„Jehova ... hat mich in belohnender Weise behandelt“
Von Karl F. Klein erzählt
WELCHE Segnungen doch jemand empfängt, der Jehova kennt und ihm dient! Wenn ich zurückblicke, empfinde ich wie David, der sagte: „Ich will dem Jehova singen, denn er hat mich in belohnender Weise behandelt“ (Psalm 13:6). Das hat er wirklich getan. Zum Beispiel habe ich das Vorrecht, zur Bethelfamilie in der Zentrale der Zeugen Jehovas zu gehören, und ich konnte beobachten, wie diese Familie von 150 bis auf 3 000 Glieder anwuchs. Welch ein Segen!
Doch selbst bevor ich die Wahrheit kennenlernte, behandelte mich Gott in belohnender Weise. Meine Mutter war nicht nur sehr unterwürfig und aufopferungsvoll, sie zitierte auch immer aus der Heiligen Schrift, wenn sie uns als Kinder ermahnte oder zurechtwies. Ich möchte etwas aus diesen frühen Jahren erzählen.
Wir beginnen, in der Wahrheit zu wandeln
Im Frühjahr 1917 kam ich zum ersten Mal mit der biblischen Wahrheit in Berührung; ich fand einen Handzettel, auf dem ein Vortrag über die Hölle angekündigt wurde. Das interessierte mich außerordentlich, denn ich hatte den Eindruck, ich würde alles falsch machen, und so machte ich mir oft darüber Sorgen, ob ich nach meinem Tod in eine feurige Hölle kommen würde. Als ich meiner Mutter den Handzettel zeigte, ermunterte sie mich, zu dem Vortrag zu gehen, indem sie sagte: „Das kann dir nicht schaden, und vielleicht wird es dir sogar guttun.“ Ted, einer meiner jüngeren Brüder, und ich hörten uns den Vortrag der Bibelforscher — wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden — an. Anhand der Heiligen Schrift und durch logische Schlußfolgerungen zeigte der Redner auf eindrucksvolle Weise, daß die Bibel keine Feuerhölle lehrt. All das klang sehr vernünftig. Als ich nach Hause kam, rief ich freudig: „Mama, es gibt keine Hölle! Das weiß ich ganz sicher!“ Sie stimmte mir zu und sagte, die einzige „Hölle“ sei auf der Erde, denn sie hatte viel Leid ertragen müssen.
Für den nächsten Sonntag war ein weiterer Vortrag angekündigt worden, aber niemand hatte uns Buben von zehn beziehungsweise elf Jahren dazu eingeladen. Nachdem wir an jenem Morgen die Sonntagsschule und die Kirche besucht hatten, spielten wir mit den Jungen aus der Nachbarschaft. Doch an diesem Nachmittag schien alles schiefzugehen. Als ich über das lohnende Erlebnis der vorangegangenen Woche nachdachte, sagte ich mir: „Karl, Gott versucht, dir klarzumachen, daß du nicht nur ans Spielen denken solltest. Du solltest dir lieber noch so einen guten biblischen Vortrag anhören.“ Also gingen Ted und ich nochmals zu einem Vortrag, und diesmal sprachen die Bibelforscher mit uns und spornten uns an, am nächsten Sonntag wiederzukommen. Wir waren einverstanden und besuchten von da an immer die christlichen Zusammenkünfte. Wenn ich zurückblicke, erkenne ich deutlich, wie oft Jehova mir sozusagen auf die Finger klopfte, wenn ich etwas tat, was ich nicht hätte tun sollen. Ich mußte lernen, daß es im Leben nicht dies UND das gibt, sondern nur dies ODER das.
