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  • Ukraine
  • Jahrbuch der Zeugen Jehovas 2002
  • Zwischentitel
  • Wahrheitssamen in der Ukraine ausgestreut
  • Der erste Samen geht auf
  • Anfänge des Predigtdienstes
  • Die ersten Kongresse
  • Der Bau von Anbetungsstätten
  • Entwicklung der Übersetzungstätigkeit
  • Hilfe in geistiger Hinsicht trifft ein
  • Gott zieht alle Arten von Menschen
  • Ein Lichtstrahl in der Ostukraine
  • Zeit schwerer Prüfungen
  • Auf dem Schlachtfeld geht Samen auf
  • Wachstum auf fruchtbarem Boden in Konzentrationslagern
  • Prüfungen während des Krieges
  • Vorübergehende Erleichterung
  • Erneut Verfolgung
  • Zeugnisgeben vor Gericht
  • Verfolgung von Schwestern in der Ukraine
  • Hilfe für die Brüder in Moldawien
  • Gesetzliche Registrierung in der UdSSR angestrebt
  • Geistliche leisten den Behörden Beihilfe
  • Deportation nach Russland
  • Die Einheit bleibt
  • Die Lage bessert sich
  • Die Liebe versagt nie
  • Ein außergewöhnlich beispielhafter Glaube
  • Vorübergehend gespalten
  • Rückkehr zu theokratischer Organisation
  • In Gefangenenlagern treu bleiben
  • Hilfe, um ausharren zu können
  • „Dienste“ von Gefängniswärtern
  • Anhaltende Einigungsbestrebungen
  • Christliches Leben trotz Verbot
  • Gedächtnismahlfeiern
  • Versteckte Literatur
  • Unterirdische Vervielfältigungsstätten
  • Der Wert elterlicher Erziehung
  • Eine Änderung zum Guten
  • Standhaft trotz Drucks
  • Organisatorische Verbesserungen und Änderungen
  • Jehovas Schutz bei Durchsuchungen
  • Staatssicherheitsdienst veranstaltet „Missionsreisen“
  • Die letzten Jahre unter Verbot
  • Sieg der Theokratie
  • Kongress in Warschau
  • Endlich Religionsfreiheit!
  • Auf gutem Boden wächst reichlich Frucht
  • Bezirkskongresse
  • Herausragender internationaler Kongress
  • Förderung des Fortschritts
  • Geistige Hilfestellung
  • Dankbar für biblische Literatur
  • Gute Schulung beschleunigt die Mehrung
  • Schnelles Wachstum bringt Veränderungen mit sich
  • Ein neues Zweigbüro und mehr Königreichssäle
  • Voran im Erntewerk!
Jahrbuch der Zeugen Jehovas 2002
yb02 S. 118-255

Ukraine

Jesus sprach in einem Gleichnis von Samen, der auf vortrefflichen Boden gesät wurde, und beschrieb damit Personen, die tiefe Wertschätzung für das Wort Gottes entwickeln. Sie ‘tragen mit Ausharren Frucht’, indem sie treu fortfahren, die Botschaft Gottes trotz Not und Leid zu verkündigen (Luk. 8:11, 13, 15). Nur in wenigen Ländern auf der Erde war dies deutlicher zu sehen als in der Ukraine, wo Jehovas Zeugen über 50 Jahre verboten waren, schwere Verfolgung erlitten und trotzdem überlebten und an Zahl zunahmen.

Im Dienstjahr 2001 hatte das Land eine Höchstzahl von 120 028 Verkündigern. Über 56 000 von ihnen lernten erst in den letzten fünf Jahren die biblische Wahrheit kennen. In den letzten zwei Jahren haben die Brüder mehr als 50 Millionen Zeitschriften abgegeben, so viele wie die Bevölkerung des Landes zählt. Im Zweigbüro gehen jeden Monat durchschnittlich tausend Briefe interessierter Personen ein, die um weitere Auskünfte bitten. All das wäre in nicht allzu ferner Vergangenheit noch undenkbar gewesen. Welch ein Siegeszug der reinen Anbetung!

Bevor wir die Seiten der ukrainischen Geschichte umblättern, wollen wir uns mit dem Land selbst befassen. Außer dem Boden, von dem Jesus in übertragenem Sinn sprach, besitzt die Ukraine vorzüglichen buchstäblichen Boden. Fast die Hälfte des Landes ist mit fetter, schwarzer Erde bedeckt; die Ukrainer nennen sie Tschernosjom, was „Schwarzerde“ bedeutet. Diesem Löss sowie dem gemäßigten Klima verdankt die Ukraine, dass sie eine der ertragreichsten landwirtschaftlichen Regionen der Erde ist. Angebaut werden unter anderem Zuckerrüben, Weizen, Gerste und Mais. Von jeher gilt die Ukraine als Kornkammer Europas.

Die Ukraine misst von Osten nach Westen 1 300 Kilometer und von Norden nach Süden 900 Kilometer und ist damit ein wenig größer als Frankreich. Wie auf der Karte auf Seite 123 zu sehen ist, liegt das osteuropäische Land an der Nordseite des Schwarzen Meeres. Den Norden der Ukraine schmücken schöne Wälder. Im Süden liegen fruchtbare Ebenen, an die sich das Krimgebirge anschließt. Im Westen gehen die Hügel in die hohen Berge der Karpaten über, in denen Luchs, Bär und Wisent zu Hause sind.

In der Ukraine leben etwa 50 Millionen Menschen. Es sind einfache, freundliche und arbeitsame Leute. Viele sprechen sowohl Ukrainisch als auch Russisch. Wird man zu ihnen eingeladen, kommen wahrscheinlich Borschtsch und Varenyki (gefüllte Teigtaschen) auf den Tisch. Nach der angenehmen Mahlzeit wird man vielleicht mit Volksliedern unterhalten, denn in der Ukraine singt und musiziert man gern.

Die ukrainische Bevölkerung kam mit vielfältigen Glaubensansichten in Berührung. Im 10. Jahrhundert wurde die orthodoxe Religion eingeführt. Später gelangte mit dem Osmanischen Reich der Islam in die Südukraine. Ferner verbreiteten polnische Edelleute im Mittelalter den Katholizismus. Unter der kommunistischen Herrschaft wandten sich dann im 20. Jahrhundert viele dem Atheismus zu.

Überall im Land anzutreffen sind Jehovas Zeugen.Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten jedoch die meisten von ihnen in der Westukraine, die in vier Gebiete aufgegliedert war: Wolhynien, Galizien, Transkarpatien und die Bukowina.

Wahrheitssamen in der Ukraine ausgestreut

Die Bibelforscher, wie Jehovas Zeugen einst genannt wurden, sind in der Ukraine seit über 100 Jahren tätig. C. T. Russell, ein leitender Bibelforscher, besuchte auf seiner ersten Auslandsreise im Jahre 1891 viele Länder in Europa und im Nahen Osten. Auf dem Weg ins türkische Konstantinopel besuchte er Odessa im Süden der Ukraine. Später, im Jahre 1911, hielt er eine Reihe biblischer Vorträge in europäischen Großstädten, unter anderem in Lwiw im Westen der Ukraine.

Bruder Russell kam mit dem Zug in Lwiw an, wo man einen großen Saal, der als „Haus des Volkes“ bekannt war, für seinen Vortrag am 24. März gemietet hatte. In neun Anzeigen von sieben Lokalzeitungen sowie durch große Plakate wurde zu dem Vortrag des „berühmten und ehrenwerten Redners aus New York, Pastor Russell“ eingeladen. Das Thema lautete: „Zionismus in der Prophezeiung“. Es war vorgesehen, dass Bruder Russell diesen Vortrag an jenem Tag zweimal hielt. Ein jüdischer Rabbiner in den Vereinigten Staaten, ein verbissener Gegner des Werkes von Russell, telegrafierte jedoch seinen Kollegen in Lwiw und rückte die Bibelforscher in ein schlechtes Licht. Dadurch ließen sich einige dazu anstacheln, Bruder Russell am Reden zu hindern.

Der Saal war zwar am Nachmittag und am Abend voll besetzt, aber es waren auch Gegner anwesend. Eine Ortszeitung, die polnische Wiek Nowy, berichtete: „Als Russells Dolmetscher die ersten Worte äußerte, protestierten die Zionisten lautstark und hinderten den Missionar durch ihr Geschrei und durch ihre Pfiffe am Reden. Russell musste das Podium verlassen. ... Die Demonstration war beim Vortrag um acht Uhr an jenem Abend sogar noch größer.“

Viele wollten jedoch hören, was Bruder Russell zu sagen hatte. Sie waren an seiner Botschaft interessiert und baten um biblische Literatur. Später kommentierte Bruder Russell seinen Besuch in Lwiw wie folgt: „Gott allein kennt seine Vorsehung in Verbindung mit diesem Erlebnis. ... Die Aufregung der Juden über das Thema könnte zu tieferen Nachforschungen führen, als wenn sie uns ordentlich und gesittet zugehört hätten.“ Auf die Botschaft folgte zwar kein unmittelbares Echo, aber der Samen der Wahrheit war ausgestreut worden. Später wurden viele Bibelforschergruppen gegründet, und das nicht nur in Lwiw, sondern auch in anderen Gebieten der Ukraine.

Im Jahre 1912 setzte das Büro der Bibelforscher in Deutschland eine große Anzeige in einen Kalender, der in der Ukraine verbreitet wurde. Darin wurde angeregt, die deutschen Bände der Schriftstudien zu lesen. Daraufhin gingen im Büro in Deutschland ungefähr 50 Briefe aus der Ukraine ein, in denen um die Schriftstudien und um Abonnements auf den Wachtturm gebeten wurde. Das Büro blieb mit diesen interessierten Personen bis zum Ausbruch des Krieges im Jahre 1914 in Verbindung.

Nach dem Ersten Weltkrieg teilten vier Nachbarländer die Ukraine unter sich auf. Das kommunistische Russland verleibte sich die Mittel- und Ostukraine ein und fügte das Gebiet der Sowjetunion hinzu. Die Westukraine teilten sich drei andere Länder. Galizien und Wolhynien wurden von Polen annektiert, die Bukowina von Rumänien und Transkarpatien von der Tschechoslowakei. In diesen drei Ländern herrschte eine gewisse Religionsfreiheit, und die Bibelforscher durften ihr Predigen fortsetzen. Auf diese Weise wurde zuerst im Westen der Ukraine Wahrheitssamen ausgestreut, der später Frucht tragen sollte.

Der erste Samen geht auf

Anfang des 20. Jahrhunderts wanderten viele Familien auf der Suche nach einem besseren Leben aus der Ukraine in die Vereinigten Staaten aus. Einige lasen unsere biblischen Veröffentlichungen und sandten diese an ihre Verwandten in der Ukraine. Andere Familien lernten die Lehren der Bibelforscher kennen, kehrten nach Hause zurück und begannen, in ihren Heimatdörfern zu predigen. Es entstanden mehrere Bibelforschergruppen, und später entwickelten sich daraus Versammlungen. Anfang der 1920er Jahre streuten Bibelforscher aus Polen Samen in Galizien und Wolhynien aus. Gleichzeitig brachten Brüder aus Gebieten des heutigen Rumänien und Moldawien die Wahrheit in die Bukowina.

Das erwies sich als eine gute Grundlage für weiteres Wachstum. Im Wachtturm vom 15. Dezember 1921 (deutsch: März 1922) wurde berichtet: „Kürzlich besuchten einige unserer Brüder die Bukowina ... Das Resultat ihres Besuches dort während einiger Wochen ist, dass sieben Klassen eingerichtet wurden, die nun die Bände und Die Stiftshütte studieren. Eine dieser Klassen hat über 70 Glieder.“ 1922 nahm Stepan Kolza aus der Ortschaft Kolinkiwzi in der Bukowina die Wahrheit an, ließ sich taufen und predigte fortan. Soweit bekannt ist, war er der erste Bruder in der Ukraine, der sich taufen ließ. Später folgten ihm 10 Familien. Ein ähnliches Wachstum stellte sich in Transkarpatien ein. 1925 gab es in dem Dorf Weliki Lutschki und in benachbarten Ortschaften bereits rund 100 Bibelforscher. Danach begannen die ersten Vollzeitdiener in Transkarpatien zu predigen und in den Wohnungen der Bibelforscher Zusammenkünfte abzuhalten. Viele ließen sich taufen.

Alexei Dawidjuk, ein langjähriger Zeuge, schildert, wie die Menschen damals mit der Wahrheit bekannt wurden. Er sagt: „1927 nahm ein Dorfbewohner eines unserer Bücher in das Dorf Lankowe in Wolhynien mit. Nachdem einige Dorfbewohner es gelesen hatten, wollten sie mehr über die Lehren von der Feuerhölle und der Seele wissen. Da in dem Buch die Adresse des polnischen Büros der Bibelforscher in Lodz stand, baten die Dorfbewohner brieflich darum, dass jemand ihr Dorf besuche. Einen Monat später machte sich ein Bruder auf und organisierte eine Bibelstudiengruppe. 15 Familien schlossen sich dieser Gruppe an.“

Eine solche Begeisterung für die Wahrheit war in den Anfangsjahren üblich. Man denke nur an folgende Dankesworte aus einem Brief aus Galizien an das Hauptbüro der Bibelforscher in Brooklyn: „Die von Ihnen veröffentlichten Bücher heilen viele Wunden unseres Volkes und führen es ans Tageslicht. Daher bitte ich Sie, uns mehr von diesen Büchern zu senden.“ Eine andere interessierte Person schrieb: „Ich entschloss mich, Sie zu bitten, uns Literatur zu senden, weil sie hier nicht zu bekommen ist. Ein Mann aus unserem Dorf erhielt einige Ihrer Bücher, aber die Nachbarn rissen sie ihm aus den Händen. Er konnte sie vorher nicht einmal lesen. Jetzt sucht er die Dorfbewohner auf, um seine Bücher wiederzubekommen.“

Ein solch reges Interesse führte dazu, dass in Lwiw in der Pekarska ein Büro der Bibelforscher eröffnet wurde. Das Büro erhielt viele Literaturbestellungen aus Galizien und Wolhynien und leitete diese nach Brooklyn zur Bearbeitung weiter.

