Mein Leben in der vom Geist geleiteten Organisation Jehovas
Von Albert D. Schroeder erzählt
AM ERSTEN Sonntag im Juni 1934 waren Alex Jones und ich in Jersey City (New Jersey, USA) im Predigtdienst von Haus zu Haus tätig. Plötzlich stürmten Polizisten in das Apartmenthaus, wo wir gerade predigten, und nahmen uns fest. Sie stießen uns unsanft in ein Auto und brachten uns ins Gefängnis.
Drei Tage später sprach uns ein Richter für schuldig, ohne Lizenz hausiert zu haben, und verurteilte uns zu zehn Tagen Haft. Man lieferte uns in das Hudson-County-Gefängnis ein. Wir mußten uns entkleiden, uns desinfizieren lassen und Sträflingskleidung anziehen. Dann wurden wir in eine Zelle geführt.
Dort hatte ich Zeit zum Nachdenken. Ich war gerade 23 Jahre alt und führte ein glückliches Leben als Vollzeitdiener im Bethel in Brooklyn. Einige meiner Gedanken, die mir im Gefängnis durch den Sinn gingen, möchte ich gern einmal wiedergeben.
Meiner Großmutter dankbar
Besonders meine Großmutter mütterlicherseits, Elisabeth Darger, hatte ich in guter Erinnerung. Ihre Eltern waren einige Zeit vor 1870 mit ihren Kindern von Deutschland nach Michigan gekommen. Meine Großmutter unterrichtete Deutsch und Englisch an der Grundschule und wohnte im Haus meiner lutherischen Eltern in Saginaw (Michigan), meiner Geburtsstadt. Sie und ihre Schwestern, die ebenfalls Lehrerinnen waren, verbanden sich während des Ersten Weltkriegs mit den Internationalen Bibelforschern (heute Jehovas Zeugen).
Meine Eltern verlangten zwar von mir, die lutherische Sonntagsschule zu besuchen, aber sie gestatteten meiner Großmutter auch, mit mir über ihre begeisternden biblischen Anschauungen zu sprechen. Sie konnte die Bibel in Latein und Griechisch lesen, was bei mir den Wunsch weckte, die Bibel in ihren ursprünglichen Sprachen zu studieren. Gern erinnerte ich mich an die lebhaften biblischen Gespräche mit meinen Großtanten über Gottes Königreich, das in Übereinstimmung mit Daniel 2:44 bald über die Erde herrschen wird.
Im Jahre 1923 begann meine Großmutter, mit mir anhand des Buches Die Harfe Gottes, das die Watch Tower Society herausgegeben hatte, die Bibel zu studieren, und ich besuchte auch mit ihr die Zusammenkünfte der Versammlung in Saginaw. In meiner Zelle dachte ich zurück an diese Zusammenkünfte sowie an die Rundfunkprogramme der Gesellschaft über ihren Sender WBBR aus Brooklyn (New York), denen wir zugehört hatten, und auch an andere Erfahrungen, durch die mein Leben geformt worden war.
So erinnerte ich mich zum Beispiel an die Rundfunkübertragung eines Vortrags von Richter Joseph F. Rutherford, dem Präsidenten der Watch Tower Society, den er im Jahre 1927 auf dem Kongreß der Bibelforscher in Toronto (Kanada) gehalten hatte. Meinen ersten Kongreß besuchte ich 1928 in Detroit (Michigan), wo Bruder Rutherford ebenfalls sprach. Freudig gab ich meine Zustimmung zu der Resolution „Öffentliche Erklärung gegen Satan und für Jehova“. Das Buch Regierung wurde freigegeben, in dem gezeigt wurde, daß Gottes Königreich eine theokratische und keine demokratische Regierung ist.
Erinnerungen an meine Studienzeit
Ich dachte auch an meine Studienzeit zurück. Auf Drängen meiner Eltern, die nicht wünschten, daß ich den Vollzeitdienst aufnahm, nahm ich ein Stipendium für die Hochschule an. Im September 1929 immatrikulierte ich mich daher an der Universität von Michigan in Ann Arbor, um Sprachen, Ökonomie und Technik zu studieren.