Das bisher Geschilderte spielte sich in Blue Island ab, einem Vorort von Chicago (Illinois). (Ich wurde in Südwestdeutschland geboren und war ein sehr kränkliches Kind. Wir wanderten in die Vereinigten Staaten aus, als ich fünf Jahre alt war, und siedelten uns schließlich in Blue Island an.) Dort führten die Bibelforscher auch während der Woche ein Studium durch, das sich auf die Broschüre Die Stiftshütte stützte. Ich begann sogleich, diesem Studium beizuwohnen, und fand es sehr interessant, besonders da der Studienleiter den Stoff anhand eines Modells der Stiftshütte erklärte. Dennoch dauerte es eine Weile, bis ich die Notwendigkeit erkannte, mich entweder für diese Zusammenkünfte oder für die Methodistenkirche zu entscheiden, in der ich erst kurz zuvor konfirmiert worden war.
Da ich noch ein Junge war und meine Eltern ziemlich arm waren, versorgten mich die Bibelforscher großzügig mit allen notwendigen Studienhilfsmitteln. Wie froh ich war, die Wahrheit über die Seele, die Dreieinigkeit, die Millenniumsregierung Christi usw. kennenzulernen! Bald beteiligte ich mich freudig an der Verbreitung der Traktate Der Schriftforscher und Königreichs-Nachrichten. Im Frühjahr 1918 nahm ich die Gelegenheit wahr, mich Jehova zu weihen — wie man damals sagte, wenn sich jemand Gott hingab —, und ließ mich taufen. Dadurch entstand für mich zu Hause kein Problem, denn meine Mutter bekundete Interesse an dem, was ich lernte, und mein Vater, der seit zwanzig Jahren Methodistenprediger war, war zu dieser Zeit sehr oft auf Reisen. Er kam nur drei- oder viermal im Jahr für ein paar Tage nach Hause.
Brüderliche Liebe auf die Probe gestellt
In jenen Jahren sagte man uns: „Lies die sieben Bände der Schriftstudien jedes Jahr durch, wenn du in der Wahrheit bleiben willst.“ Natürlich wollte ich in der Wahrheit bleiben und las daher pflichtgetreu jedes Jahr diese Bände durch, bis ich ins Bethel kam. Das bedeutete, daß ich täglich zehn Seiten lesen mußte, aber das bereitete mir ungeheure Freude, da ich einen unstillbaren Durst nach Erkenntnis hatte.
Kurz nach meiner Taufe im Jahre 1918 wurde meine Loyalität gegenüber anderen Bibelforschern auf die Probe gestellt. Der Erste Weltkrieg wütete, und obgleich die Brüder, die an der Spitze standen, wegen der Kriegsfrage zu Unrecht inhaftiert worden waren, erkannten diejenigen, die damals die Führung innehatten, die Notwendigkeit der christlichen Neutralität nicht völlig. Einige, in deren Augen der Fall klar war, nahmen Anstoß daran, trennten sich von den Bibelforschern und nannten sich die „Feststehenden“. Sie warnten mich davor, daß ich, wenn ich bei den Bibelforschern bliebe, nicht mehr zur „kleinen Herde“ der gesalbten Nachfolger Jesu gehören würde (Lukas 12:32). Mutter half mir, die richtige Entscheidung zu treffen, obwohl sie noch nicht getauft war. Ich konnte mir nicht vorstellen, diejenigen zu verlassen, von denen ich so vieles gelernt hatte, und daher beschloß ich, meinen Brüdern, den Bibelforschern, treu zu bleiben. Das war wirklich eine Prüfung der Loyalität. Seit damals habe ich viele ähnliche Prüfungen der Loyalität beobachtet. Wenn Fehler gemacht werden, benutzen einige, die nicht von ganzem Herzen loyal sind, dies als Entschuldigung dafür, die Gemeinschaft zu verlassen. (Vergleiche Psalm 119:165.)