Bis Mitte der 1920er Jahre war der Samen in der Westukraine gewiss aufgegangen. Es wurden viele Bibelforschergruppen gebildet, und aus einigen davon entstanden Versammlungen. Über diese Anfangstätigkeit wurden zwar nur wenige Aufzeichnungen geführt, aber aus den vorhandenen Berichten geht hervor, dass 1922 in Galizien 12 Personen das Gedächtnismahl feierten. 1924 wurde im Wachtturm darüber berichtet, dass in der Stadt Sarata 49 Personen dem Gedächtnismahl beiwohnten. 1927 waren im heutigen Transkarpatien über 370 Personen beim Gedächtnismahl anwesend.

Im Wachtturm vom 1. Dezember 1925 (engl. Ausgabe) wurde das Werk in verschiedenen Ländern der Welt beschrieben und Folgendes veröffentlicht: „Ein Bruder wurde dieses Jahr von Amerika nach Europa zu den Ukrainern gesandt; ... unter den Ukrainern in jenem von Polen verwalteten Gebiet ist viel Gutes geleistet worden. Es besteht dort eine große und steigende Nachfrage nach Literatur.“ Einige Monate später wurde im Goldenen Zeitalter (heute Erwachet!) berichtet: „In Galizien allein gibt es zwanzig Klassen [Versammlungen] ... Einige davon richteten Zusammenkünfte ein und halten sie während der Woche ab; andere kommen nur sonntags zusammen, und wieder andere sind dabei, sich zu formieren. Es besteht Aussicht auf weitere Klassen; es fehlt nur jemand, der die Leitung übernimmt.“ All das zeigte an, dass der ukrainische Boden in geistiger Hinsicht sehr fruchtbar war.

Anfänge des Predigtdienstes

Wojtek Tschechi aus Transkarpatien ließ sich 1923 taufen und nahm später den Vollzeitpredigtdienst in der Gegend von Berehowe auf. Gewöhnlich ging er in den Predigtdienst mit einer Literaturtasche in der Hand, mit einer weiteren auf dem Fahrrad und mit einem Rucksack voller Literatur auf dem Rücken. Er berichtet: „Wir erhielten 24 Dörfer als Gebiet. Mit insgesamt 15 Verkündigern mussten wir uns anstrengen, um diese Dörfer zweimal im Jahr mit Literatur durchzuarbeiten. Wir trafen uns jeden Sonntag um vier Uhr morgens in einem der Dörfer. Von dort aus begaben wir uns zu Fuß oder mit dem Bus 15 bis 20 Kilometer weit in die Umgebung. Meistens begannen wir den Dienst von Haus zu Haus um acht und arbeiteten bis zwei Uhr nachmittags. Oft gingen wir zu Fuß nach Hause, und in den Zusammenkünften am Abend desselben Tages erzählten alle freudig, was sie erlebt hatten. Wir nahmen Abkürzungen durch den Wald und durchquerten Flüsse bei schönem und bei schlechtem Wetter, aber niemals beklagte sich jemand. Wir waren froh, dass wir unserem Schöpfer dienen und ihn verherrlichen konnten. Außenstehende konnten sehen, dass die Brüder wirklich wie wahre Christen lebten, bereit, über 30 Kilometer zu laufen, um die Zusammenkünfte zu besuchen und zu predigen.

Im Dienst trafen wir die verschiedensten Leute an. Einmal bot ich einer Frau die Broschüre Das Königreich — die Hoffnung der Welt an; sie wollte sie zwar gern haben, sagte aber, dass sie kein Geld dafür geben könne. Ich war hungrig und sagte zu ihr, sie könne die Broschüre im Tausch gegen ein gekochtes Ei erhalten. Sie erhielt die Broschüre, und ich aß das Ei.“

Zu Weihnachten war es in Transkarpatien Brauch, von Haus zu Haus zu gehen und Lieder über die Geburt Jesu zu singen. Die Brüder machten sich diesen Brauch zunutze. Sie nahmen ihre Literaturtasche und gingen in die Häuser, um den Bewohnern Lieder vorzusingen, die ihren Glauben zum Ausdruck brachten. Viele fanden Gefallen an den Melodien. Die Brüder wurden oft hereingebeten, um noch weitere Lieder zu singen. Manchmal erhielten sie für ihr Singen Geld, das sie dann nur zu gern im Austausch für biblische Literatur annahmen. Daher war das Literaturlager um die Weihnachtszeit oft leer. Solche Gesangsfeldzüge dauerten zwei Wochen, weil die römischen Katholiken und die griechischen Katholiken in verschiedenen Wochen Weihnachten feierten. In der Mitte der 1920er Jahre wurden die Gesangsfeldzüge jedoch eingestellt, da die Bibelforscher den heidnischen Ursprung des Weihnachtsfestes erkannten. Die Brüder hatten große Freude an ihrer gründlichen Predigttätigkeit, und es entstanden neue Verkündigergruppen in Transkarpatien.

Die ersten Kongresse

Der erste Kongress der Bibelforscher in Transkarpatien wurde im Mai 1926 in dem Dorf Weliki Lutschki abgehalten. Es waren 150 Personen anwesend und 20 ließen sich taufen. Im Jahr darauf waren 200 Personen bei einem Kongress anwesend, der im Freien im Zentralpark von Uschgorod stattfand, einer Stadt in derselben Gegend. Bald wurden weitere Kongresse in verschiedenen Städten Transkarpatiens geplant. 1928 fand in Lwiw der erste Kongress statt. Später wurden andere Kongresse in Galizien und Wolhynien abgehalten.

Anfang 1932 wurde in Solotwino, einem Dorf in Transkarpatien, im Hof eines Hauses ein Kongress abgehalten, wo sonst die Bibelforscher ihre regulären Zusammenkünfte hatten. Ungefähr 500 Personen waren anwesend, darunter einige verantwortliche Brüder aus Deutschland. Michailo Tilnjak, Ältester in der Ortsversammlung, berichtet: „Wir waren höchst erfreut über die gut ausgearbeiteten Vorträge der Brüder, die aus Deutschland und Ungarn zu unserem Kongress gekommen waren. Sie ermunterten uns mit Tränen in den Augen, in den bevorstehenden Prüfungen treu zu bleiben.“ Und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs traten dann tatsächlich schwere Prüfungen ein.

Im Jahre 1937 wurde ein Sonderzug für Delegierte bestellt, die zu einem großen Kongress nach Prag reisen wollten. Der Zug wurde in Solotwino eingesetzt und hielt auf der Fahrt durch ganz Transkarpatien auf jedem Bahnhof, damit Delegierte zusteigen konnten. An jedem Waggon war ein Schild angebracht mit der Aufschrift „Kongress der Zeugen Jehovas — Prag“. Es war ein ausgezeichnetes Zeugnis für die Menschen in jener Gegend, und Ältere erinnern sich noch heute an dieses Ereignis.

Der Bau von Anbetungsstätten

Mit Entstehen der ersten Bibelforschergruppen wurde es auch nötig, eigene Anbetungsstätten zu errichten. Die erste Zusammenkunftsstätte wurde 1932 in Dibrowa gebaut, einem Dorf in Transkarpatien. Später wurden zwei andere Säle in den Nachbardörfern Solotwino und Bila Zerkwa errichtet.

In der Kriegszeit wurden zwar einige dieser Säle zerstört und andere beschlagnahmt, aber die Brüder wollten weiterhin ihre eigenen Königreichssäle haben. Gegenwärtig gibt es in Dibrowa 8 Königreichssäle und 18 weitere in sechs Nachbardörfern.

Entwicklung der Übersetzungstätigkeit

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wanderten viele Familien aus der Ukraine in die Vereinigten Staaten und nach Kanada aus. Viele nahmen in dem neuen Land die Wahrheit an, und es bildeten sich zahlreiche ukrainischsprachige Gruppen. Schon 1918 wurde das Buch Der göttliche Plan der Zeitalter in Ukrainisch herausgegeben. Dennoch musste viel mehr getan werden, um ukrainischsprachige Personen in der Ukraine und im Ausland mit geistiger Speise zu versorgen. Anfang der 1920er Jahre wurde es nötig, dass ein befähigter Bruder ständig biblische Veröffentlichungen übersetzte. Emil Zarysky, der in Kanada lebte, nahm 1923 die Einladung zum Vollzeitdienst an. Für ihn bedeutete dies hauptsächlich, biblische Veröffentlichungen ins Ukrainische zu übersetzen. Nebenher besuchte er ukrainische, polnische und slowakische Gruppen in Kanada und in den Vereinigten Staaten.

Emil Zarysky wurde in der Nähe der westukrainischen Stadt Sokal geboren und zog später mit seinen Eltern nach Kanada. Dort heiratete er Marija, eine junge Frau aus der Ukraine. Gemeinsam zogen sie fünf Kinder auf. Trotz umfangreicher Familienpflichten konnten er und seine Frau ihre theokratischen Aufgaben erfüllen. 1928 erwarb die Watch Tower Society ein Haus in Winnipeg (Kanada), das als Zentrum für die ukrainische Übersetzungsarbeit diente.

In diesen frühen Tagen benutzten die Brüder im Dienst von Haus zu Haus Grammophone und Schallplatten mit biblischen Vorträgen. Bruder Zarysky wurde als Sprecher nach Brooklyn gebeten, wo solche Vorträge in Ukrainisch aufgenommen wurden. In den 1930er Jahren wurden beim Rundfunksender in Winnipeg mehrere halbstündige ukrainische Sendungen zusammengestellt. In diesen Rundfunksendungen hielten Bruder Emil Zarysky und andere erfahrene Brüder bedeutsame öffentliche Vorträge. Die Vorträge waren eingerahmt von einem vierstimmigen Gesang von Liedern aus dem Liederbuch, das 1928 veröffentlicht worden war. Hunderte von Hörern bedankten sich dafür schriftlich und telefonisch.

Vierzig Jahre lang kamen Emil Zarysky und seine Frau Marija treu ihrer Aufgabe als Übersetzer nach. In jener Zeit wurde jede Ausgabe des Wachtturms ins Ukrainische übersetzt. 1964 wurde Maurice Saranchuk, der, zusammen mit seiner Frau Anne, Bruder Zarysky eine Reihe von Jahren unterstützt hatte, mit der Aufsicht über die Übersetzungsarbeit betraut.

Hilfe in geistiger Hinsicht trifft ein

Einige eifrige Verkündiger hatten zwar als Einzelne überall in der Ukraine den Samen der Wahrheit ausgestreut und bewässert, aber erst ab 1927 wurde in Transkarpatien und später in Galizien auf organisierte Weise gepredigt. Davor wurde eine große Anzahl von Büchern in rumänischer, ungarischer, polnischer und ukrainischer Sprache verbreitet, ohne dass über diese Predigttätigkeit berichtet wurde. Aus Gruppen in abgelegenen Gebieten wurden allmählich Versammlungen gebildet, und die Verkündiger predigten dann mit der Zeit regelmäßig von Haus zu Haus. In jenen Jahren wurde viel biblische Literatur verbreitet. Das erste Literaturlager der Ukraine wurde 1927 im transkarpatischen Uschgorod eingerichtet. 1928 wurde das deutsche Büro in Magdeburg beauftragt, sich der Versammlungen und Kolporteure im Gebiet des heutigen Transkarpatiens anzunehmen, das damals zur Tschechoslowakei gehörte.

Im Jahre 1930 wurde in Berehowe bei Uschgorod ein Büro eingerichtet, um von dort aus die Tätigkeit der Bibelforscher in Transkarpatien zu beaufsichtigen. Wojtek Tschechi diente in dem Büro als Aufseher. Diese Neuregelung war für das Predigtwerk sehr vorteilhaft.

Mehrere Brüder aus den Büros in Prag und Magdeburg waren sehr opferbereit und reisten über große Entfernungen in die Karpaten, um die gute Botschaft in die entlegensten Teile dieser Gegend zu bringen. Einer dieser eifrigen Brüder war Adolf Fitzke aus dem Magdeburger Zweigbüro. Er wurde in die Gegend von Rachiw in den Karpaten gesandt. Viele Zeugen dort erinnern sich heute noch gern an diesen treuen, bescheidenen und anspruchslosen Bruder. 2001 gab es dort vier Versammlungen.

In den 1930er Jahren wurde in vielen Städten und Dörfern Transkarpatiens das „Photo-Drama der Schöpfung“ gezeigt. Diese Vorführung von Lichtbildern und Filmen, die mit biblischen Kommentaren auf Schallplatte synchronisiert waren, dauerte 8 Stunden. Erich Frost aus Deutschland wurde ausgesandt, um die Brüder am Ort in Verbindung mit dem „Photo-Drama“ zu unterstützen. Vor Programmbeginn verteilten die Brüder Handzettel und luden mithilfe von Plakaten die Öffentlichkeit zu der Vorführung ein. Das Interesse war groß. In Berehowe kamen so viele, dass über 1 000 Personen auf der Straße warten mussten. Als die Polizei die große Menschenmenge sah, fürchtete sie, dass eine Unruhe entstehen könnte und sie dieser nicht Herr werden würde. Daher wurde überlegt, ob die Veranstaltung geschlossen werden sollte, aber man entschied sich doch nicht dafür. Nach der Vorführung wurden viele Adressen von Personen abgegeben, die das „Photo-Drama“ noch einmal sehen wollten. Ein solches Interesse veranlasste die Ortsgeistlichen alles daranzusetzen, die Verkündigung der guten Botschaft zu vereiteln. Jehova segnete das Werk trotz allem mit Erfolg.