Frau Judson, meine Vermieterin, hatte Verbindung mit der Versammlung der Bibelforscher in Ann Arbor. Als ich im Herbst 1930 aus den Ferien nach Ann Arbor zurückkam, erzählte sie mir, daß in das Zimmer, das meinem gegenüberlag, gerade ein netter junger Mann aus Alabama eingezogen war. Sie meinte, daß er für „unsere biblische Botschaft“ empfänglich sei. Und er war es tatsächlich! Als William Addison Elrod die biblischen Wahrheiten annahm, wurden wir beide schnell unzertrennliche Freunde; und wir sind Freunde bis auf den heutigen Tag.
Im Sommer 1931 nahmen Bill Elrod und ich an einem Vermessungskurs teil, so daß wir dem Kongreß, der in diesem Jahr in Columbus (Ohio) abgehalten wurde, nicht beiwohnen konnten. Am Sonntag, dem 26. Juli, hörten wir uns allerdings im Radio den öffentlichen Vortrag an, und wir gehörten zu der begeisterten unsichtbaren Zuhörerschaft, die den wunderbaren neuen Namen „Jehovas Zeugen“ annahm.
In jenen Tagen wurde auf dem Universitätsgelände ausgiebig über sozialistische, faschistische und kommunistische Regierungsformen diskutiert. Im Oktober 1931 hielt Winston Churchill vor 3 000 Studenten eine Rede und verteidigte die Demokratie als die noch immer beste Regierungsform. Lord Bertrand Russell, der bekannte britische Mathematiker und Philosoph, sprach im Dezember 1931 über den Pazifismus. Einige Zeit später erläuterte Dr. Hjalmar Schacht, Präsident der Reichsbank in Berlin, die Notwendigkeit einer nationalistischen Kontrolle der Wirtschaft. Mit anderen Worten: Er verteidigte den Nationalsozialismus. Zwei Jahre danach wurde er Wirtschaftsminister in Hitlers Regierung.
Nachdem ich die Appelle dieser bekannten Staatsmänner gehört hatte, war ich mehr denn je davon überzeugt, daß nur das messianische Königreich eine Regierung ausüben kann, die allen Ansprüchen gerecht wird. Daher trafen Bill Elrod und ich Vorbereitungen, die Universität am 15. Juni 1932 zu verlassen und gemeinsam den Vollzeitpredigtdienst (heute Pionierdienst) aufzunehmen.
Wir begannen bereits vor unserer Taufe mit dem Pionierdienst, da man sich damals noch nicht darüber im klaren war, ob sich diejenigen mit einer irdischen Hoffnung taufen lassen müßten oder nicht. Nach meiner Taufe am 24. Juli 1932 in Vandercook Lake (Michigan) war es jedoch offensichtlich, daß ich zu den Gesalbten gehörte, was durch das ‘Zeugnis des Geistes’ bestätigt wurde (Römer 8:16).
Betheldienst in Brooklyn
Am 9. September — wir waren in Howell (Michigan) als Pioniere tätig — kam Bill aus dem Postamt gerannt und schwenkte ein gelbes Telegramm. Als wir es öffneten, erwies es sich als eine Einladung von Bruder Rutherford, uns so bald wie möglich für den Betheldienst zu melden. Wir benötigten nur 72 Stunden, um unsere Angelegenheiten in Verbindung mit dem Pionierdienst zu regeln, und dann fuhren wir mit unserem Ford Modell T die 1 100 km nach Brooklyn. Am 13. September 1932 überquerten wir die Brooklyn Bridge und trafen kurz darauf im Bethel ein. Zu jener Zeit bestand die Bethelfamilie aus etwa 200 Gliedern, von denen die meisten zu den gesalbten Brüdern des Königs gehörten.
Nachdem ich einige Wochen in der Druckerei gedient hatte, erhielt ich eine Arbeit in der Dienstabteilung. Ein umgänglicher irischer Bruder, Thomas J. Sullivan, war unser Aufseher. Er erinnerte uns, die wir noch jung an Jahren waren, stets daran, sich aller Fakten zu vergewissern, wenn ein Problem dargelegt wurde, und erst dann eine Empfehlung zu geben (Sprüche 18:13). Augenzwinkernd fügte er hinzu: „Warum so eilig? Gebt Jehova eine Chance. Stellt fest, was sein Geist in der Sache tut.“
Als ich im Gefängnis über diese Erfahrungen nachdachte, freute ich mich über das Vorrecht, wie Jesus Christus und die Apostel um der Gerechtigkeit willen zu leiden (Johannes 15:20; 1. Petrus 4:16). Im nachhinein kann ich sagen, daß ich durch solche Erfahrungen auf künftige Vorrechte vorbereitet wurde.
