ dem ‚Beispiel des Paulus zu folgen und „öffentlich und von Haus zu Haus zu lehren“ (Apostelgeschichte 20,20). Das Gebot der Schrift nehmen sie wörtlich: „Geht hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung“ (Markus 16,15). Sie sind davon überzeugt, mit dieser Tätigkeit ein göttliches Gebot zu befolgen.‘ “

      Des Weiteren wurde in der Urteilsbegründung erneut das Verfahren von 1943 zitiert: „Diese Art religiöser Tätigkeit nimmt unter dem 1. Zusatzartikel dieselbe hohe Stufe ein wie der Gottesdienst in den Kirchen und das Predigen von den Kanzeln. Sie kann denselben Schutz beanspruchen wie die anerkannteren und herkömmlicheren Religionsbräuche.“ Und anhand eines Zitates aus einem Verfahren von 1939 wurde erklärt: „Eine Zensur in Form einer Bewilligungspflicht zu fordern, durch die die freie und ungehinderte Verbreitung von Pamphleten unmöglich gemacht wird, greift den durch die Verfassung garantierten Freiheitsrechten direkt ans Mark“ (Kursivschrift vom Verfasser).

      Darauf traf das Gericht eine wichtige Feststellung: „Diese Fälle belegen, dass es den Zeugen Jehovas bei ihrem Widerstand gegen die Beschneidung der Redefreiheit nicht nur um ihre eigenen Rechte ging.“ Gemäß dem Wortlaut der Urteilsbegründung sind die Zeugen „nicht die einzige ‚kleine Gemeinschaft‘, die fürchten muss, durch Gemeindeverordnungen wie die vorliegende zum Schweigen gebracht zu werden“.

      Wie es in der Stellungnahme außerdem hieß, „stellt sie [die Gemeindeverordnung] nicht nur einen Angriff auf die Werte dar, die unter dem Schutz des 1. Zusatzartikels stehen, sondern auch auf das Ideal einer freiheitlichen Gesellschaft an sich. In Verbindung mit alltäglicher, offener Kommunikation verlangt sie von einem Bürger, der wünscht, mit seinen Mitmenschen zu sprechen, die Behörden davon zu unterrichten und dann eine Genehmigung dafür einzuholen. . . . Ein Gesetz, das für derartige Gespräche eine Genehmigung fordert, steht in deutlichem Widerspruch zu unserem nationalen Erbe und zu unserer Verfassungstradition.“ In der Begründung wurden anschließend „die bedenklichen Konsequenzen der Forderung nach solch einer Genehmigung“ erwähnt.

      Kriminalität

      Wie ist die Ansicht zu bewerten, die Verordnung biete Schutz vor Betrügern und anderen Kriminellen? Das Gericht argumentierte: „Obwohl wir diese Bedenken als legitim anerkennen, machen die bisherigen Fälle deutlich, dass sie gegen die Auswirkungen einer Beschneidung der im 1. Zusatzartikel garantierten Rechte abgewogen werden müssen.“

      In der Urteilsbegründung hieß es weiter: „Es erscheint unwahrscheinlich, dass eine fehlende Genehmigung Kriminelle davon abhalten kann, an den Türen zu klopfen oder Leute in Gespräche zu verwickeln, die in der Verordnung nicht erwähnt sind. Sie könnten beispielsweise nach dem Weg fragen, um Erlaubnis bitten, das Telefon zu benutzen, . . . oder sich einfach unter falschem Namen registrieren lassen.“

      Mit Bezug auf Urteile aus den 1940er Jahren schrieb das Gericht: „Die Formulierungen in den Urteilsbegründungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs haben die Religionsmitglieder des Antragstellers wiederholt vor kleinlichen Anklagen bewahrt. Sie geben wieder, wie das Gericht die im 1. Zusatzartikel garantierten Freiheiten einschätzt, um die es bei diesem Verfahren geht.“

      Zu welcher Schlussfolgerung kam das Gericht? „Das Urteil des Berufungsgerichts ist hiermit aufzuheben und die Sache entsprechend dieser Urteilsbegründung zur weiteren Verhandlung zurückzuverweisen. Dieser Beschluss ist rechtskräftig.“

      Der Ausgang des Verfahrens lässt sich mit den Worten der Chicago Sun-Times beschreiben: „Gericht gibt Jehovas Zeugen Recht“, und das mit einer Mehrheit von 8 zu 1 Stimmen.

      Wie geht es weiter?

      Wie haben die Zeugen Jehovas aus der Versammlung Wellsville in der Nähe von Stratton den Erfolg vor dem Obersten Bundesgericht aufgenommen? Sie sehen gewiss keinen Grund, auf Kosten der Bewohner von Stratton damit zu prahlen. Die Zeugen achten die Bewohner des Ortes und hegen ihnen gegenüber keinen Groll. Gregory Kuhar, ein ansässiger Zeuge Jehovas, sagte: „Wir hatten es nicht auf dieses Gerichtsverfahren angelegt. Die Verordnung war einfach verkehrt. Was wir getan haben, haben wir somit nicht nur für uns, sondern für jeden getan.“

      Die Tatsachen zeigen, dass sich die Zeugen sehr darum bemüht haben, den Bewohnern des Ortes keinen Anlass zur Klage zu geben. Gene Koontz, ein anderer Zeuge, erklärte: „Das letzte Mal haben wir am 7. März 1998 in Stratton gepredigt — also vor über 4 Jahren.“ Er ergänzte: „Mir persönlich hat man gesagt, ich käme ins Gefängnis. Im Laufe der Jahre war oft zu hören, dass die Polizei gedroht hat, uns zu verhaften. Wenn wir dann die Verordnung schwarz auf weiß sehen wollten, haben wir nie eine Antwort bekommen.“

      Gene Koontz fuhr fort: „Uns ist an einem guten Verhältnis zu unseren Mitmenschen gelegen. Wenn einige unsere Besuche ablehnen, respektieren wir das. Aber es gibt andere, die unsere Besuche begrüßen und sich gern über die Bibel unterhalten.“

      Gregory Kuhar erklärte: „Wir haben dieses Verfahren nicht angestrengt, um die Bewohner von Stratton vor den Kopf zu stoßen. Uns ging es lediglich um die gesetzliche Bestätigung unseres verfassungsgemäßen Rechts auf Redefreiheit.“

      Er fuhr fort: „Wir hoffen, wieder einmal nach Stratton zurückzukehren. Wenn es so weit ist, wäre ich sehr froh, der Erste zu sein, der an eine Tür klopft. Wenn wir dem Gebot Jesu gehorchen wollen, müssen wir auf jeden Fall zurückkehren.“

      Der Ausgang des Verfahrens „Watchtower gegen Gemeinde Stratton“ hatte weitreichende Auswirkungen. Nachdem das Urteil des Obersten Bundesgerichts bekannt geworden war, haben einige Ortsverwaltungen in den Vereinigten Staaten anerkannt, dass das Evangelisierungswerk der Zeugen Jehovas nicht mittels lokaler Verordnungen eingeschränkt werden kann. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind in etwa 90 Gemeinden der Vereinigten Staaten Probleme in Verbindung mit der Haus-zu-Haus-Tätigkeit geklärt worden.

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