In den 1920er und 1930er Jahren beaufsichtigte das polnische Zweigbüro in Lodz die Gebiete Wolhynien und Galizien. 1932 richteten die Brüder in Polen ihre Aufmerksamkeit auf jene Gebiete und führten bei allen Abonnenten des Wachtturms Rückbesuche durch — die Adressen hatten sie aus Brooklyn.

Wilhelm Scheider, der damalige Aufseher des polnischen Büros, erinnerte sich: „Die Ukrainer waren von der Wahrheit sehr begeistert. In den Städten und Dörfern Galiziens schossen Gruppen von Interessierten wie Pilze aus dem Boden. Manchmal waren die Gruppen so groß, dass sie eine ganze Gemeinde umfassten.“

Die meisten Brüder waren zwar arm, aber sie opferten viel für Literatur und Schallplatten, die ihnen das Predigen erleichtern und ihr geistiges Wachstum fördern würden. Mikola Wolotschij aus Galizien, der sich 1936 taufen ließ, verkaufte eines seiner beiden Pferde, um sich ein Grammophon kaufen zu können. Man stelle sich vor, was es für einen Bauern bedeutet, ein Pferd zu verkaufen. Obwohl er für vier Kinder zu sorgen hatte, kam er zu dem Schluss, dass er mit einem Pferd auskäme. Durch die biblischen Vorträge und die Königreichslieder, die auf seinem Grammophon abgespielt wurden, lernten viele Neue Jehova kennen und begannen ihm zu dienen.

Um zu veranschaulichen, wie groß die Zunahme an Verkündigern in Galizien und Wolhynien in den 1930er Jahren war, sagte Wilhelm Scheider: „1928 erreichten wir in Polen 300 Verkündiger, aber 1939 hatten wir mehr als 1 100; die Hälfte davon waren Ukrainer, und das obwohl das Werk in jener Gegend (Galizien und Wolhynien) erst viel später begann.“

Um einer solchen Mehrung gerecht zu werden, wurde Ludwik Kinicki, der im polnischen Zweigbüro diente, als reisender Aufseher nach Galizien und Wolhynien gesandt, um das Predigtwerk zu unterstützen. Seine Familie war aus Tschortkiw in Galizien zu Anfang des 20. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten ausgewandert, wo Bruder Kinicki die Wahrheit kennen lernte. Später kehrte er in sein Heimatland zurück, um aufrichtigen Menschen dort zu helfen. Viele Brüder und Schwestern werden nie vergessen, wie sehr ihnen dieser eifrige Diener Gottes in geistiger Hinsicht geholfen hat. Als im Herbst 1936 die Herausgabe des polnischen Goldenen Zeitalters verboten und der verantwortliche Redakteur zu einem Jahr Haft verurteilt wurde, wurde Bruder Kinicki zum Redakteur der Zeitschrift Nowy Dzień (Neuer Tag) ernannt, die anstelle des verbotenen Goldenen Zeitalters herausgegeben wurde. 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Mauthausen/Gusen gebracht, wo er in Treue zu Jehova starb.

Gott zieht alle Arten von Menschen

Anfang der 1920er Jahre kehrte ein Bibelforscher namens Rola nach Galizien in seine Heimatstadt Solotij Potik zurück. Anhand seiner Bibel begann Rola, die gute Botschaft zu verkündigen. Die Leute hielten ihn für nicht normal, weil er all seine religiösen Bildnisse vernichtete. Der Ortsgeistliche versuchte, Rola von der Predigttätigkeit abzuhalten. Der Pfarrer suchte einen Polizisten auf und sagte zu ihm: „Wenn Sie etwas tun können, damit dieser Rola nicht mehr laufen kann, dann bekommen Sie von mir einen Liter Whisky.“ Der Polizist erwiderte, dass es nicht seine Aufgabe sei, jemand zu verprügeln. Später erhielt Rola von Brüdern aus den Vereinigten Staaten Päckchen mit Literatur. Der Pfarrer ging wieder zu dem Polizisten und sagte zu ihm, auf der Post sei ein Päckchen mit kommunistischen Schriften angekommen. Am nächsten Tag wartete der Polizist auf der Post, um zu sehen, wer das Päckchen abholen würde. Natürlich war es Rola. Der Polizist nahm Rola mit zur Wache und lud auch den Pfarrer vor. Der Pfarrer schrie, die Bücher seien vom Teufel. Um festzustellen, ob die Literatur kommunistisches Gedankengut enthielt, sandte der Polizist etwas davon an das Amtsgericht. Den Rest behielt er bei sich. Als er in den Publikationen las, stellte er fest, dass sie die Wahrheit enthielten. Kurz darauf begannen er und seine Frau die Zusammenkünfte der Bibelforscher zu besuchen. Später ließ er sich taufen und wurde ein eifriger Verkündiger. Somit hatte der Pfarrer zwar alles darangesetzt, das Werk des Jüngermachens zu unterbinden, hatte aber unbewusst dazu beigetragen, dass Ljudwik Rodak die Wahrheit annahm.

Um diese Zeit zog ein griechisch-katholischer Priester zusammen mit seiner Frau in die Vereinigten Staaten. Kurz darauf starb seine Frau. In seiner Trauer beschloss er, herauszufinden, wohin die Seele seiner Frau gekommen sei. Er besorgte sich die Adresse einiger Spiritisten in New York. Auf der Suche nach ihrem Versammlungsort geriet er versehentlich auf eine andere Etage des Gebäudes und in eine Zusammenkunft der Bibelforscher. Dort lernte er die Wahrheit über den Zustand der Toten kennen. Später ließ er sich taufen und war eine Zeit lang in der Druckerei des Brooklyner Bethels tätig. Nach einiger Zeit kehrte er nach Galizien zurück und verkündigte dort weiterhin fleißig die gute Botschaft.

Ein Lichtstrahl in der Ostukraine

Wie wir gesehen haben, wurde in den Anfangsjahren hauptsächlich in der Westukraine gepredigt. Wie gelangte die Wahrheit in den übrigen Teil des Landes? Würde sich jener sinnbildliche Boden als ebenso fruchtbar erweisen wie der in der Westukraine?

Anfang des 20. Jahrhunderts kam Bruder Trumpi, ein Bibelforscher aus der Schweiz, in das Bergbaugebiet der Ostukraine, um dort als Ingenieur zu arbeiten. Er ist als der erste Bibelforscher in jener Gegend bekannt. Seine Predigttätigkeit in den 1920er Jahren führte in dem Dorf Ljubimiwskij Post, das in der Nähe von Charkow liegt, zur Entstehung einer Bibelstudiengruppe.

Im Jahre 1927 traf ein weiterer Bruder aus Westeuropa ein, um in dem Dorf Kalyniwka im Kohlenbergwerk als Ingenieur zu arbeiten. Er brachte einen Koffer voll biblischer Literatur mit, die er benutzte, als er einer kleinen Gruppe von Baptisten predigte, die sich sehr für die Königreichshoffnung interessierten. Nach einiger Zeit kehrte dieser Bruder in sein Land zurück und hinterließ eine kleine Gruppe von Bibelforschern. 1927 wurde im Wachtturm berichtet, dass 18 Personen in Kalyniwka zum Gedächtnismahl zusammenkamen. Im Nachbardorf Jepifaniwka waren 11 Personen anwesend. Außerdem feierten in diesem Jahr 30 Personen in Ljubimiwskij Post das Gedächtnismahl.

Die Brüder in der Weltzentrale in Brooklyn verfolgten stets die Entwicklung in der Sowjetunion und versuchten, das Königreichspredigtwerk gesetzlich zu befestigen. Mit diesem Ziel vor Augen kam 1928 ein kanadischer Bruder, George Young, in die UdSSR. Während seines Aufenthalts war es ihm möglich, die ostukrainische Stadt Charkow zu besuchen, wo er zusammen mit den ansässigen Bibelforschern einen kleinen dreitägigen Kongress organisierte. Später führte der Widerstand der Behörden dazu, dass er das Land verlassen musste. Er stellte fest, dass es zu jener Zeit Gruppen von Bibelforschern sowohl in Kiew als auch in Odessa gab.

Bruder Young erstattete Brooklyn einen Bericht über die Lage in der Sowjetunion. Auf Empfehlung von Bruder Young wurde dann Daniil Staruchin aus der Ukraine dazu ernannt, nicht nur die Bibelforscher der Ukraine, sondern auch der ganzen UdSSR zu vertreten. Mehrere Jahre vor dem Besuch von Bruder Young konnte Bruder Staruchin in einer Aussprache mit dem damaligen Volkskommissar für das Bildungswesen in der Sowjetunion, Anatoli Lunatscharski, die Bibel verteidigen. Bruder Young schrieb in einem Brief an Bruder Rutherford in der Brooklyner Weltzentrale: „Daniil Staruchin ist sehr eifrig. Als 15-jähriger Junge sprach er mit einem Priester über die Bibel. Der Priester wurde so zornig, dass er den Jungen mit seinem Kreuz auf den Kopf schlug, sodass er bewusstlos zu Boden fiel; er hat immer noch die Narbe am Kopf. Man hätte Daniil normalerweise gehängt, aber weil er noch minderjährig war, bekam er nur vier Monate Gefängnis.“ Bruder Staruchin bemühte sich zwar um die Registrierung der Ortsversammlung und um eine behördliche Genehmigung für den Druck biblischer Literatur, aber die sowjetischen Behörden gingen darauf nicht ein.

Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre förderten die sowjetischen Behörden mit Eifer den Atheismus. Religion wurde verspottet, und wer anderen predigte, galt als „Vaterlandsfeind“. Nach einer guten Ernte im Jahre 1932 beschlagnahmten die Kommunisten in der Ukraine alle Nahrungsmittel der Dorfbewohner. Über sechs Millionen Menschen starben an der darauf folgenden künstlich hervorgerufenen Hungersnot.

Aus Berichten geht hervor, dass kleine Gruppen von Dienern Jehovas in diesen schwierigen Zeiten ihre Lauterkeit bewahrten, obwohl sie keinen Kontakt zu Brüdern außerhalb des Landes hatten. Einige verbrachten wegen ihres Glaubens viele Jahre im Gefängnis. Die Familien Trumpi und Hauser sowie Daniil Staruchin, Andrij Sawenko und Schwester Schapowalowa sind nur einige dieser Bewahrer der Lauterkeit. Wir sind überzeugt, dass Jehova nicht ‘ihre Arbeit und die Liebe vergessen wird, die sie seinem Namen gegenüber erzeigt haben’ (Heb. 6:10).

Zeit schwerer Prüfungen

Ende der 1930er Jahre veränderten sich die Grenzen vieler osteuropäischer Länder erheblich. Das nationalsozialistische Deutschland und die UdSSR erweiterten ihren Einflussbereich und vereinnahmten schwächere Länder.

Im März 1939 besetzte Ungarn mit der Unterstützung Nazideutschlands Transkarpatien. Die Tätigkeit der Zeugen wurde verboten, und alle Königreichssäle wurden geschlossen. Die Behörden misshandelten die Brüder brutal und schickten viele ins Gefängnis. Die meisten Zeugen der ukrainischen Dörfer Weliki Bitschkiw und Kobilezka Poljana wurden eingesperrt.

Als die Sowjets 1939 in dem Gebiet von Galizien und Wolhynien eintrafen, wurden die westukrainischen Grenzen geschlossen. Dadurch riss die Verbindung zum Büro in Polen ab. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ging die Organisation in den Untergrund. Die Brüder kamen in kleinem Kreis zusammen und setzten den Predigtdienst vorsichtiger fort.

Später marschierten deutsche Truppen in die Ukraine ein. Unter dieser Besatzung hetzten die Geistlichen nach und nach die Massen gegen Jehovas Diener auf. In Galizien wütete bittere Verfolgung. In Häusern von Zeugen Jehovas wurden Fensterscheiben eingeschlagen, und viele Brüder wurden verprügelt. Im Winter wurden manche Brüder gezwungen, stundenlang in kaltem Wasser zu stehen, weil sie sich nicht bekreuzigten. Einige Schwestern erhielten 50 Stockhiebe. Eine Anzahl von Brüdern verloren das Leben, weil sie ihre Lauterkeit bewahrten. Zum Beispiel richtete die Gestapo Illja Howutschak hin, einen Vollzeitprediger aus den Karpaten. Ein katholischer Pfarrer hatte Bruder Howutschak der Gestapo übergeben, weil er eifrig das Königreich Gottes predigte. Es war eine Zeit schwerer Prüfungen. Dennoch hielten Jehovas Diener weiterhin stand.

Jehovas Zeugen halfen einander, auch wenn das oft gefährlich war. In Stanislaw (heute Iwano-Frankiwsk) wurden eine Frau jüdischer Abstammung und ihre beiden Töchter Zeugen Jehovas. Sie lebten in einem jüdischen Getto. Die Brüder erfuhren, dass die Nationalsozialisten vorhatten, alle in dieser Stadt lebenden Juden hinzurichten, deshalb bereiteten sie für die drei Schwestern die Flucht vor. Während der gesamten Kriegszeit riskierten die Zeugen ihr eigenes Leben und hielten diese jüdischen Schwestern versteckt.