Begeisterndes neues Licht
Anfang 1935, etwa sechs Monate nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis und der Rückkehr ins Bethel, gab es, wie ich mich erinnere, bei Tisch mehrfach Diskussionen über die Identität der „großen Schar“ (Offenbarung 7:9, 13, Lutherbibel). Einige unterstützten die Ansicht, daß es sich dabei um eine zweitrangige himmlische Klasse handle, wie es schon der erste Präsident der Watch Tower Society, Bruder Russell, gelehrt hatte. Andere argumentierten jedoch, die „große Schar“ würde aus denjenigen bestehen, die eine irdische Hoffnung hätten. Bei diesen Diskussionen wollte sich Bruder Rutherford nicht festlegen.
Wir alle aus dem Bethel waren freudig erregt, als wir mit einem Sonderzug zum Kongreß nach Washington (D. C.) fuhren, der vom 30. Mai bis 3. Juni 1935 abgehalten wurde. Am zweiten Kongreßtag verkündete Bruder Rutherford die begeisternde Neuigkeit, daß die „große Schar“ tatsächlich eine irdische Klasse ist. Auf dem Höhepunkt seiner Ansprache fragte er: „Möchten alle, die die Hoffnung haben, ewig auf der Erde zu leben, bitte aufstehen?“ Etwa die Hälfte der 20 000 Anwesenden stand auf. Dann rief Bruder Rutherford aus: „Seht! Die große Schar!“ Zunächst trat ein kurzes Schweigen ein. Doch schließlich stimmten wir alle in einen Freudenruf ein, und das laute Jubeln wollte kein Ende nehmen. Am nächsten Tag wurden 840 Personen getauft, von denen die meisten zur irdischen Klasse gehörten.
Das neue Licht in bezug auf die „große Schar“ führte im folgenden Jahr, 1936, zu einer schrittweisen Reorganisation, wodurch man sich auf den erwarteten Zustrom von Gliedern dieser Klasse einstellte. So gab es beispielsweise bis dahin nur eine große englischsprachige Versammlung in ganz New York. Jetzt wurden neue Versammlungen gegründet, und wir jüngeren Gesalbten wurden als Aufseher eingesetzt. Heute gibt es in New York 336 Versammlungen!
Eine neue Aufgabe
Der 11. November 1937, ein Donnerstag, war ein besonderer Tag für mich. Ich hatte eine Notiz erhalten, nachmittags um 15 Uhr in Bruder Rutherfords Büro zu kommen. Ich war pünktlich, befürchtete allerdings eine Maßregelung. Doch nach einigen freundlichen Worten fragte mich Bruder Rutherford, ob ich bereit sei, eine andere Aufgabe zu übernehmen.
„Ich bin bereit, dort zu dienen, wo immer ich gebraucht werde“, erwiderte ich.
Dann stellte mir Bruder Rutherford eine Frage, mit der ich nie und nimmer gerechnet hatte: „Was hältst du davon, im Bethel in London die Aufgaben des Zweigdieners zu übernehmen?“
„Oh, das ist aber eine große Aufgabe!“ entfuhr es mir.
„Außerdem ist es eine Reise ohne Rückfahrkarte, denn du müßtest dich bereit erklären, bis nach Harmagedon dort zu bleiben. Du hast drei Tage Bedenkzeit“, fuhr er fort.
„Nun, Bruder Rutherford, die drei Tage brauche ich nicht. Wenn es Jehovas Wille ist, daß ich gehe, dann lautet meine Antwort: ‚Ja.‘“
„Diese Antwort habe ich von dir erwartet“, sagte er. „Bruder Knorr hat bereits dein Ticket für die Überfahrt nach England auf der Queen Mary, die nächsten Mittwoch ausläuft.“
Mir wurde schwindelig. „In den nächsten Tagen wirst du noch eine Schulung erhalten“, sagte Bruder Rutherford abschließend.