Der Kongreß der Bibelforscher im Jahre 1922 in Cedar Point war für mich eine große Ermunterung, Jehova weiterhin zu dienen. Dort hörten wir, wie J. F. Rutherford, der damalige Präsident der Watch Tower Society, den aufrüttelnden Ruf ergehen ließ: „Verkündet, verkündet, verkündet den König und sein Königreich.“ Zwar hatte ich mich von Anfang an an verschiedenen Formen des Zeugnisgebens beteiligt, doch bei diesem Kongreß ging ich zum ersten Mal von Haus zu Haus und bot biblische Literatur gegen einen Beitrag an. Das fiel mir sehr schwer.
Daher beteiligte ich mich bis zum Kongreß in Columbus (Ohio) im Jahre 1924 nicht mehr am Zeugnisgeben von Haus zu Haus. Doch von da an führte zumindest einer in unserer Ortsversammlung regelmäßig diese Tätigkeit durch. Ich erkannte, wie wichtig dieser Dienst ist, und zwar nicht nur um des Predigens der guten Botschaft vom Königreich willen, sondern auch, weil er uns hilft, unseren Glauben zu stärken und all die anderen Früchte des Geistes zu entwickeln (Galater 5:22, 23). Daß die regelmäßige Teilnahme am Predigtdienst in vielerlei Hinsicht lohnend ist, steht außer Frage.
„Im Bethel will ich leben“
Das Versammlungsgeschehen lief damals etwas anders ab als heute. Noch als Jugendlicher wurde ich zum Ältesten gewählt, leitete das Versammlungsbuchstudium, sorgte für Vortragsredner aus Chicago und kümmerte mich darum, daß diese Vorträge sowohl in der Tageszeitung als auch durch Handzettel angekündigt wurden. Nach dem Kongreß in Columbus (Ohio) im Jahre 1924 sah ich meinen Weg deutlich vor mir und bewarb mich um den Dienst in der Weltzentrale des Volkes Jehovas. Schon seit langem war der Betheldienst mein Herzenswunsch gewesen, doch aufgrund einer plötzlichen Änderung der häuslichen Verhältnisse schien es, als sei es in meinem Fall nicht der Wille Jehovas. Aber diese Situation bestand nur vorübergehend, und am 23. März 1925 trat ich doch ins Bethel ein.
Ich freute mich so sehr, daß ich in einem Brief an meine Angehörigen den Text des Liedes „Dixie“ folgendermaßen umschrieb: „Im Bethel will ich leben und will sterben nur im Bethel!“ Heute, nach neunundfünfzig Jahren, denke ich immer noch so über das Bethel. Rückblickend scheint es mir angebracht, zu erzählen, wie Jehova immer wieder mit mir gehandelt hat. Immer erst dann, wenn ich mich damit abgefunden hatte, etwas sehr Begehrtes nicht zu erhalten, weil es anscheinend nicht dem Willen Gottes entsprach, wurde es mir zuteil. Das erinnerte mich an Abraham, der geprüft wurde, ob er bereit wäre, seinen Sohn hinzugeben, ‘den er so liebte’ (1. Mose 22:2).
Im Bethel war meine erste Zuteilung die Setzerei (Concord Street 18, Brooklyn, New York). Bald darauf bekam ich einen Arbeitsplatz im Kellergeschoß, wo ich bei der Bedienung des „alten Schlachtschiffes“ mithelfen sollte, wie die einzige Rotationsdruckmaschine der Gesellschaft damals liebevoll genannt wurde. Wir druckten damit Millionen von Traktaten. Zu jener Zeit hatten unsere beiden Zeitschriften eine Auflage von je 30 000 Exemplaren. Heute hat Der Wachtturm eine durchschnittliche Auflage von 10 200 000 Exemplaren und Erwachet! 8 900 000.