Während des Zweiten Weltkriegs verloren die Brüder in der Westukraine vorübergehend die Verbindung zur Organisation und sie waren nicht sicher, welche Richtung sie einschlagen sollten. Einige dachten, der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bedeute den Anfang von Harmagedon. Diese Lehre sorgte unter den Brüdern eine Zeit lang für Missverständnisse.

Auf dem Schlachtfeld geht Samen auf

Der Zweite Weltkrieg brachte der Ukraine Trauer und Verderben. Drei Jahre lang war das Land ein riesiges Schlachtfeld. Als sich die Front durch die Ukraine bewegte — zuerst nach Osten, dann zurück nach Westen —, wurden viele Städte und Dörfer zerstört. In jenen Jahren starben rund zehn Millionen ukrainische Bürger, darunter fünfeinhalb Millionen Zivilisten. Inmitten der Schrecken des Krieges sahen viele im Leben nur noch wenig Sinn und warfen sittliche Grundsätze über Bord. Dennoch lernten selbst unter solchen Umständen einige die Wahrheit kennen.

Im Jahre 1942 wurde Michailo Dan, ein junger Bursche aus Transkarpatien, der vor dem Zweiten Weltkrieg gern den Zeugen Jehovas zugehört hatte, zum Kriegsdienst eingezogen. Bei einer militärischen Übung verteilte ein katholischer Geistlicher unter den Soldaten ein religiöses Faltblatt, in dem jedem, der mindestens einen Kommunisten tötete, versprochen wurde, dass er in den Himmel käme. Eine solche Aussage erschien dem jungen Soldaten rätselhaft. Während des Krieges sah er, dass ein Geistlicher andere Menschen tötete. Das überzeugte ihn mit davon, dass Jehovas Zeugen die Wahrheit haben. Nach dem Krieg kehrte er nach Hause zurück, suchte Zeugen Jehovas und ließ sich gegen Ende 1945 taufen.

Später erlebte Bruder Dan die Schrecken sowjetischer Gefängnisse. Nach seiner Freilassung wurde er zum Ältesten ernannt und dient nun in einer der Versammlungen in Transkarpatien als vorsitzführender Aufseher. In Erinnerung an das zuvor erwähnte Faltblatt sagt er ironisch: „Ich habe keinen einzigen Kommunisten umgebracht. Deshalb rechne ich nicht damit, in den Himmel zu kommen, aber ich freue mich darauf, ewig im Paradies auf der Erde zu leben.“

Wachstum auf fruchtbarem Boden in Konzentrationslagern

Wie eingangs erwähnt, kann ein fetter Boden Rekordernten hervorbringen. Daher wurde während der deutschen Besatzung fruchtbare Schwarzerde aus der Ukraine abtransportiert. Ein Güterwagen nach dem anderen wurde mit fruchtbarer Erde aus der Mittelukraine beladen und nach Deutschland gebracht.

Doch in anderen Güterwagen war etwas, was sich später sozusagen ebenfalls in fruchtbaren Boden verwandeln sollte. Etwa zweieinhalb Millionen junge Männer und Frauen wurden aus der Ukraine zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht. Eine beträchtliche Anzahl von ihnen kam später in Konzentrationslager. Dort lernten sie Zeugen Jehovas kennen, die wegen ihrer christlichen Neutralität eingesperrt waren. Selbst in den Konzentrationslagern hörten die Zeugen nicht auf, anderen die gute Botschaft zu predigen, sowohl durch ihr Reden als auch durch ihren Lebenswandel. Eine Gefangene erinnert sich: „Die Zeugen unterschieden sich von den anderen im Konzentrationslager. Sie waren optimistisch und hatten eine freundliche Art. Ihr Verhalten zeigte, dass sie den anderen Gefangenen etwas Wichtiges zu sagen hatten.“ In diesen Jahren lernten viele Menschen aus der Ukraine die Wahrheit im Konzentrationslager von deutschen Zeugen kennen.

Anastasia Kasak lernte die Wahrheit in Deutschland im Konzentrationslager Stutthof kennen. Gegen Kriegsende wurden mehrere Hundert Gefangene, darunter Anastasia und 14 Zeugen, auf einem Lastkahn nach Dänemark transportiert, wo dänische Brüder nach ihnen suchten und sich um ihre physischen und geistigen Bedürfnisse kümmerten. Im selben Jahr ließ sich Anastasia im Alter von 19 Jahren auf einem Kongress in Kopenhagen taufen und kehrte in die Ostukraine zurück, wo sie eifrig Samen der Wahrheit ausstreute. Später wurde Schwester Kasak wegen ihrer Predigttätigkeit erneut eingesperrt — für 11 Jahre.

Jungen Leuten rät sie Folgendes: „Was immer im Leben geschieht — Drangsal, Gegnerschaft oder andere Probleme —, gebt nie auf. Bittet Jehova stets um Hilfe. Ich habe gelernt, dass er diejenigen, die ihm dienen, niemals verlässt“ (Ps. 94:14).

Prüfungen während des Krieges

Krieg ist hart und grausam und bringt Elend, Leid und Tod über Soldaten und Zivilisten. Von den schlimmen Folgen des Krieges bleiben auch Jehovas Zeugen nicht verschont. Sie sind in der Welt, selbst wenn sie kein Teil von ihr sind (Joh. 17:15, 16). Sie ahmen ihren Führer, Jesus Christus, nach und verhalten sich politisch strikt neutral. Ihr Standpunkt zeichnet sie gegenüber anderen überall als wahre Christen aus, auch in der Ukraine. Während also die Welt ihre lebenden und gefallenen Kriegshelden ehrt, ehrt Jehova diejenigen, die ihm mutig ihre Loyalität beweisen (1. Sam. 2:30).

Gegen Ende 1944 eroberten sowjetische Streitkräfte die Westukraine zurück, woraufhin eine generelle Einberufung zum Wehrdienst verkündet wurde. Gleichzeitig kämpften Partisanenverbände gegen deutsche und sowjetische Truppen. Die Partisanen nötigten Bewohner der Westukraine, sich ihnen anzuschließen. All das stellte Jehovas Diener, die neutral bleiben wollten, vor eine neue Prüfung. Eine Anzahl Brüder wurden hingerichtet, weil sie sich weigerten, mitzukämpfen.

Iwan Maximjuk und sein Sohn Michailo lernten die Wahrheit von Illja Howutschak kennen. Während des Krieges weigerten sie sich, zu den Waffen zu greifen, sodass sie von den Partisanen ergriffen wurden. Einige Zeit zuvor hatten diese Partisanen auch einen sowjetischen Soldaten gefangen genommen. Die Partisanen befahlen Iwan Maximjuk, den gefangenen Soldaten zu töten, und versprachen ihm dafür die Freiheit. Als Bruder Maximjuk dies ablehnte, brachten sie ihn auf sadistische Weise um. Sein Sohn Michailo wurde ebenso gemein getötet wie auch Jurij Frejuk und dessen 17-jähriger Sohn Mikola.

Andere Brüder wurden hingerichtet, weil sie nicht in die Sowjetarmee eintreten wollten (Jes. 2:4). Wieder andere wurden zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Brüder, die eingesperrt wurden, hatten kaum eine Überlebenschance, denn selbst wer nach dem Krieg frei war, hungerte. 1944 wurde Michailo Dasewitsch wegen seiner neutralen Haltung eingesperrt. Vor seiner 10-jährigen Gefängniszeit wurde er sechs Monate lang verhört, wonach er völlig erschöpft war. Die Krankenabteilung verordnete ihm eine „kalorienreiche Kost“. Daher wurde dem Haferbrei, den er im Gefängnis erhielt, ein Teelöffel Öl zugesetzt — das Einzige, was er zu essen bekommen durfte. Bruder Dasewitsch überlebte und diente 23 Jahre lang im Landeskomitee der UdSSR und später im ukrainischen Landeskomitee.

Im Jahre 1944 verweigerten sieben Brüder einer Versammlung in der Bukowina den Militärdienst und wurden zu Gefängnisstrafen zwischen 3 und 4 Jahren verurteilt. Vier von ihnen verhungerten im Gefängnis. Im selben Jahr wurden fünf Brüder aus einer Versammlung in der Nähe zu jeweils 10 Jahren Lagerhaft in Sibirien verurteilt. Nur einer von ihnen kehrte nach Hause zurück, die anderen starben dort.

Im Jahrbuch 1947 wurden diese Ereignisse folgendermaßen geschildert: „Als 1944 das Nazi-Ungeheuer westwärts zurückgedrängt wurde, setzte in der Westukraine eine Mobilisation aller nur irgendwie wehrfähigen Männer ein, um den Krieg für Russland zu einem günstigen Abschluss zu bringen. Unsere Brüder haben erneut die Unantastbarkeit des ewigen Bundes respektiert und ihre Neutralität bewahrt. Für ihre Treue dem Herrn gegenüber durften einige ihr Leben lassen, und andere — diesmal waren es weit über 1 000 — sind wiederum den Weg nach Osten in die weiten Ebenen des Riesenreiches gezogen.“

Trotz dieser großen Umsiedlung nahm die Zahl der Zeugen Jehovas stetig zu. 1946 waren in der Westukraine 5 218 Personen beim Gedächtnismahl anwesend, darunter vier Gesalbte.

Vorübergehende Erleichterung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verkündigten die Brüder, die vieles durchgemacht hatten und gegenüber Gott loyal geblieben waren, den Kriegsheimkehrern eine lebendige und aufmunternde Botschaft, die ihnen Hoffnung machte. Die zurückkehrenden Soldaten und Kriegsgefangenen waren enttäuscht und suchten nach einem Sinn im Leben. Deshalb nahmen viele begeistert die Wahrheit an. Zum Beispiel ließen sich Ende 1945 in Bila Zerkwa, einem Dorf in Transkarpatien, 51 Personen in der Theiß taufen. Zum Ende des Jahres hatte die Versammlung 150 Verkündiger.

In jener Zeit hatte sich zwischen den Polen und den Ukrainern der Westukraine sowie Ostpolens Hass entwickelt. Es bildeten sich eine Reihe von polnischen und ukrainischen Banden. Manchmal wurden die Einwohner ganzer Dörfer der jeweils anderen Nationalität ermordet. Leider starben bei diesen Massakern auch einige Brüder.

Später wurden gemäß einem Abkommen zwischen der Sowjetunion und Polen ungefähr 800 000 Polen von der Westukraine nach Polen umgesiedelt und fast 500 000 Ukrainer aus Ostpolen in die Ukraine. Zu den Umsiedlern gehörten viele Zeugen Jehovas. Ganze Versammlungen siedelten um; Brüdern wurden neue theokratische Aufgaben zugeteilt, und die Wiedereinbürgerung fasste man als Gelegenheit auf, in neuen Gebieten zu predigen. Im Jahrbuch 1947 hieß es dazu: „Alles dies trägt dazu bei, dass die Wahrheit rasch an solche Orte gelangt, wohin sie sonst in absehbarer Zeit kaum gekommen wäre. So tragen auch diese Umstände mit zur Verherrlichung des Namens Gottes bei.“

Als die Ukraine ihre Grenzen zum Westen schloss, ging man daran, die Tätigkeit der Zeugen Jehovas in der Ukraine und den übrigen Ländern der Sowjetunion zu organisieren. Pawlo Sjatek war zuvor zum Landesdiener der Ukraine und der übrigen Sowjetunion ernannt worden. Später wurden zu seiner Unterstützung zwei weitere eifrige Brüder ernannt: Stanislaw Burak und Petro Tokar. Sie wohnten unauffällig im Haus einer Glaubensschwester in Lwiw, wo sie Schriften vervielfältigten, damit geistige Speise in die gesamte UdSSR gelangen konnte. Unter großer Gefahr wurde diese Literatur aus Polen nach Lwiw gebracht, wo sie übersetzt und vervielfältigt wurde. Von Zeit zu Zeit konnten Brüder und Schwestern, die Verwandte in Polen hatten, eine Besuchserlaubnis erhalten, und auf dem Rückweg brachten sie heimlich Literatur mit. Eine Zeit lang beförderte ein Lokführer Literatur in einem Metallkasten, der in einem Dampfkessel versteckt war.

Gegen Ende 1945 wurde Bruder Sjatek verhaftet und zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Bruder Burak löste ihn als Landesdiener ab.

Erneut Verfolgung

Im Juni 1947 wurde ein Bruder, der Druckschriften für andere Brüder bei sich hatte, in Lwiw auf offener Straße verhaftet. Der Geheimdienst bot ihm die gesetzliche Registrierung unserer Organisation an, wenn er die Adressen der Zeugen angebe, die er regelmäßig mit Druckschriften beliefere. Der vertrauensselige Bruder nannte ihnen die Adressen von fast 30 Brüdern, darunter die von Bruder Burak, dem damaligen Landesdiener. Daraufhin wurden alle verhaftet. Der betreffende Bruder bereute aufrichtig und gab zu, dass er dem Geheimdienst allzu arglos vertraut habe.

Die verhafteten Brüder wurden in ein Gefängnis in Kiew gebracht, wo sie weiter verhört wurden und vor Gericht erscheinen mussten. Kurz darauf starb Bruder Burak im Gefängnis. Vor seiner Verhaftung konnte er noch den Bezirksdiener Mikola Ziba aus Wolhynien erreichen und ihm die Aufsicht über das Werk in der Ukraine und der übrigen Sowjetunion übertragen.