Als ich in die Dienstabteilung zurückkehrte, die sich in der Druckerei befand, begann Bruder Knorr zu lachen, da mir die Überraschung noch im Gesicht geschrieben stand. Er wußte bereits, wie die Sache ausgegangen war. Nathan Knorr, der Druckereiaufseher, war zuvor zusammen mit Bruder Rutherford in England gewesen. Sofort begann er, mich zu schulen, wie man die Vorgänge in einem Zweigbüro beaufsichtigt. Einige Tage später wurde ich von Bruder Rutherford weiter darauf vorbereitet.
Bruder Rutherford gab mir den auf Micha 6:8 gestützten Rat, Recht zu üben, fest für die Verfahrensweise der Organisation einzutreten, biblische Maßstäbe hochzuhalten, prompten Gehorsam zu leisten und nichts hinauszuzögern. Er riet mir auch, die Brüder freundlich zu behandeln, mich regelmäßig am Predigtdienst zu beteiligen und demütig mit Gott zu wandeln. In Großbritannien gab es, wie er sagte, deshalb keine Fortschritte, weil die früheren Zweigdiener den Predigtdienst nicht ganzherzig unterstützt hatten. Daher schloß er mit den eindringlichen Worten ab: „Ermuntere zu vermehrtem Predigtdienst. Großbritannien benötigt jetzt 1 000 Pioniere und nicht nur die 200, die es im Augenblick dort gibt.“
Aufnahme in England
Die Queen Mary legte in Southampton an, und ich nahm den Zug nach London. Dort ließ ich mich von einem Taxi zum Zweigbüro der Gesellschaft fahren, das sich seit 26 Jahren in der Craven Terrace 34, am Lancaster Gate, befand. Der Vizepräsident der International Bible Students Association bereitete mir einen herzlichen Empfang. Ich überreichte ihm Bruder Rutherfords Brief, der ihn ermächtigte, den bisherigen Zweigdiener zu entlassen und der Bethelfamilie bekanntzugeben, daß ich ihn ersetzte. Das geschah beim Mittagessen, woraufhin mich die 30 Bethelmitarbeiter herzlich willkommen hießen.
Im Laufe der Zeit lernte ich viele der Zweigdiener und Beauftragten der Gesellschaft in Europa kennen. Es waren Gesalbte, die trotz der Hindernisse der Hitlerzeit kompromißlos die Führung im Predigtwerk übernahmen, Männer wie Martin Harbeck in der Schweiz, Charles Knecht in Frankreich, Fritz Hartstang in den Niederlanden, Johan Eneroth in Schweden, William Dey in Dänemark und der mutige Robert Arthur Winkler, der die Untergrundorganisation der Gesellschaft in Deutschland leitete. Mit jedem schriftgemäßen Mittel widerstanden diese furchtlosen Glaubensmänner der brutalen Verfolgung durch die Nationalsozialisten.
Besuch von Bruder Rutherford
Im Jahre 1938, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, hatte man in Großbritannien die Voraussetzungen für eine transozeanische Radioübertragung geschaffen. Die Techniker erklärten sich bereit, anläßlich eines Kongresses, der vom 9. bis 11. September in London stattfinden sollte, vier Kontinente miteinander zu verbinden. Für den Kongreß wurde die Royal Albert Hall, die größte dafür geeignete Halle in London, gemietet. Bruder Rutherfords Gruppe, zu der auch Nathan Knorr gehörte, traf bereits drei Wochen früher ein, um bei den Vorbereitungen mitzuhelfen.
Der öffentliche Vortrag sollte durch Plakatmärsche angekündigt werden. Kurz vor dem ersten Informationsmarsch bat mich Bruder Rutherford zu sich. Während wir Kongreßangelegenheiten besprachen, kritzelte er etwas auf ein Blatt Papier, was bei ihm nicht unüblich war, wenn er sich mit jemand unterhielt. Er riß das Blatt aus dem Schreibblock heraus und reichte es mir. „Was hältst du davon?“ fragte er.