Als Junge hatte ich zwei Jahre lang Geigenunterricht gehabt. Kaum war ich im Bethel, meldete ich mich daher freiwillig für das Orchester, das an zwei Abenden in der Woche übte und dessen musikalische Darbietungen am Sonntagmorgen über WBBR, die Radiostation der Gesellschaft, gesendet wurden. Ich erfuhr, daß ein Cellist benötigt wurde, und so kaufte ich mir ein Cello und begann, Unterricht zu nehmen.a Im Jahre 1927 wurden zehn von uns eingeladen, ganztags auf Staten Island, wo sich die Station der Gesellschaft befand, zu spielen. Das war der Anfang meiner Vorrechte in musikalischer Hinsicht, die mir die Jahre hindurch erhalten geblieben sind.
„Karl, paß auf!“
Wie sehr liebte ich doch die Musik! Ihr einen Großteil meiner Zeit zu widmen war in der Tat eine Belohnung. Während ich auf Staten Island diente, hatte ich das außergewöhnliche Vorrecht, J. F. Rutherford, den damaligen Präsidenten der Watch Tower Society, besser kennenzulernen. Das lag daran, daß er jede Woche einige Tage in dieser friedlichen Umgebung zubrachte, die dem Schreiben überaus förderlich war — und er schrieb eine Menge!
Bruder Rutherford war wie ein verständnisvoller, liebender Vater zu mir, obschon er wiederholt Ursache hatte, mich zu tadeln, weil ich eine Regel verletzt hatte. Ich erinnere mich besonders daran, daß er mir einmal einen scharfen Tadel erteilte. Als er mich das nächste Mal sah, sagte er fröhlich: „Hallo, Karl!“ Doch da ich mich noch gekränkt fühlte, murmelte ich nur einen Gruß. Er entgegnete: „Karl, paß auf! Der Teufel ist hinter dir her!“ Ich antwortete verlegen: „Es ist alles in Ordnung, Bruder Rutherford.“ Aber er wußte es besser und wiederholte daher seine Warnung: „Dann ist es ja gut. Aber paß auf! Der Teufel ist hinter dir her.“ Wie recht er hatte! Wenn wir gegen einen Bruder Groll hegen, weil er uns etwas gesagt hat, wozu er ein Recht hatte und sogar verpflichtet war, laufen wir Gefahr, in die Fallstricke des Teufels zu geraten (Epheser 4:25-27).
Aufgrund eines Mißverständnisses wurde Bruder Rutherford einmal fälschlicherweise berichtet, ich hätte eine sehr kritische Bemerkung über ihn geäußert. Anstatt jedoch ungehalten zu sein, erwiderte er: „Nun, Karl redet eine Menge, und er sagt manchmal Dinge, die er nicht so meint.“ Welch ausgezeichnetes Beispiel für uns alle, falls wir einmal hören, daß jemand wenig schmeichelhafte Äußerungen über uns gemacht hat! Ja, Bruder Rutherford war großmütig und sehr verständnisvoll. Dies merkte ich einerseits daran, daß er in meinem Fall wiederholt Ausnahmen machte, wenn ungewöhnliche Umstände dies angebracht erscheinen ließen, und andererseits daran, daß er sich entschuldigte — und das kam nicht nur einmal vor —, wenn er mich gedankenlos gekränkt hatte.b Ich denke auch an Bruder Rutherfords Gebete bei der morgendlichen Anbetung, durch die er ebenfalls meine Zuneigung gewann. Er hatte zwar eine außerordentlich kraftvolle Stimme, doch wenn er sich im Gebet an Gott wandte, klangen seine Worte, als spräche ein kleiner Junge mit seinem Vater. Welch wunderbares Verhältnis zu Jehova dies offenbarte! Daß ein Mann von solch geistiger Größe die Führung innehatte, stärkte meinen Glauben, und ich dachte, so müsse es ja auch in Jehovas Organisation sein.