Noch nie hatte der sowjetische Geheimdienst auf einen Schlag so viele verantwortliche Brüder und andere verhaftet, die im Untergrund Schriften vervielfältigten. Die sowjetischen Behörden stuften unsere Schriften als antisowjetisch ein. Den Zeugen wurde zu Unrecht eine subversive Tätigkeit vorgeworfen, woraufhin viele zum Tode verurteilt wurden. Die Todesurteile wurden jedoch in 25 Jahre Lagerhaft umgewandelt.

Die Brüder wurden dazu verurteilt, ihre Strafe in Sibirien zu verbüßen. Als sie einen Anwalt fragten, warum man sie so weit wegsende, antwortete er scherzhaft: „Vielleicht müsst ihr dort über euren Gott predigen.“ Wie sehr sich diese Worte später bewahrheiten sollten!

Von 1947 bis 1951 wurden viele verantwortliche Brüder verhaftet. Zeugen Jehovas wurden nicht nur eingesperrt, weil sie Schriften vervielfältigten, sondern auch, weil sie den Wehrdienst verweigerten, nicht an Wahlen teilnahmen und ihre Kinder nicht bei den Pionieren oder dem Komsomol (eine kommunistische Jugendorganisation) anmeldeten. Ein Zeuge Jehovas zu sein reichte als Verhaftungsgrund aus. Oft wurde vor Gericht vorsätzlich falsch ausgesagt. In der Regel hatte der Geheimdienst zu diesem Zweck Nachbarn oder Kollegen eingeschüchtert oder bestochen.

Manchmal verhielten sich Beamte wohlwollend, allerdings nicht öffentlich. Iwan Simtschuk wurde verhaftet und saß sechs Jahre in Einzelhaft. In der Einzelzelle herrschte Totenstille; er hörte nicht einmal Lärm von der Straße. Danach wurde er Verhören unterzogen. Aber der Untersuchungsbeamte sagte ihm zuvor, wie er auf die Fragen reagieren sollte: „Sag nichts darüber, woher oder von wem du die Schreibmaschinen und die Schriften erhalten hast. Antworte nicht auf solche Fragen.“ Auf dem Weg zum Verhör pflegte der Untersuchungsbeamte zu ihm zu sagen: „Iwan, halte durch. Gib nicht auf, Iwan!“

In manchen Dörfern war es Zeugen Jehovas verboten, Vorhänge an den Fenstern aufzuhängen. Dadurch sollten Nachbarn und Polizisten leicht erkennen können, ob die Zeugen in ihren Schriften lesen oder Zusammenkünfte abhalten würden. Die Brüder fanden trotzdem Wege, sich geistig zu ernähren. Manchmal war die „Bühne“ für den Wachtturm-Studienleiter etwas ungewöhnlich. Der Bruder, der das Wachtturm-Studium leitete und die Absätze vorlas, saß unter einem Tisch, dessen Tischdecke bis auf den Fußboden hing. Die „Zuhörer“ saßen um den Tisch herum, hörten aufmerksam zu und gaben Kommentare. Niemand ahnte, dass die Leute, die um den Tisch herum saßen, eine religiöse Zusammenkunft abhielten.

Zeugnisgeben vor Gericht

Michailo Dan, der schon erwähnt wurde, wurde Ende 1948 verhaftet. Damals war er verheiratet, hatte einen einjährigen Sohn, und seine Frau erwartete das zweite Kind. In der Verhandlung forderte der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren. In seinem letzten Wort an die Richter gebrauchte Bruder Dan Jeremia 26:14, 15 und sagte: „Ich bin in Ihrer Hand. Tun Sie mir gemäß dem, was gut, und gemäß dem, was recht ist in Ihren Augen. Nur sollten Sie auf jeden Fall wissen, dass Sie, wenn Sie mich zu Tode bringen, unschuldiges Blut auf sich und auf diese Stadt und auf ihre Bewohner bringen, denn in Wahrheit hat mich Jehova tatsächlich zu Ihnen gesandt, um vor Ihren Ohren alle diese Worte zu reden.“ Diese Warnung beeindruckte die Richter. Sie berieten sich und trafen ihre Entscheidung: zehn Jahre Gefängnis und fünf Jahre Verbannung in fernen Teilen Russlands.

Bruder Dan war für schuldig befunden worden, ein Vaterlandsverräter zu sein. Als er davon erfuhr, sagte er zu den Richtern: „Ich wurde in der Ukraine geboren, als sie zur Tschechoslowakei gehörte, und lebte später unter ungarischer Herrschaft; jetzt gehört unser Land zur Sowjetunion, und ich bin rumänischer Nationalität. Welches Vaterland soll ich denn verraten haben?“ Natürlich blieb man ihm die Antwort schuldig. Nach der Verhandlung hörte Bruder Dan, dass er glücklicher Vater einer Tochter geworden sei. Das half ihm, all die Entwürdigungen in den Gefängnissen und Lagern im Osten Russlands zu ertragen. Ende der 1940er Jahre verhungerten viele Brüder aus der Ukraine, aus Moldawien und Weißrussland in sowjetischen Gefängnissen. Bruder Dan verlor 25 Kilogramm an Gewicht.

Verfolgung von Schwestern in der Ukraine

Unter dem Sowjetregime wurden nicht nur Brüder verfolgt und zu langen Strafen verurteilt — Schwestern wurden genauso brutal behandelt. Marija Tomilko lernte zum Beispiel die Wahrheit während des Zweiten Weltkriegs im Konzentrationslager Ravensbrück kennen. Später kehrte sie in die Ukraine zurück und predigte in Dnjepropetrowsk. Wegen ihrer Predigttätigkeit wurde sie 1948 zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt.

Eine andere Schwester, die zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt worden war, entsinnt sich: „Während der Untersuchungshaft kam ich mit vielen Verbrecherinnen in eine Zelle. Ich hatte jedoch keine Angst vor den Frauen und predigte ihnen. Zu meiner Überraschung hörten sie mir aufmerksam zu. Die Zelle war voll belegt. Wir schliefen alle auf dem Fußboden, so eng aneinander wie Ölsardinen. Wenn wir uns im Schlaf umdrehen wollten, konnten wir das nur alle gleichzeitig auf Kommando tun.“

Im Jahre 1949 gab ein Baptistenführer in der Stadt Saporoschje dem Geheimdienst Auskünfte über fünf unserer Schwestern, die dann verhaftet wurden. Ihnen wurde antisowjetische Propaganda vorgeworfen, wofür jede Schwester zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Ihr ganzes Eigentum wurde beschlagnahmt. 7 Jahre brachten sie bis zur Begnadigung im hohen Norden Russlands zu. Lidija Kurdas, eine jener Schwestern, erinnert sich: „Wir durften nur zweimal im Jahr nach Hause schreiben, und die Briefe wurden gründlich zensiert. Die ganze Zeit über hatten wir keine Literatur.“ Doch sie blieben Jehova treu und fuhren fort, das Königreich zu verkündigen.

Hilfe für die Brüder in Moldawien

Selbst in diesen schweren Zeiten zeigten die Zeugen ihre Liebe zueinander. 1947 kam es im benachbarten Moldawien zu einer schweren Hungersnot. Obwohl die Brüder in der Ukraine selbst arm waren, reagierten sie sofort auf die Not ihrer moldawischen Mitbrüder und sandten ihnen Mehl. Zeugen in der Westukraine luden eine Anzahl Zeugen aus Moldawien für längere Zeit zu sich nach Hause ein.

Ein Bruder, der damals in Moldawien lebte, erinnert sich: „Als Waisenkind standen mir vom Staat jeden Tag 200 Gramm Brot zu. Da ich aber nicht dem Komsomol angehörte, bekam ich nichts. Wir waren sehr froh, als die Brüder aus der Westukraine uns Mehl schickten, sodass jeder Verkündiger 4 Kilogramm bekommen konnte.“

Gesetzliche Registrierung in der UdSSR angestrebt

Im Jahre 1949 beantragten drei Älteste aus Wolhynien (Mikola Pjatocha, Illja Babitschuk und Michailo Tschumak) die gesetzliche Eintragung unseres Werkes. Kurz darauf wurde Bruder Tschumak verhaftet. Einer der beiden anderen Brüder, Mikola Pjatocha, erinnert sich, dass auf den ersten Antrag keine Antwort kam. Deshalb wurde in Moskau ein zweiter Antrag eingereicht. Die Schriftstücke wurden nach Kiew weitergeleitet. Den Brüdern wurde erlaubt, bei den dortigen Beamten vorzusprechen, wo ihnen dann eröffnet wurde, dass eine Registrierung der Zeugen Jehovas nur möglich sei, wenn sie mit ihnen zusammenarbeiten würden. Die Brüder gingen natürlich nicht auf die Forderung ein, von ihrer neutralen Haltung abzurücken. Bald darauf wurden auch diese beiden Brüder verhaftet und zu jeweils 25 Jahren Lagerhaft verurteilt.

In einem besonderen Memorandum, das die Behörden in Wolhynien aus Moskau erhielten, hieß es, die „Sekte“ der Zeugen Jehovas sei „eine ausgesprochen antisowjetische Bewegung und nicht registrierungswürdig“. Der Chef des Büros für religiöse Angelegenheiten wurde angewiesen, die Zeugen Jehovas zu überwachen und dem Geheimdienst darüber Meldung zu erstatten.

Geistliche leisten den Behörden Beihilfe

Im Jahre 1949 beschwerte sich in Transkarpatien ein Baptistenführer beim zuständigen Amt, Jehovas Zeugen würden Mitglieder seiner Kirchengemeinde bekehren. Daraufhin wurde Michailo Tilnjak, ein Versammlungsältester, festgenommen und zu zehn Jahren Haft verurteilt. Seine Frau stand mit zwei kleinen Kindern zu Hause allein da.

Ein solches Vorgehen von Geistlichen öffnete aufrichtigen Menschen die Augen für das wertvolle Werk der Zeugen Jehovas. 1950 erfuhr Wasilina Biben, eine junge Baptistin aus Transkarpatien, dass der Prediger ihrer Gemeinde zwei Zeugen aus ihrem Ort wegen ihrer Tätigkeit angezeigt hatte. Die Zeugen wurden verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Als sie entlassen wurden und nach Hause zurückkehrten, verhielten sie sich aber nicht feindlich gegenüber dem Prediger. Wasilina erkannte, dass diese Zeugen es mit der Nächstenliebe wirklich ernst nahmen. Beeindruckt davon, studierte sie mit den Zeugen die Bibel und ließ sich taufen. Sie sagt: „Ich bin Jehova dankbar, dass ich den Weg zu ewigem Leben gefunden habe.“

Deportation nach Russland

Die biblischen Wahrheiten, die Jehovas Zeugen verkündigten, waren mit dem atheistischen Gedankengut der kommunistischen Herrschaft unvereinbar. Die Zeugen waren gut organisiert, und sie produzierten und verbreiteten heimlich Schriften, die das Königreich Gottes bekannt machten. Außerdem verbreiteten sie die biblischen Lehren unter Nachbarn und Verwandten. Zwischen 1947 und 1950 wurden über 1 000 Zeugen verhaftet. Dennoch stieg die Zahl der Brüder weiterhin. 1951 schmiedeten die Behörden heimlich einen Plan, von dem sie sich die Zerschlagung des Volkes Gottes versprachen. Sie wollten die verbliebenen Zeugen 5 000 Kilometer nach Osten deportieren, ins ferne Sibirien.

Am 8. April 1951 wurden über 6 100 Zeugen aus der Westukraine nach Sibirien deportiert. Frühmorgens fuhren mit Soldaten besetzte Lastwagen bei den Zeugen zu Hause vor und gaben den Familien nur zwei Stunden Zeit, ihre Sachen für die Reise zu packen. Lediglich Wertgegenstände und persönliche Sachen durften mitgenommen werden. Alle, die zu Hause angetroffen wurden, mussten mit — Männer, Frauen und Kinder. Es wurden keine Ausnahmen wegen hohen Alters oder schlechter Gesundheit gemacht. In Windeseile wurden alle an einem Tag in Viehwaggons zusammengepfercht und auf die Reise geschickt.

Wer an dem Tag nicht zu Hause war, blieb zurück, und es wurde nicht weiter nach ihm gefahndet. Einige beantragten offiziell, zu ihren deportierten Familien zu dürfen. Die Behörden gingen auf solche Anfragen nicht ein und schwiegen auch darüber, wohin ihre Verwandten gesandt worden waren.

Neben den ukrainischen wurden auch andere Zeugen aus Moldawien, dem westlichen Weißrussland, Litauen, Lettland und Estland deportiert. Insgesamt wurden aus den sechs Republiken etwa 9 500 Zeugen deportiert. Sie wurden unter Militärbegleitung in Güterwagen verfrachtet, die man Kuhställe nannte, weil man sie normalerweise nur für Viehtransporte benutzte.

Niemand von den Zeugen wusste, wohin es gehen sollte. Auf der weiten Reise beteten sie, sangen Lieder und halfen sich gegenseitig. Einige hängten Tücher aus dem Güterwagen, auf denen stand: „Wir sind Zeugen Jehovas aus Wolhynien“ oder: „Wir sind Zeugen Jehovas aus der Gegend von Lwiw“. Wenn der Zug unterwegs auf Bahnhöfen anhielt, konnten sie andere Züge mit ähnlichen Hinweisen aus anderen Teilen der Westukraine sehen. Daran erkannten die Brüder, dass auch Zeugen aus anderen Gegenden deportiert wurden. Diese „Telegramme“ stärkten die Brüder auf ihrer zwei- bis dreiwöchigen Eisenbahnfahrt nach Sibirien.