„RELIGION IST EINE SCHLINGE UND EIN GIMPELFANG“ war da zu lesen.
„Das ist ja ziemlich scharf“, erwiderte ich.
„Ich habe es absichtlich so hart formuliert“, sagte er. Dann gab er Anweisungen, daß rechtzeitig für unseren ersten Kongreß-Informationsmarsch am Mittwoch abend Plakate mit dieser Aufschrift hergestellt wurden. An jenem Abend führten Nathan Knorr und ich den Zug von etwa tausend Brüdern an, der 10 km durch das Zentrum von London marschierte.
Am nächsten Morgen rief mich Bruder Rutherford in sein Büro und bat um einen Bericht. „Viele bezeichneten uns als Kommunisten und Atheisten und machten andere feindselige Bemerkungen“, erzählte ich. Er dachte einige Minuten nach und gab mir dann einen Zettel, auf dem der Satz stand: „DIENT GOTT UND CHRISTUS, DEM KÖNIG“. Würde man Plakate mit diesen Worten einfügen, könne man, so meinte er, den negativen Reaktionen entgegenwirken. Das war auch tatsächlich der Fall. Der Kongreß 1938 nahm einen guten Verlauf. Die wichtigsten Programmpunkte am Samstag und Sonntag sowie der Hauptvortrag mit dem Thema „Schau den Tatsachen ins Auge“ wurden erfolgreich zu 49 gleichzeitig stattfindenden Kongressen in der gesamten englischsprachigen Welt übertragen.
Nach dem Kongreß wurde mit den Zweigdienern aus den europäischen Ländern ein Schulungskurs durchgeführt. Während des Kurses erteilte mir Bruder Rutherford eine strenge Zurechtweisung wegen der mangelhaften Schulung der Ordner. Ich mußte angesichts des Verweises mit den Tränen kämpfen. Später, als wir unter uns waren, tröstete mich William Dey, der Zweigdiener von Dänemark, und sagte, daß Bruder Rutherford mich gebraucht habe, um sie alle indirekt zu belehren. Und so war es auch. Am nächsten Tag lud Bruder Rutherford, der gern die Schürze umband und kochte, uns alle zu einem besonderen Abendessen ein, das er zubereitet hatte. Alle erfreuten sich an der wunderbaren Gemeinschaft.
Die Jahre während des Zweiten Weltkriegs
Am 1. September 1939 fiel Hitler in Polen ein. Am 3. September, einem Sonntag, erklärte Großbritannien Deutschland den Krieg. In Großbritannien standen an jenem Morgen Tausende im Predigtdienst und boten passenderweise das neue Buch Rettung an. Alle Leute, die wir antrafen, waren erschüttert; einige Frauen weinten. Uns allen ging die Literatur aus, da wir den Menschen aus der Bibel den Trost vermitteln konnten, den sie suchten.
Im nächsten Monat erhielten wir einen Vorabdruck des Wachtturm-Artikels „Neutralität“, der in der Ausgabe vom 1. November 1939 erscheinen sollte. Er legte genau zur rechten Zeit die biblische Haltung wahrer Christen in bezug auf weltliche Konflikte dar (Johannes 17:16). Bald wurden in England Hunderte unserer Brüder und Schwestern festgenommen und eingesperrt.
Der Luftkrieg über Großbritannien, die sogenannte Luftschlacht um England, verstärkte sich Ende 1940 und dauerte bis in das Jahr 1941 an. In London mußten wir 57 aufeinanderfolgende Nächte mit jeweils 14stündigem Bombardement durchstehen. Die Luft war von einem unerträglichen Lärm erfüllt. Überall kam es zu Feuersbrünsten. Im Umkreis von 500 Metern um das Bethel fielen 29 Bomben. Der große Königreichssaal neben dem Bethel wurde von Brandbomben getroffen, doch das Feuer konnte von unseren geschulten Bethelbrüdern schnell unter Kontrolle gebracht werden.