Zurück nach Brooklyn
Das Orchester blieb nur zweieinhalb Jahre auf Staten Island. Danach kam es nach Brooklyn, wo ein neues Studio eingerichtet worden war. Nachdem ich zehn weitere Jahre im Orchester gespielt hatte, wurde es aufgelöst, und ich arbeitete wieder in der Fabrik, zuerst in der Buchbinderei und später an den Druckpressen. Bald darauf kam ich jedoch in die Dienstabteilung, wo ich einige Jahre lang das Vorrecht hatte, mich der etwa 1 250 Sonderpioniere anzunehmen, indem ich ihnen Gebiete zuteilte, ihre Briefe beantwortete usw. Ich durfte außerdem jeden Monat den Predigtdienstbericht für die Vereinigten Staaten und einige andere Länder zusammenstellen. Zu diesen Segnungen kam noch hinzu, daß ich ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Bruder T. J. Sullivan hatte, der damals der Aufseher der Dienstabteilung war. Während der Zeit, in der ich dort arbeitete, stieg die Zahl der Königreichsverkündiger in der ganzen Welt von 100 000 auf fast 375 000. Welch eine Freude, zu sehen, daß sich die Zahl der Zeugen Jehovas seit damals versiebenfacht hat — auf über zweieinhalb Millionen!
Als N. H. Knorr Präsident wurde, freute ich mich darüber, daß mehr Nachdruck darauf gelegt wurde, jeden Zeugen Jehovas zu einem befähigten Diener Gottes zu machen, der in der Lage ist, an den Türen Predigten zu halten. Zu jener Zeit wurden die Brüder auch geschult, öffentliche Vorträge zu halten. Die Eröffnung der Wachtturm-Bibelschule Gilead war für mich von besonderem Interesse, denn mein Bruder Ted (der mich zu unserem ersten Vortrag der Bibelforscher begleitet hatte und seit 1931 im Pionierdienst stand) besuchte die erste Klasse.c
Eine neue Zuteilung
Eines Tages im Frühjahr 1950 rief Bruder Knorr mich und einen anderen Bruder in sein Büro und fragte uns, ob wir gern in der Schreibabteilung dienen würden. Als ich erwiderte, es sei mir gleich, wo ich diente, wies er mich zurecht, indem er sagte, daß man ein zusätzliches Dienstvorrecht bereitwillig annehmen sollte. In Wirklichkeit war meine Reaktion auf meinen bedenklichen Gesundheitszustand zurückzuführen, der schon immer ein Problem für mich war, so daß ich auf meine Ernährung achten mußte und darauf, daß ich genügend Bewegung hatte. Nichts hätte mir mehr zusagen können, als meine ganze Zeit Nachforschungen und dem Schreiben von Artikeln zu widmen, besonders über biblische Themen. Ich wußte aber, daß diese Arbeit nicht leicht ist. Einmal sprach Bruder Knorr mit mir über die Schreibabteilung und sagte: „Hier wird die wichtigste und schwierigste Arbeit geleistet.“
Im Jahre 1951 erlebten einige aus dem Brooklyner Bethel ein großes geistiges Festmahl auf dem Kongreß „Reine Anbetung“ in London. Nachdem wir anschließend dem Kongreß in Paris beigewohnt hatten, besuchte ein Teil der Gruppe verschiedene andere Zweige der Gesellschaft, auch das Zweigbüro in Wiesbaden. Dort traf ich zum ersten Mal Gretel Naggert, die zwölf Jahre später einwilligte, Schwester Klein zu werden. Nachdem ich achtunddreißig Jahre lang als Lediger im Bethel gedient hatte, dachte ich mir, daß es mir mit ihr als Ehegefährtin bessergehen werde. Seit ich verheiratet bin, stimme ich Salomo zu, der sagte: „Hat jemand eine gute Ehefrau gefunden? Er hat Gutes gefunden, und er erlangt Wohlwollen von Jehova“ (Sprüche 18:22). Auch darin hat mich Jehova in belohnender Weise behandelt, denn Gretel ist mir in vieler Hinsicht eine große Hilfe.d
Bruder Knorr — ein älterer Bruder
Mein Verhältnis zu Bruder Rutherford war wie das eines Sohnes zu einem liebevollen Vater gewesen. Doch da Bruder Knorr nur einige Monate älter war als ich, hatten wir eher ein brüderliches Verhältnis zueinander — wobei der ältere Bruder geneigt war, den Unzulänglichkeiten des jüngeren mit Unduldsamkeit zu begegnen. Gretel reagierte angesichts solcher Meinungsverschiedenheiten sehr philosophisch. „Schließlich kann man nicht erwarten“, sagte sie, „daß ein tüchtiger Direktor eines Unternehmens und ein überaus romantischer Musiker immer miteinander übereinstimmen.“ Damit diese Bemerkung aber nicht mißverstanden wird, sollte ich hinzufügen, daß Bruder Knorr mein Lieblingsredner war. Einmal bezeichnete er mich als seinen Schatten, weil ich überall auftauchte, wo er Ansprachen hielt. Darüber hinaus liebte er wie ich die Musik und führte bei unseren Versammlungszusammenkünften das Singen wieder ein. Er hatte großes Interesse an der Veröffentlichung von Liederbüchern (Epheser 5:18-20).