Die Umsiedlung war als Verbannung auf Lebenszeit gedacht. Es war vorgesehen, die Zeugen Jehovas nie mehr aus Sibirien zurückkehren zu lassen. Sie waren dort zwar nicht im Gefängnis, mussten aber regelmäßig auf der örtlichen Meldestelle erscheinen. Wer dies versäumte, musste mit einer mehrjährigen Gefängnisstrafe rechnen.

Bei der Ankunft ließ man die Zeugen einfach im Wald aussteigen und gab ihnen Äxte, damit sie Bäume für den Bau von Unterkünften fällen und sich andere lebensnotwendige Dinge beschaffen konnten. Um die ersten Winter zu überleben, mussten sie sich oft primitive Behausungen machen, indem sie Gruben aushoben, die sie dann mit Torf abdeckten.

Hrihorii Melnik, der heute auf der Krim als Ältester dient, erinnert sich: „Nach der Verhaftung meiner Schwester im Jahre 1947 wurde ich oft zum Verhör abgeholt. Man schlug mich mit Rohrstöcken. Mehrere Male ließ man mich 16 Stunden lang an der Wand stehen. All das geschah, um mich zu einer Falschaussage gegen meine ältere Schwester zu bewegen, die eine Zeugin war. Damals war ich 16 Jahre alt. Weil ich nicht gegen sie aussagen wollte, konnte die Behörde mich nicht leiden und wollte mich loswerden.

Daher wurden wir alle 1951 nach Sibirien verbannt, obwohl meine beiden jüngeren Brüder, meine jüngere Schwester und ich Waisen waren. Unsere Eltern waren bereits verstorben, und mein älterer Bruder und meine ältere Schwester verbüßten gerade zehnjährige Gefängnisstrafen. Mit 20 Jahren hatte ich die Aufgabe, für meine beiden jüngeren Brüder und meine jüngere Schwester zu sorgen.

Ich erinnere mich oft an die ersten beiden Jahre in Sibirien, in denen wir von Kartoffeln und Tee lebten. Den Tee schlürften wir von Suppentellern — Tassen waren damals Luxus. Geistig ging es uns dagegen gut. In den ersten Tagen nach der Ankunft begann ich Zusammenkünfte für die Öffentlichkeit abzuhalten. Später folgte auch die Theokratische Predigtdienstschule. Diese Aufgaben fielen mir nicht leicht, denn die körperliche Arbeit, die nötig war, um für meine jüngeren Brüder und für meine Schwester zu sorgen, erschöpfte mich sehr.“ Trotz solch harter Zeiten blieben die Melniks Jehova und seiner Organisation treu.

Kurz bevor die Zeugen eintrafen, verbreiteten die Behörden das Gerücht, es kämen Kannibalen nach Sibirien; man wollte dadurch den Kontakt zwischen den Zeugen und den Einheimischen verhindern. Nachdem einmal eine Gruppe von Zeugen angekommen war, mussten sie einige Tage warten, bis ihnen eine Unterkunft in den Dörfern zugeteilt wurde. Deshalb saßen sie unter freiem Himmel am Ufer des zugefrorenen Tschulim. Es war zwar schon Mitte April, aber es lag noch viel Schnee. Die Brüder machten ein großes Feuer, wärmten sich, sangen Lieder, beteten und erzählten sich, was sie auf der Reise alles erlebt hatten. Sie wunderten sich allerdings, dass niemand von den Dorfbewohnern zu ihnen herüberkam. Stattdessen verriegelten sie Fenster und Türen und baten keinen Zeugen herein. Am dritten Tag gingen die mutigsten Dorfbewohner, mit Äxten bewaffnet, zu den Zeugen hinüber und begannen, sich mit ihnen zu unterhalten. Anfangs hatten sie wirklich geglaubt, Kannibalen seien angekommen. Aber sie merkten schnell, dass es anders war.

Im Jahre 1951 planten die Behörden, auch die Zeugen in Transkarpatien zu deportieren. Sie hatten sogar schon leere Güterwagen kommen lassen. Doch aus unbekanntem Grund ließ man die Deportationspläne fallen. Transkarpatien wurde zu einem der wichtigsten Gegenden, wo im Untergrund Literatur für die gesamte Sowjetunion hergestellt wurde.

Die Einheit bleibt

Da die meisten Brüder nach Sibirien verbannt worden waren, verloren viele der Zurückgebliebenen den Kontakt zur Organisation. So lebte zum Beispiel Marija Hretschina aus Tschernowzy über 6 Jahre abgeschnitten von der Organisation oder von Mitgläubigen. Trotzdem vertraute sie weiterhin auf Jehova und blieb treu. Von 1951 bis zur Mitte der 1960er Jahre war es in vielen Versammlungen nötig, dass Schwestern führend vorangingen, weil die meisten Brüder im Gefängnis saßen oder deportiert worden waren.

Michailo Dasewitsch, Augenzeuge jener Ereignisse, erzählt: „Von der Verbannung nach Sibirien war ich nur indirekt betroffen, weil ich noch in Russland im Gefängnis saß, als diejenigen in Listen eingetragen wurden, die verbannt werden sollten. Kurz nachdem ich in die Ukraine zurückgekehrt war, wurden die meisten Zeugen aus meiner Gegend nach Sibirien geschickt. Daher musste ich nach einzelnen Zeugen suchen, die den Kontakt zur Organisation verloren hatten, und sie in Buchstudiengruppen und Versammlungen zusammenfassen. Das bedeutete, dass ich wie ein Kreisaufseher tätig war, obwohl mir niemand diese Aufgabe zugeteilt hatte. Jeden Monat besuchte ich alle Versammlungen, sammelte Berichte ein und brachte die Literatur, die wir noch besaßen, von einer Versammlung zur anderen. Oft übernahmen unsere Schwestern Arbeiten eines Versammlungsdieners, und in manchen Gegenden nahmen sie Aufgaben eines Kreisdieners wahr, da keine Brüder da waren. Sicherheitshalber hielten wir alle Besprechungen mit den Versammlungsdienern des Kreises nachts auf Friedhöfen ab. Wir wussten, dass die Leute allgemein vor den Toten Angst hatten, daher konnten wir sicher sein, dass wir ungestört waren. Bei solchen Besprechungen flüsterten wir gewöhnlich. Einmal flüsterten wir wahrscheinlich etwas zu laut, als zwei Männer am Friedhof vorbeigingen; deshalb rannten sie, so schnell sie konnten, davon. Sie meinten wohl, sie hätten die Toten reden gehört!“

Nach der Deportation im Jahre 1951 setzte Mikola Ziba, der damalige Landesdiener, die Herstellung biblischer Literatur im Untergrund in einem Bunker fort. 1952 ermittelte der Geheimdienst seinen Aufenthaltsort und verhaftete ihn, sodass er viele Jahre im Gefängnis verbrachte. Bruder Ziba blieb bis zu seinem Tod im Jahre 1978 treu. Außer Bruder Ziba wurden eine Reihe Brüder, die ihm behilflich gewesen waren, ebenfalls verhaftet.

In jener Zeit hatten die Brüder keine Verbindung zum Ausland. Deshalb konnten sie die laufende Literatur nicht rechtzeitig erhalten. Einmal gelang es Brüdern, rumänische Wachtturm-Ausgaben für die Jahre 1945 bis 1949 zu bekommen. Diese wurden dann von den Brüdern vor Ort ins Ukrainische und Russische übersetzt.

Die Zeugen in der Ukraine, die nicht deportiert worden waren und die nicht im Gefängnis saßen, waren sehr um ihre Glaubensbrüder besorgt. Mit großer Mühe erstellten sie eine Liste mit den Namen derer, die im Gefängnis waren, um ihnen Kleidung, Nahrung und Literatur senden zu können. Zum Beispiel blieben die Zeugen Jehovas in Transkarpatien mit Brüdern in Kontakt, die sich in 54 Gefangenenlagern an verschiedenen Orten der Sowjetunion befanden. Viele Versammlungen stellten einen zusätzlichen Spendenkasten mit der Aufschrift „Gute Hoffnung“ auf. Das Geld aus diesen Kästen kam denjenigen zugute, die im Gefängnis saßen. Wenn zusammen mit den Predigtdienstberichten herzliche Dankesbriefe aus den Gefängnissen und Lagern eingingen, war das für die treuen und opferbereiten Brüder in Freiheit eine große Ermunterung.

Die Lage bessert sich

Nach dem Tod des sowjetischen Regierungschefs Josef Stalin besserte sich die Haltung gegenüber den Zeugen. 1953 erließ die UdSSR eine Amnestie, die zur Freilassung einiger Brüder führte. Später wurde eine staatliche Kommission gebildet, welche die verhängten Strafen überprüfte. Daraufhin wurden viele Brüder freigelassen, und bei anderen wurde das Strafmaß herabgesetzt.

In den Jahren darauf wurden die meisten Zeugen aus dem Gefängnis entlassen. Die Amnestie betraf jedoch nicht im Jahr 1951 Deportierte. In manchen Lagern gab es mehr Gefangene, die Zeugen Jehovas geworden waren, als Zeugen, die man ursprünglich dorthin gesandt hatte. Dieses Wachstum ermunterte die Brüder und überzeugte sie davon, dass Jehova sie für ihre Standhaftigkeit in jener Zeit gesegnet hatte.

Nach der Entlassung konnten viele Brüder nach Hause zurückkehren. Man bemühte sich sehr, die Zeugen zu finden, die den Kontakt zur Organisation verloren hatten. Wolodimir Wolobujew, der im Gebiet Donezk lebte, entsinnt sich: „Bis zu meiner nächsten Verhaftung im Jahre 1958 konnte ich ungefähr 160 Zeugen ausfindig machen, die von der Organisation getrennt worden waren, und ihnen beistehen.“

Die Amnestie bedeutete nicht, dass die Brüder freier predigen konnten. Viele Brüder und Schwestern wurden zwar freigelassen, aber bald danach wieder zu langen Gefängnisstrafen verurteilt. Marija Tomilko aus Dnjepropetrowsk verbrachte wegen der Amnestie vom März 1955 zum Beispiel nur 8 Jahre von 25 Jahren im Gefängnis. 3 Jahre später wurde sie jedoch zu 10 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Verbannung verurteilt. Warum? In dem Gerichtsurteil hieß es: „Sie besaß und las Druckschriften und handgeschriebene Manuskripte jehovistischen Stoffs“ und „war aktiv tätig, indem sie jehovistische Glaubenslehren unter ihren Mitmenschen verbreitete“. 7 Jahre darauf wurde sie als körperbehindert entlassen. Schwester Tomilko erlitt alle Arten von Prüfungen und ist bis auf den heutigen Tag treu geblieben.

Die Liebe versagt nie

Die Behörden bemühten sich vor allem, die Familien der Zeugen zu trennen. Oft stellte der Staatssicherheitsdienst die Zeugen vor die Wahl: Gott oder die Familie. In den meisten Fällen bewiesen die Zeugen trotz schlimmster Prüfungen ihre Loyalität gegenüber Jehova.

Hanna Bokotsch aus Transkarpatien, deren Mann Nuzu wegen seines eifrigen Predigens verhaftet wurde, entsinnt sich: „Mein Mann musste im Gefängnis zahlreiche Schikanen ertragen. Er war sechs Monate lang in einer Einzelzelle untergebracht und hatte kein Bett, sondern nur einen Stuhl. Er wurde brutal geschlagen und bekam kaum etwas zu essen. Nach wenigen Monaten wog er nur noch 36 Kilo, nur halb so viel wie vorher.“

Seine treue Frau blieb mit ihrem Töchterchen allein zurück. Die Behörden bedrängten Bruder Bokotsch, von seinem Glauben abzurücken und für sie tätig zu werden. Man forderte ihn auf, zwischen seiner Familie und dem Tod zu wählen. Bruder Bokotsch wurde aber seiner inneren Überzeugung ebenso wenig untreu wie Jehova und seiner Organisation. Er verbrachte 11 Jahre in verschiedenen Gefängnissen und setzte nach der Entlassung seine christliche Tätigkeit als Ältester und später als Kreisaufseher fort, bis er 1988 starb. Ihn stärkten oft die Worte in Psalm 91:2: „Ich will zu Jehova sagen: ‚Du bist meine Zuflucht und meine Feste, mein Gott, auf den ich vertrauen will.‘ “

Betrachten wir ein weiteres Beispiel für großes Ausharren. Jurii Popscha war Kreisaufseher in Transkarpatien. Zehn Tage nach seiner Hochzeit wurde er verhaftet. Statt in die Flitterwochen zu fahren, verbrachte er in Mordwinien (Russland) zehn Jahre im Gefängnis. Seine treue Frau Marija besuchte ihn 14-mal und reiste jedes Mal 1 500 Kilometer hin und 1 500 Kilometer wieder zurück. Gegenwärtig dient Bruder Popscha als Ältester in einer der Versammlungen in Transkarpatien, und seine geliebte Marija unterstützt ihn liebevoll.

Ein weiteres Beispiel für Ausharren in überaus schweren Zeiten sind Olexii und Lidija Kurdas, ein Ehepaar aus Saporoschje. Im März 1958 wurden sie verhaftet, 17 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Halina. In derselben Gegend verhaftete man noch 14 andere. Bruder Kurdas wurde zu 25 Jahren Gefangenenlager verurteilt und seine Frau zu 10 Jahren. Man trennte sie voneinander; Olexii kam in verschiedene Lager in Mordwinien, und Lidija wurde mit ihrer Tochter nach Sibirien geschickt.