Die Kriegszeit brachte vielfältige Einschränkungen mit sich, einschließlich Nahrungsmittelrationierung und Reisebeschränkungen. Aber wir ließen in unserem Predigtwerk von Haus zu Haus nicht nach, sondern steigerten es sogar noch. Im Jahre 1937 gab es in Großbritannien 4 375 Verkündiger; diese Zahl stieg bis 1942 auf 12 436. Als ich 1937 nach England kam, gab es 201 Pioniere. Im Jahre 1942 waren es 1 488! Jehova hat das damalige Säen der Verkündiger bestimmt reich gesegnet. Heute, über 50 Jahre später, gibt es in Großbritannien über 109 000 Königreichsverkündiger, darunter mehr als 6 000 allgemeine Pioniere.
Mit der Hilfe des Geistes Jehovas schafften wir 1941 etwas, was Regierungsstellen als „unmöglich“ bezeichnet hatten. Wir hielten vom 3. bis 7. September den bis dahin größten Kongreß der Zeugen Jehovas in Großbritannien ab. Über 12 000 Personen kamen mitten im Krieg in Leicester in der De Montfort Hall und auf dem umliegenden Gelände zusammen. Es handelte sich um dieselbe Halle, die 1983 anläßlich der Mitgliederversammlung der Watch Tower Society in Leicester benutzt wurde. Über dreitausend konnten in den Erinnerungen an den Kongreß im Kriegsjahr 1941 schwelgen.
Während des Krieges wurde das Londoner Büro zu einem Flüchtlingszentrum. Ständig klingelte das Telefon. Ein Hilfsfonds wurde eingerichtet, um Brüdern, die ausgebombt worden waren, unverzüglich Hilfe leisten zu können. Auch Brüder, die aus Polen, Deutschland, Norwegen, Frankreich, Belgien, Holland und aus anderen Ländern geflüchtet waren, kamen nach London, wo ihnen eine helfende Hand gereicht wurde. Viele von ihnen nahmen in Großbritannien den Pionierdienst auf.
Zur unerwünschten Person erklärt
Als die Vereinigten Staaten am 8. Dezember 1941 in den Krieg eintraten, verlor ich die Freistellung vom britischen Militärdienst, die mir als amerikanischem Staatsbürger bis dahin gewährt worden war. Wegen meiner christlichen Neutralität konnte ich den Anweisungen der britischen Regierung, die Kriegsanstrengungen zu unterstützen, nicht nachkommen. Am 6. Mai 1942 erklärte mich die britische Regierung daher zur unerwünschten Person und forderte mich auf, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Auf der Titelseite der Londoner Tageszeitung Daily Herald erschien am 1. August 1942 ein Bild von mir und der Artikel „Man hat ihm gesagt: ‚Geh nach Hause‘“.
Eines Morgens, es war Montag, der 24. August 1942, nahmen mich zwei Beamte von Scotland Yard in Abschiebungshaft. Sie brachten mich mit dem Zug nach Glasgow. Dort verbrachte ich die Nacht in dem mittelalterlichen Barlinni-Gefängnis. Am nächsten Tag wurde ich an Bord des britischen Kreuzers S.S. Hilary geleitet, wo ich weiterhin unter Bewachung blieb. Unser Konvoi von 52 Schiffen benötigte 13 Tage für die Überquerung des Atlantiks. Wir fuhren im Zickzackkurs, um deutschen U-Booten auszuweichen. Es gelang uns, ihren Torpedos zu entgehen und sicher nach Halifax (Kanada) zu kommen. Dort wurde ich auf freien Fuß gesetzt. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Zug nach New York, wo ich am 10. September eintraf.
Bemerkenswerte Voraussage einer Friedenszeit
Gern kehrte ich zu den vielen lieben Brüdern im Brooklyner Bethel zurück. Ich war gerade rechtzeitig gekommen, um den bedeutsamen Kongreß zu besuchen, der vom 18. bis 20. September 1942 in Cleveland (Ohio) stattfand. Dort hielt Bruder Knorr, der neue Präsident der Gesellschaft, den Vortrag „Weltfriede — ist er von Bestand?“ Dieser Vortrag enthielt neues Licht über Offenbarung 17:8. Es wurde dargelegt, daß die alliierten Mächte die Oberhand gewinnen würden und daß sich ein neues internationales „Friedenstier“ erheben werde. Das geschah dann auch, als nach Beendigung des Krieges im Jahre 1945 die Vereinten Nationen gegründet wurden.