Wieder konnte ich erkennen, daß Jehova den richtigen Mann erwählt hatte, sein Werk auf der Erde zu leiten, denn Bruder Knorr war ein hervorragender Organisator. Insbesondere erkannte er, wie wichtig die richtige Schulung ist. Er sorgte deshalb dafür, daß die Theokratische Predigtdienstschule eingeführt wurde sowie die Missionarschule Gilead, die Königreichsdienstschule und die Betheleinführungsschule.
All das erinnert mich an eine Feststellung des Zweigkoordinators von England. Er beobachtete bei Bruder Knorr die vorzügliche Eigenschaft, sich nicht von jemandes Persönlichkeit beeinflussen zu lassen, wenn er organisatorische Ernennungen vornahm. Das ist eine Tatsache, denn sonst hätte ich niemals all die Vorrechte erhalten, die er mir in Verbindung mit Kongressen, der Musik, dem Schreiben usw. zukommen ließ. In dieser Hinsicht war Bruder Knorr ein guter Nachahmer Jesu Christi. Wieso? Nun, wen liebte Jesus besonders? Johannes. Doch wem vertraute er „die Schlüssel des Königreiches“ an? Petrus, obwohl dieser Apostel ein impulsives Wesen hatte (Matthäus 16:18, 19; Johannes 21:20).
In welch belohnender Weise mich doch Jehova behandelte, und das trotz meiner Schwächen und Unzulänglichkeiten! Und wenngleich ich beinahe fünfzig Jahre lang sehr begünstigt worden war, stand mir das größte Vorrecht noch bevor. Im November 1974 wurde ich eingeladen, ein Glied der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas zu werden. Diese Einladung überwältigte mich dermaßen, daß ich ermuntert werden mußte, sie anzunehmen. Unter anderem hob man hervor, daß außer mir eine ansehnliche Anzahl anderer Brüder eingeladen worden waren. Es kamen sieben hinzu, wodurch sich die Zahl der Glieder der leitenden Körperschaft von elf auf achtzehn erhöhte.
Derjenige, der mich ermunterte, diese neue Zuteilung anzunehmen, war Frederick W. Franz, der im Jahre 1977 Bruder Knorr als Präsident der Gesellschaft nachfolgte. Seit ich im Bethel bin, fühle ich mich wegen seiner biblischen Erkenntnis und seiner freundlichen Art zu ihm hingezogen. Früher besuchten wir gemeinsam die deutschen Gebets-, Lobpreisungs- und Zeugnis-Versammlungen. Eine Reihe meiner theokratischen Meilensteine stehen mit ihm in Verbindung, zum Beispiel, daß ich ihn mit meinem Bruder und dessen Frau begleitete, als er die Brüder in der Dominikanischen Republik besuchte, die unter Verbot standen. Noch nie ist mir christliche Liebe auf solch herzliche und aufrichtige Weise begegnet. Es bedeutete unseren Glaubensbrüdern sehr viel, daß wir es, um sie zu besuchen, riskiert hatten, durch Trujillo in Schwierigkeiten zu kommen.