Schwester Kurdas beschreibt die dreiwöchige Reise von der Ukraine nach Sibirien wie folgt: „Es war schrecklich. Ich war mit meiner Tochter, mit Nadija Wischnijak und ihrem erst wenige Tage alten in Untersuchungshaft geborenen Baby sowie mit zwei anderen Schwestern zusammen. Wir sechs wurden in ein Güterwagenabteil gesteckt, das eigentlich nur für zwei Gefangene gedacht war. Wir legten die Kinder in das untere Bett, und wir saßen die ganze Reise über dicht gedrängt im oberen Bett. Wir lebten von Brot, Salzheringen und Wasser. Verpflegung wurde nur für vier erwachsene Gefangene gebracht. Für unsere Kinder bekamen wir nichts.

Als wir am Bestimmungsort ankamen, wurde ich mit meinem Kind im Gefängniskrankenhaus untergebracht. Dort traf ich mehrere unserer Schwestern und erzählte ihnen, der Untersuchungsbeamte habe mir angedroht, mir meine Tochter wegzunehmen und sie in ein Waisenhaus zu schicken. Irgendwie gelang es den Schwestern, die einheimischen sibirischen Brüder über meine verzweifelte Lage zu unterrichten. Später kam die 18 Jahre alte Tamara Burjak (heute Rawljuk) ins Lagerkrankenhaus, um meine Tochter Halina zu holen. Ich sah Tamara zum ersten Mal. Es tat mir sehr weh, mein liebes Mädchen an eine unbekannte Frau abzugeben, auch wenn sie meine Glaubensschwester war. Es tröstete mich jedoch sehr, von den Schwestern im Lager zu hören, welch eine loyale Familie die Burjaks waren. Mein Töchterchen war 5 Monate und 18 Tage alt, als ich sie Tamara zur Betreuung übergab. Erst nach 7 Jahren war ich wieder mit meiner Tochter zusammen.

Im Jahre 1959 verkündete die UdSSR erneut eine Amnestie. Sie betraf Frauen mit Kindern unter sieben Jahren. Doch die Gefängnisbeamten sagten zu mir, ich müsse zuerst meinem Glauben abschwören. Ich ging darauf nicht ein und musste daher im Gefangenenlager bleiben.“

Bruder Kurdas kam 1968 im Alter von 43 Jahren frei. Insgesamt hatte er wegen der Wahrheit 15 Jahre im Gefängnis verbracht, darunter 8 Jahre in einer besonders gesicherten Anstalt. Schließlich kehrte er zu seiner Frau und seiner Tochter in die Ukraine zurück. Ihre Familie war endlich wieder vereint. Als Halina ihren Vater wiedersah, setzte sie sich auf seinen Schoß und sagte: „Papi, ich habe viele Jahre nicht auf deinem Schoß sitzen können, deshalb muss ich das jetzt nachholen.“

Danach zog die Familie Kurdas von einem Ort zum anderen um, weil die kommunalen Behörden sie immer wieder von ihrem Wohnsitz vertrieben. Zuerst lebten sie im Osten der Ukraine, dann im Westen von Georgien und im Norden des Kaukasus. Schließlich zogen sie nach Charkow, wo sie glücklicherweise immer noch wohnen. Halina ist jetzt verheiratet. Sie alle dienen weiterhin treu ihrem Gott Jehova.

Ein außergewöhnlich beispielhafter Glaube

Zuweilen dauerten schwierige Glaubensprüfungen Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte. Betrachten wir ein Beispiel. Jurii Kopos wuchs in der Nähe von Chust auf, einer schönen Stadt in Transkarpatien. 1938 wurde er im Alter von 25 Jahren ein Zeuge Jehovas. 1940, während des Zweiten Weltkriegs, verurteilte man ihn zu acht Monaten Gefängnis, weil er es ablehnte, in die ungarische Armee einzutreten, die damals das NS-Regime unterstützte. In Transkarpatien war es gesetzlich verboten, religiöse Häftlinge hinzurichten. Deshalb wurden die Brüder an die Front geschickt, wo das NS-Recht solche Hinrichtungen zuließ. 1942 wurde Bruder Kopos unter militärischer Bewachung zusammen mit anderen, darunter 21 Zeugen, an die Front in der Nähe von Stalingrad geschickt. Sie wurden dorthin gebracht, um hingerichtet zu werden. Kurz nach ihrer Ankunft startete die Sowjetarmee einen Angriff und nahm deutsche Soldaten und auch die Brüder gefangen. Die Zeugen wurden in ein sowjetisches Gefangenenlager gebracht, wo sie bis zu ihrer Freilassung im Jahre 1946 blieben.

Bruder Kopos kehrte heim und setzte sich in seinem Heimatgebiet fleißig im Predigtwerk ein. Deswegen verurteilten ihn die sowjetischen Justizbehörden 1950 zu 25 Jahren Gefangenenlager. Zufolge einer Amnestie setzte man ihn jedoch nach sechs Jahren wieder auf freien Fuß.

Nach seiner Entlassung hatte der jetzt 44-jährige Bruder Kopos vor, Hanna Schischko zu heiraten. Sie war auch eine Zeugin und war nach Verbüßung einer Strafe von zehn Jahren kurz zuvor entlassen worden. Beide reichten die Papiere für die standesamtliche Trauung ein. Am Abend vor ihrer Hochzeit wurden sie wieder verhaftet und zu zehn Jahren Gefangenenlager verurteilt. Sie überlebten jedoch diese schweren Zeiten, und ihre Liebe ertrug alles, auch einen zehnjährigen Aufschub ihrer Heirat (1. Kor. 13:7). Schließlich heirateten sie nach ihrer Freilassung im Jahre 1967.

Damit ist ihre Geschichte aber noch nicht zu Ende. 1973 wurde Bruder Kopos, der mittlerweile 60 Jahre alt war, erneut verhaftet und zu fünf Jahren Gefangenenlager und fünf Jahren Verbannung verurteilt. Die Zeit seiner Verbannung verbrachte er zusammen mit seiner Frau Hanna in Sibirien, 5 000 Kilometer von seinem Heimatort Chust entfernt. Diese Gegend war weder mit dem Auto noch mit der Eisenbahn zu erreichen, sondern nur mit dem Flugzeug. 1983 kehrte Bruder Kopos zusammen mit seiner Frau nach Chust zurück. Hanna verstarb 1989, und er diente Jehova weiter treu bis zu seinem Tod im Jahre 1997. Insgesamt verbrachte Bruder Kopos 27 Jahre in verschiedenen Gefängnissen und 5 Jahre in der Verbannung — insgesamt 32 Jahre.

Dieser einfache und sanftmütige Mann verbrachte fast ein Dritteljahrhundert in sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern. Solch ein außergewöhnlich beispielhafter Glaube zeigt deutlich, dass Feinde loyale Diener Gottes nicht dazu veranlassen können, ihre Lauterkeit aufzugeben.

Vorübergehend gespalten

Der Feind des Menschen, Satan, der Teufel, benutzt vielfältige Methoden, um gegen die wahren Anbeter zu kämpfen. Neben körperlicher Misshandlung versucht er, unter den Brüdern Zweifel und Zwietracht zu säen. Das wird durch die Geschichte der Zeugen Jehovas in der Ukraine besonders deutlich.

In den 1950er Jahren wurden Jehovas Zeugen unermüdlich schikaniert. Die Behörden suchten ständig nach Orten, wo Schriften vervielfältigt wurden. Immer wieder wurden verantwortliche Brüder verhaftet. Deswegen mussten die Brüder, welche die Aufsicht über das Werk innehatten, immer wieder ersetzt werden, und zwar alle paar Monate.

Als der Staatssicherheitsdienst einsah, dass Jehovas Zeugen durch Verbannung, Gefängnis, buchstäbliche Gewalt und Folter nicht zum Verstummen gebracht werden konnten, wandte er neue Taktiken an. Man versuchte, die Organisation von innen heraus zu spalten, indem man unter den Brüdern Misstrauen säte.

Mitte der 1950er Jahre stellte der Staatssicherheitsdienst die direkte Verhaftung aller aktiven und verantwortlichen Brüder ein und begann damit, sie zu überwachen. Die Brüder wurden regelmäßig in die Büros der Staatssicherheit bestellt. Man sagte ihnen, sie würden Geld und eine gute Stellung erhalten, wenn sie mit ihnen zusammenarbeiten würden. Sich zu weigern würde zu Gefängnisstrafen und erniedrigender Behandlung führen. Einige wenige, denen es an Glauben mangelte, blieben aus Furcht oder Habgier nicht standhaft. Sie hielten sich zwar weiterhin in der Organisation auf, dienten aber als Informanten des Sicherheitsdienstes über die Aktivitäten von Jehovas Zeugen. Außerdem führten sie gehorsam die Anweisungen der Behörden aus, sodass unschuldige Brüder von anderen treuen Brüdern als Verräter angesehen wurden. All das erzeugte ein Klima des Misstrauens unter den Brüdern.

Pawlo Sjatek litt sehr unter diesem Misstrauen und unter grundlosen Verdächtigungen. Dieser demütige und eifrige Bruder verbrachte viele Jahre in Gefangenenlagern und widmete sein ganzes Leben dem Dienst für Jehova.

In der Mitte der 1940er Jahre war Bruder Sjatek Landesdiener. Er wurde verhaftet und verbrachte zehn Jahre in einem Gefängnis in der Westukraine. 1956 wurde er entlassen und 1957 nahm er seine Tätigkeit als Landesdiener wieder auf. Zum Landeskomitee gehörten außer Bruder Sjatek acht weitere Brüder: vier aus Sibirien und vier aus der Ukraine. Diese Brüder hatten die Aufsicht über das Königreichspredigtwerk in der gesamten UdSSR.

Die riesigen Entfernungen und die anhaltende Verfolgung machten eine gute Kommunikation zwischen den Brüdern und regelmäßige Besprechungen unmöglich. Mit der Zeit gerieten Gerüchte und Geschwätz über Bruder Sjatek und andere Komiteemitglieder in Umlauf. Es hieß, Bruder Sjatek arbeite mit der Staatssicherheit zusammen, er habe sich ein großes Haus mit Mitteln gebaut, die zur Förderung des Zeugniswerkes eingesetzt werden sollten, und man habe ihn in Militäruniform gesehen. Solche Berichte wurden in einem Sammelalbum zusammengefasst und an Kreis- und Bezirksaufseher in Sibirien gesandt. Keine der Anschuldigungen entsprach der Wahrheit.

Schließlich sandten ab März 1959 einige Kreisaufseher in Sibirien keine Predigtdienstberichte mehr an das Landeskomitee. Diejenigen, die sich abgespalten hatten, hatten dies ohne Rücksprache mit der Zentrale getan. Auch missachteten sie die Anweisungen der ernannten Brüder am Ort, die die Aufsicht innehatten. Dies verursachte in den Reihen der Zeugen Jehovas in der UdSSR eine jahrelange Spaltung.

Die Brüder, die sich abgespalten hatten, überredeten andere Kreisaufseher zu einer ähnlichen Haltung. Das führte dazu, dass die monatlichen Predigtdienstberichte einiger Kreise an die Brüder gesandt wurden, die sich abgespalten hatten, statt an das Landeskomitee. Die meisten Brüder in den Versammlungen wussten nicht, dass ihre Predigtdienstberichte nicht beim Landeskomitee eingingen, daher war die Tätigkeit der Versammlungen nicht davon betroffen. Bruder Sjatek reiste mehrmals nach Sibirien, woraufhin mehrere Kreise ihre Predigtdienstberichte wieder an das Landeskomitee sandten.

Rückkehr zu theokratischer Organisation

Am 1. Januar 1961 wurde Bruder Sjatek auf dem Heimweg von einer Dienstreise in Sibirien im Zug verhaftet. Er erhielt noch einmal eine zehnjährige Gefängnisstrafe, diesmal in einem „besonderen“ Gefangenenlager in Mordwinien (Russland). Was war an dem Lager so „Besonderes“?

Da die Brüder ihre Haftstrafen in unterschiedlichen Gefangenenlagern verbüßten, konnten sie anderen Gefangenen Zeugnis geben, und viele wurden Zeugen. Das störte die Behörden. Demzufolge beschlossen sie, führende Zeugen in einem einzigen Lager zusammenzufassen, damit sie anderen nicht predigen konnten. Gegen Ende der 1950er Jahre wurden mehr als 400 Brüder und fast 100 Schwestern aus verschiedenen Gefangenenlagern der UdSSR herausgeholt und in zwei Gefangenenlager in Mordwinien verlegt. Unter den Gefangenen waren Brüder aus dem Landeskomitee sowie Kreis- und Bezirksaufseher, die sich von Jehovas Mitteilungskanal abgespalten hatten. Als sie Bruder Sjatek unter den Gefangenen sahen, wurde ihnen klar, dass er wohl kaum mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet haben konnte.