Wachtturm-Bibelschule Gilead
Nach der jährlichen Mitgliederversammlung der Watch Tower Society am 1. Oktober 1942 rief Bruder Knorr Maxwell G. Friend, Eduardo F. Keller und mich in sein Büro. Er sagte uns, daß an jenem Morgen die Entscheidung getroffen worden sei, auf der Königreichsfarm in der Nähe von South Lansing (New York) eine Bibelschule für Missionare einzurichten. Ich sollte der Registrator sein und als Vorsitzender des Komitees dienen, das die Schule organisierte. Wir arbeiteten zusammen mit Bruder F. W. Franz die vorzüglichen biblischen Kurse aus. Damit begann eine lange Zeit der schönen Zusammenarbeit mit ihm in der Förderung biblischer Bildung.
Am 1. Februar 1943, einem Montag, übergab Bruder Knorr vormittags auf der Königreichsfarm offiziell jene Einrichtung ihrer Bestimmung, die heute als Wachtturm-Bibelschule Gilead bekannt ist. Im Anschluß an das Programm der Bestimmungsübergabe begannen die Schulkurse in den vier Klassenräumen mit jeweils 25 Studenten. Die christlichen Fortbildungskurse dauerten 20 Wochen, und die Bibel war das Hauptlehrbuch.
Glückliche Monate, ja glückliche Jahre des intensiven Bibelstudiums erwiesen sich als mein gesegneter Anteil. Wie die anderen gottergebenen Unterweiser war ich Jehova dankbar für das Vorrecht, die eifrigen Studenten, die Jehova und sein Werk liebten, zu belehren und ihr Herz zu motivieren. Bis 1960 absolvierten 3 700 Studenten aus 70 Ländern die Klassen der Gileadschule.
Eheleben
Als ich im Jahre 1955 die Kongresse „Triumphierendes Königreich“ in Europa besuchte, vertiefte ich meine Freundschaft mit Charlotte Bowin, die 1943 zu den Studenten der ersten Klasse der Gileadschule gehört hatte. Sie diente seit 12 Jahren als treue Missionarin im spanischsprachigen Gebiet, unter anderem in Mexiko und in El Salvador. Nun besuchte sie zusammen mit ihrer Partnerin Julia Clogston die europäischen Kongresse. Charlottes Eltern waren übrigens zu Bruder Russells Zeiten Glieder der Brooklyner Bethelfamilie gewesen, solange sie noch nicht verheiratet waren. Nach der Heirat diente Martin Bowin als reisender Aufseher, bis Charlotte 1920 geboren wurde.
Charlotte trat im Januar 1956 in den Betheldienst ein und wurde auf die Königreichsfarm geschickt. Im August 1956 heirateten wir. Es war für uns ein schwerer Schlag, als Charlotte schwanger wurde, weil wir glaubten, daß damit unser Vollzeitdienst zu Ende wäre. Doch Bruder Franz ermunterte uns mit den Worten: „Es war keine Sünde, den Leib fruchtbar zu machen. Faßt Mut! Vielleicht wird Jehova irgendwie dafür sorgen, daß ihr den Vollzeitdienst fortsetzen könnt.“
Das war dann auch der Fall. Ich konnte im Lehrkörper der Gileadschule verbleiben. Nachdem wir zunächst in einer kleinen Mietwohnung untergekommen waren, zogen wir 1962 in ein neuerbautes Haus, das nur etwa 2 km von der Schule entfernt war. Dort, in South Lansing, verbrachte unser Sohn Judah Ben, der im Februar 1958 geboren wurde, seine frühe Kindheit.
Wir erlebten viele Freuden in Verbindung mit der Erziehung von Judah Ben, da wir uns stets bemühten, biblische Grundsätze anzuwenden (Epheser 6:1-4). Er wurde ermuntert, Micha 6:8 zu befolgen, so wie auch ich mich bemühte, mein Leben nach diesem Text auszurichten. Als Judah später ein Glied der Bethelfamilie wurde, repräsentierte er die dritte Generation von Bethelmitarbeitern aus unserer Familie, und er diente 12 Jahre im Bethel. Im Juni 1986 heiratete er Amber Baker, eine liebe Pionierschwester. Sie stehen jetzt in Michigan im Pionierdienst.