In späteren Jahren besuchten Bruder Franz, meine Frau und ich zusammen mit einigen anderen, zu denen auch A. D. Schroeder gehörte, die Länder der Bibel und eine Anzahl südamerikanischer Länder, darunter Bolivien, wo Gretel neun Jahre lang als Missionarin gedient hatte. Mit Bruder Franz zu reisen brachte ausnahmslos zusätzliche Dienstvorrechte mit sich, denn er bestand darauf, daß auch seine Begleiter die Bühne betraten. Vor nicht allzu langer Zeit besuchten wir gemeinsam Kongresse in Europa und Zentralamerika. Wenn ich zurückblicke, scheint es, daß Bruder Franz immer als ein ausgleichender Faktor in meinem Leben diente. Auf unserer Reise in die Länder der Bibel bekam zum Beispiel ein Bruder aus unserer Gruppe Ärger mit der Polizei, weil er unerlaubterweise fotografierte. Dadurch kam es zu Verzögerungen. Ich brachte darüber meinen heftigen Unwillen zum Ausdruck, doch Bruder Franz lächelte nur und sagte: „Ich denke, er wird eine Lehre daraus ziehen.“ Und genauso war es! Zweifellos hat mich Jehova auch durch meine Verbindung zu Bruder Franz in belohnender Weise behandelt.
Es ging nicht immer alles glatt
Ich darf nicht unerwähnt lassen, daß mich Jehova ebenfalls in bezug auf die mir zugeteilte Arbeit in belohnender Weise behandelt hat. Oft erwies sich ein Projekt aufgrund irgendwelcher Umstände, auf die ich keinen Einfluß hatte, als besonders gut. (Vergleiche Psalm 127:1; 1. Korinther 3:7.) Das habe ich auch in organisatorischer Hinsicht häufig beobachtet. Zum Beispiel kaufte die Gesellschaft vor etwa vierzig Jahren ein Gebäude in der Willow Street als Garage. Hätten wir es nicht besessen, so hätten wir nicht den unterirdischen Gang bauen können, der das Towers-Gebäude mit dem übrigen Bethelkomplex verbindet. Als wir mehr Wohnraum benötigten, konnten wir das Towers-Hotel erwerben. Dann waren weitere Büroräume erforderlich, und es war uns möglich, die Squibb-Gebäude zu kaufen. Diese Gebäude sind vom Bethel aus zu Fuß zu erreichen. Viele ähnliche Situationen, die der Organisation Jehovas zum Segen gereichten, ergaben sich auch in anderen Ländern.
Wegen ererbter Schwächen und aufgrund meines impulsiven Wesens mußte ich in meinem Leben viele Prüfungen und Leiden durchmachen. Nach neun Jahren Betheldienst erlitt ich einen Nervenzusammenbruch. Zu jener Zeit gereichten mir die Worte aus Psalm 103 und aus Römer 7:15-25 wirklich zum Trost. Außerdem hatte ich mehr als genug Unfälle, bei denen ich mir zum Beispiel die Kniescheibe brach und mir eine Wirbelsäulenfraktur zuzog. Zufolge meiner eigenen Schwächen und derjenigen anderer ging in meinem Leben nicht immer alles glatt. Doch mit der Hilfe Jehovas habe ich erkannt, daß, wenn er etwas zuläßt, ich es auch ertragen kann, wie aus 1. Korinther 10:13 hervorgeht. Außerdem kann ich sagen: Je weniger ich für mich selbst lebe, um so mehr kann ich anderen geben. Eine der Lektionen, die ich lernen mußte, war, ‘gegenüber dem Gott meiner Rettung eine wartende Haltung zu bekunden’ und bereit zu sein, mich als „ein Geringerer“ zu benehmen (Micha 7:7; Lukas 9:48).