Die Ältestenschule
Auf dem Kongreß, der 1958 im Yankee Stadium stattfand, gab Bruder Knorr die Eröffnung einer neuen Schule für Älteste bekannt, die wir heute als Königreichsdienstschule kennen. Am 9. März 1959 begann die erste Klasse mit 25 Schülern den 4wöchigen Kurs auf der Königreichsfarm, wo gleichzeitig noch die Gileadschule durchgeführt wurde. Als diese im September 1960 nach Brooklyn verlegt wurde, blieb die Königreichsdienstschule auf der Königreichsfarm. Dort konnten jetzt monatlich hundert Älteste geschult werden. Ich stellte fest, daß es sich bei der Belehrung von Familienhäuptern, die die neue Schule besuchten, als vorteilhaft erwies, selbst Vater zu sein.
Die Schule befand sich von 1967 an im Bethel in Brooklyn und von 1968 an in Pittsburgh, wo bis 1974 Tausende von vortrefflichen Ältesten unterrichtet wurden. Von 1974 an erfolgte die Schulung in verschiedenen Königreichssälen in allen Teilen des Landes. Meine Frau und Judah Ben begleiteten mich, wenn ich zu den verschiedenen Orten reiste. Sie dienten als Pioniere, während ich Unterweiser in der Schule war.
Weiterer königlicher Dienst
Als ich im November 1974 in meiner Heimatstadt Saginaw die Königreichsdienstschule leitete, kam ein unvergeßlicher Brief von der leitenden Körperschaft. Ich erhielt die Einladung, ein Glied jener Körperschaft zu werden, und auch meine Frau und Judah Ben sollten Glieder der Brooklyner Bethelfamilie werden. Am 18. Dezember 1974 zogen wir ins Bethel ein, und ich begann, mich meinen neuen Dienstvorrechten zu widmen.
Die leitende Körperschaft arbeitet in jeder Hinsicht gut zusammen, ob es sich um die Leitung der weltweiten Tätigkeit der Zeugen Jehovas handelt oder darum, für die geistige Speise zu unserer fortschreitenden Belehrung zu sorgen, oder um die Aufgabe, rechtliche Entscheidungen zu treffen. Sie kommt jeden Mittwoch zusammen, und die Zusammenkunft beginnt jeweils mit einem Gebet um die Leitung durch den Geist Jehovas. Es werden große Anstrengungen unternommen, jede Angelegenheit so zu behandeln und jede Entscheidung so zu treffen, daß sie in Übereinstimmung mit Gottes Wort, der Bibel, ist.
Als Glied der leitenden Körperschaft werde ich auch als Zonenaufseher ausgesandt, um verschiedene Zweigbüros zu besuchen. Für mich ist es herzerfrischend, mit eigenen Augen die Einheit des Volkes Jehovas in so vielen Ländern zu sehen. Es ist auch eine persönliche Freude, die vielen Gileadmissionare wiederzusehen, die immer noch treu in ihrer Auslandszuteilung dienen. Ganz gleich, in welchem Land Jehovas Zeugen leben, sie gehören zu dem besten und glücklichsten Volk.
Jehova versorgt sein ganzes Volk simultan mit geistiger Speise durch die Zeitschrift Der Wachtturm und durch andere biblische Veröffentlichungen. All das ist ein Beweis, daß Christus Jesus seit 1914 als unser König regiert und daß er uns sicher durch die bevorstehende „große Drangsal“ führen wird. Abschließend möchte ich allen, die noch jung an Jahren sind, empfehlen, eine Karriere im Vollzeitdienst anzustreben. Auch auf euch warten wunderbare Vorrechte (Micha 7:7). Ich freue mich über Jehovas gütige Fürsorge in den vergangenen Jahrzehnten. Sein Segen hat mich wirklich reich gemacht (Sprüche 10:22). Ich bin Jehova jeden Tag dankbar für das Vorrecht, ihm in seiner vom Geist geleiteten Organisation zu dienen (Offenbarung 7:14).
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Mit meinem Partner Bill Elrod
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Mit dem Zug werde ich in das Barlinni-Gefängnis gebracht
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Mit meiner Frau Charlotte