Dann hatte ich auch wiederholt Ursache, so zu empfinden wie David nach seinem Erlebnis mit Nabal (1. Samuel 25:2-34). Er war Jehova und Abigail dafür dankbar, daß sie ihn davon abgehalten hatten, die gesamte Hausgemeinschaft Nabals zu töten und dadurch Blutschuld auf sich zu laden. Ja, Jehova hielt mich davon zurück, ernsthafte Fehler zu begehen. Dies geschah durch seine Engel, seine Voraussicht und die Hilfe, die mir nicht nur durch reife Brüder, sondern auch durch ebenso viele gute christliche „Abigails“ zuteil wurde. Ich bin Jehova dafür dankbar, daß sich mir, wenn ich geistig schwach war, nicht die Gelegenheit bot, einer Versuchung zu erliegen, und daß ich, wenn die Gelegenheit da war, in geistiger Hinsicht stark genug war, der Versuchung zu widerstehen. Mit anderen Worten: Die Neigung, Unrecht zu tun, und die Gelegenheit dazu trafen nie zusammen, denn Jehova wußte, daß ich im Herzen immer das Rechte zu tun wünschte. Wie dankbar bin ich, daß Jehova nicht auf Vergehungen achtet! (Psalm 130:3).
Auch möchte ich nicht übersehen, in welch belohnender Weise Jehova mich und andere behandelt hat, indem er all die Jahre für hervorragende geistige Speise gesorgt hat (Matthäus 24:45-47). Es besteht kein Zweifel, daß für die Gerechten das Licht immer heller aufstrahlt (Psalm 97:11). Ich möchte nur einige der vielen vorzüglichen Wahrheiten aufzählen, die Jehovas Volk allmählich verstanden hat, seitdem ich begann, die „Milch, die zum Wort gehört“, zu mir zu nehmen: die Unterscheidung zwischen Gottes Organisation und Satans Organisation; die Tatsache, daß Jehovas Rechtfertigung wichtiger ist als die Rettung von Geschöpfen; daß die Wiederherstellungsprophezeiungen für das geistige Israel gelten; daß der christliche Wandel und die Predigttätigkeit von gleicher Wichtigkeit sind und daß schwache und unvollkommene Geschöpfe wie wir das Herz unseres Gottes fröhlich machen können, dessen einzigartigen Namen wir als Jehovas Zeugen tragen dürfen (1. Petrus 2:2; Sprüche 27:11; Jesaja 43:10-12).
Kann ich nicht zu Recht Jehova, unserem Gott, singen, da er mich in so belohnender Weise behandelt hat? Bestimmt habe ich Grund dazu!
[Fußnoten]
a Carey Barber spielte in diesem Orchester die zweite Geige. Keiner von uns beiden ahnte damals, daß wir achtundfünfzig Jahre später immer noch im gleichen „Orchester“ wären, aber eine andere Art von Musik machen würden. Der Wachtturm vom 15. November 1982 enthält C. Barbers Lebensbericht.
b Hinsichtlich seiner irrigen Feststellungen in bezug auf das, was wir im Jahre 1925 erwarten könnten, sagte er einmal vor uns allen im Bethel: „Ich habe mich lächerlich gemacht.“
c Sein Lebensbericht erschien im Wachtturm vom 1. August 1957, Seite 457—459.
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Das WBBR-Orchester im Jahre 1926, darunter K. F. Klein und C. W. Barber
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J. F. Rutherford war wie ein Vater zu mir
[Bild auf Seite 26]
Auch in Verbindung mit Gretel, meiner Frau, hat mich Jehova in belohnender Weise behandelt
[Bild auf Seite 27]
N. H. Knorr war wie ein älterer Bruder
[Bild auf Seite 28]
F. W. Franz war mir ein wahrer Freund und diente als ausgleichender Faktor in meinem Leben