Unterdessen waren bereits wegen der Verhaftung von Bruder Sjatek Schritte eingeleitet worden, dass Iwan Paschkowski die Aufgabe des Landesdieners übernehmen konnte. In der Mitte des Jahres 1961 traf sich Bruder Paschkowski mit verantwortlichen Brüdern aus Polen und erklärte ihnen, dass es unter den Brüdern in der UdSSR Spaltungen gäbe. Er bat darum, dass Nathan H. Knorr aus der Zentrale in Brooklyn Bruder Sjatek mit einem Brief den Rücken stärken sollte. Später, im Jahre 1962, erhielt Bruder Paschkowski ein Exemplar eines Briefes an die Zeugen Jehovas in der UdSSR, der vom 18. Mai 1962 datiert war. Darin hieß es: „Aus Mitteilungen, die mich von Zeit zu Zeit erreichen, geht hervor, das ihr in der UdSSR weiterhin den starken Wunsch habt, treue Diener Jehovas Gottes zu sein. Allerdings war es einigen von euch schwer gefallen, die Einheit untereinander zu bewahren. Wie ich meine, geht dies auf dürftige Kommunikationsmöglichkeiten zurück und auf Falschdarstellungen, die Gegner Jehovas Gottes vorsätzlich verbreitet haben. Daher teile ich euch in diesem Schreiben mit, dass Bruder Pawlo Sjatek und die Brüder, die mit ihm als verantwortungsvolle christliche Aufseher in der UdSSR zusammenarbeiten, von der Gesellschaft anerkannt werden. Zugeständnisse zu machen ist ebenso abzulehnen wie extreme Ansichten zu vertreten. Wir müssen in Bezug auf Gottes Grundsätze gesunden Sinnes sein, vernünftig, anpassungsfähig und auch konsequent.“

Dieser Brief und die Tatsache, dass Bruder Sjatek zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war, trugen zur Einheit des Volkes Jehovas in der UdSSR bei. In den Gefängnissen und Gefangenenlagern kehrten allmählich viele abgespaltene Brüder wieder in die Organisation zurück. Sie sahen ein, dass Bruder Sjatek die Organisation nicht verraten hatte und dass das Hauptbüro uneingeschränkt hinter ihm stand. Wenn diese inhaftierten Brüder ihren Angehörigen und Freunden schrieben, ermunterten sie die Ältesten ihrer Versammlung, die Brüder aufzusuchen, die treu geblieben waren, und über ihre Predigttätigkeit zu berichten. Innerhalb der nächsten zehn Jahre folgte die Mehrheit derer, die sich abgespalten hatten, diesem Rat, wenngleich die angestrebte Vereinigung, wie wir noch sehen werden, eine schwierige Aufgabe blieb.

In Gefangenenlagern treu bleiben

Das Leben in den Gefangenenlagern war hart. Doch den inhaftierten Zeugen ging es wegen ihres Geistiggesinntseins oft besser als anderen Gefangenen. Sie hatten Schriften und sie pflegten Gedankenaustausch mit reifen Mitgläubigen. All das trug zu einer guten Stimmung bei und auch zu geistigem Wachstum. In einem Gefangenenlager vergruben Schwestern Literatur so geschickt, dass niemand sie finden konnte. Ein Inspektor sagte einmal, man müsse das Gelände um das Gefängnis herum zwei Meter tief umgraben und den Boden durchsieben, um alle „antisowjetische Literatur“ zu beseitigen. Die inhaftierten Schwestern studierten die Zeitschriften so gründlich, dass einige noch heute, 50 Jahre danach, Abschnitte aus jenen Ausgaben des Wachtturms aufsagen können.

Die Brüder und Schwestern blieben Jehova treu und rückten trotz schwerer Zeiten nicht von biblischen Grundsätzen ab. Marija Hretschina, die fünf Jahre wegen ihrer Predigttätigkeit in Gefangenenlagern verbrachte, berichtet Folgendes: „Als wir den Wachtturm mit dem Artikel ,Schuldlos durch Respekt vor der Heiligkeit des Blutes‘ erhielten, beschlossen wir, nicht im Speisesaal des Gefangenenlagers zu essen, wenn es Fleisch gab. Oft war das Fleisch in jenen Lagern nicht richtig ausgeblutet. Als der Leiter unseres Gefängnisses herausbekam, warum die Zeugen gewisse Mahlzeiten nicht aßen, beschloss er, sie zu zwingen, von ihren Grundsätzen abzurücken. Er befahl, jeden Tag — morgens, mittags und abends — Fleisch zu servieren. Zwei Wochen lang aßen wir nichts anderes als Brot. Wir vertrauten völlig auf Jehova, weil wir wussten, dass er alles sieht und weiß, wie lange jemand durchhalten kann. Am Ende der zweiten Woche solcher ,Ernährung‘ überlegte es sich der Leiter anders und es kam Gemüse, Milch und sogar etwas Butter auf den Tisch. Wir erkannten, dass sich Jehova wirklich um uns kümmerte.“

Hilfe, um ausharren zu können

Im Vergleich zu anderen Gefangenen behielten die Brüder eine sehr positive und zuversichtliche Lebensauffassung. Das befähigte sie, das Elend in den sowjetischen Gefängnissen zu ertragen.

Bruder Olexii Kurdas, der viele Jahre in Gefängnissen verbrachte, erzählt: „Was mir geholfen hat, auszuharren, war ein fester Glaube an Jehova und sein Königreich, die theokratischen Betätigungen im Gefängnis und das regelmäßige Gebet. Was mir noch half, war die Überzeugung, dass ich Jehova wohlgefällig handelte. Ich hielt mich auch beschäftigt. Langeweile ist in allen Gefängnissen das Schlimmste. Es kann die Persönlichkeit zerstören und Geisteskrankheit verursachen. Daher achtete ich darauf, mich mit theokratischen Angelegenheiten beschäftigt zu halten. Aus der Gefängnisbücherei bestellte ich auch alle vorhandenen Bücher über Weltgeschichte, Geographie und Biologie. Ich suchte mir das heraus, was meine Lebensauffassung stützte. Auf diese Weise konnte ich meinen Glauben stärken.“

Im Jahre 1962 verbrachte Serhii Rawljuk drei Monate in Einzelhaft. Er konnte mit niemandem reden, nicht einmal mit den Gefängniswärtern. Um bei Verstand zu bleiben, versuchte er, sich an alle Schriftstellen zu erinnern, die er kannte. Ihm fielen mehr als tausend Bibeltexte ein und er schrieb sie mit einer Bleistiftmine auf kleine Zettel. Die Mine hielt er in einer Fuge im Boden versteckt. Er erinnerte sich auch an mehr als 100 Artikelüberschriften aus den Wachtturm-Ausgaben, die er zuvor studiert hatte. Außerdem berechnete er die Gedächtnismahldaten für die nächsten 20 Jahre. All das half ihm, nicht nur verstandesmäßig, sondern auch in geistiger Hinsicht durchzuhalten. Es hielt seinen Glauben an Jehova lebendig und stark.

„Dienste“ von Gefängniswärtern

Trotz Widerstands des Staatssicherheitsdienstes überwand unsere Literatur alle Hindernisse und gelangte sogar zu den Brüdern im Gefängnis. Dies blieb den Gefängniswärtern nicht verborgen, und von Zeit zu Zeit durchsuchten sie gründlich die Zellen und sahen buchstäblich in jeden Spalt. In dem Bemühen, Literatur zu finden, verlegten die Wärter die Gefangenen regelmäßig in andere Zellen. Bei solchen Verlegungen wurden die Gefangenen peinlich genau durchsucht, und wenn man Schriften fand, wurden diese beschlagnahmt. Wie verhinderten die Brüder, dass etwas entdeckt wurde?

Gewöhnlich verbargen sie die Schriften in Kopfkissen, Matratzen, Schuhen und unter ihrer Kleidung. In einigen Lagern schrieben sie die Wachtturm-Ausgaben in winziger Schrift ab. Wenn Gefangene verlegt wurden, wickelten die Brüder manchmal eine Miniaturzeitschrift in Plastikfolie ein und versteckten sie unter der Zunge. Auf diese Weise konnten sie die spärliche geistige Speise bewahren und sich geistig ernähren.

Wassilij Bunha verbrachte wegen der Wahrheit viele Jahre in Gefängnissen. Zusammen mit seinem Zellengenossen Petro Tokar baute er in einen Schreinerwerkzeugkasten einen doppelten Boden ein. Darin versteckten sie Originalausgaben einiger Publikationen, die ins Gefängnis geschmuggelt worden waren. Die beiden Brüder waren Gefängnisschreiner, und der Werkzeugkasten wurde ihnen jeweils ausgehändigt, wenn entsprechende Arbeiten im Gefängnis zu verrichten waren. Wenn sie den Kasten abholten, entnahmen sie die Originalzeitschrift, damit daraus abgeschrieben werden konnte. Nach getaner Arbeit wurde die Zeitschrift wieder in den Werkzeugkasten zurückgelegt. Der Gefängnisleiter bewahrte den Werkzeugkasten dreifach verschlossen und hinter zwei verriegelten Türen auf, weil Sägen, Beitel und andere Schreinerwerkzeuge von den Gefangenen als Waffen verwendet werden konnten. Demzufolge übersahen die Wärter bei den Durchsuchungen die biblische Literatur in dem Werkzeugkasten, den der Gefängnisleiter bei sich aufbewahrte.

Bruder Bunha fand noch einen Ort, an dem Originalexemplare von Schriften aufbewahrt werden konnten. Weil er nicht gut sehen konnte, besaß er mehrere Brillen. Jeder Gefangene durfte aber nur jeweils eine Brille in Gebrauch haben. Die anderen Brillen mussten an einem besonderen Ort aufbewahrt werden, und die Gefangenen konnten sie bei Bedarf anfordern. Bruder Bunha fertigte für seine Brillen spezielle Etuis an und brachte darin Miniaturausgaben von Publikationen unter. Wenn die Brüder Zeitschriften vervielfältigen wollten, bat Bruder Bunha die Gefängniswärter, ihm eine andere Brille zu bringen.

Es gab Situationen, in denen offenbar nur die Engel die Literatur vor dem Zugriff der Gefängniswärter bewahren konnten. Bruder Bunha erinnert sich an eine Begebenheit, bei der Tscheslaw Kaslauskas 20 Stück Seife ins Gefängnis brachte. Die Hälfte davon war mit unseren Veröffentlichungen bestückt. Der Gefängniswärter durchstach nach eigenem Gutdünken 10 Stück Seife und traf keines, das Literatur enthielt.

Anhaltende Einigungsbestrebungen

Seit 1963 war es dem Landeskomitee möglich, regelmäßig Predigtdienstberichte nach Brooklyn zu senden. Es wurde auch dafür gesorgt, dass die Brüder die Veröffentlichungen auf Mikrofilm erhielten. Damals gab es in der gesamten UdSSR 14 Kreise, von denen 4 in der Ukraine waren. Als das Volk Gottes an Zahl zunahm, wurden in der Ukraine 7 Bezirke gebildet. Aus Sicherheitsgründen erhielt jeder Bezirk einen weiblichen Vornamen. Der Bezirk in der Ostukraine hieß Alla, der in Wolhynien Ustina, der in Galizien Ljuba und in Transkarpatien gab es Bezirke mit den Namen Katja, Kristina und Mascha.

Unterdessen setzte das KGB (Komitee für Staatssicherheit) die Versuche fort, die Einheit der Zeugen zu zerstören. Der Vorsteher eines KGB-Büros schrieb an seinen Vorgesetzten: „In Bezug auf das Ziel, die Spaltung der Sekte voranzutreiben, arbeiten wir daran, die staatsfeindliche Tätigkeit der Jehovistenführer zu unterdrücken, sie in den Augen ihrer Koreligionisten zu diskreditieren und unter ihnen ein Klima des Misstrauens zu schaffen. Die KGB-Büros trafen Maßnahmen, die dazu beitrugen, diese Sekte in zwei gegnerische Gruppen zu spalten. Eine Gruppe besteht aus den Anhängern des Jehovistenführers Sjatek, der gegenwärtig eine Gefängnisstrafe verbüßt, und die andere Gruppe besteht aus der so genannten Opposition. Diese Umstände schufen günstige Bedingungen und gute Voraussetzungen für einen ideologischen Streit unter den allgemeinen Mitgliedern und für die weitere Auflösung von Organisationseinheiten.“ Dann wurde in dem Schreiben eingeräumt, dass die Bemühungen des KGB auf Schwierigkeiten stießen. Es hieß weiter: „Die reaktionärsten Jehovistenführer treffen Gegenmaßnahmen und versuchen, die Organisationseinheiten auf jede erdenkliche Weise zu festigen.“ Die Brüder setzten also die Einigungsbestrebungen fort, und Jehova segnete sie dabei.

Das KGB legte den abgespaltenen Brüdern einen gefälschten Brief von Bruder Knorr vor, in dem der Gedanke gefördert wurde, eine getrennte, unabhängige Organisation der Zeugen Jehovas zu bilden. Der Brief, in dem auf die Trennung von Abraham und Lot als Beispiel für eine erlaubte Trennung von dem Kanal der Organisation Gottes verwiesen wurde, wurde überall in der UdSSR verbreitet.

Treue Brüder sandten ein Exemplar des Briefes nach Brooklyn, und 1971 erhielten sie eine Antwort, die den Brief eindeutig als Fälschung entlarvte. In einem Brief an die Brüder, die noch von dem übrigen Volk Gottes getrennt waren, schrieb Bruder Knorr folgendes: „Die einzige Verbindungslinie, die die Gesellschaft benutzt, ist die über die ernannten Aufseher in eurem Land. Niemand außer diesen ernannten Aufsehern in eurem Land ist befugt, in irgendeiner Weise die Führung zu übernehmen. ... Die wahren Diener Jehovas bilden eine geeinte Gruppe. Daher hoffe ich sehr, dass ihr alle in die Einheit der Christenversammlung unter den ernannten Aufsehern zurückkehrt und dass wir uns vereint am Zeugnisgeben beteiligen.“

Dieser Brief förderte die Einigung unter den Brüdern sehr. Dennoch versuchten einige, wie bisher, unabhängig mit dem Hauptbüro in Kontakt zu treten, denn sie trauten dem bestehenden Verbindungsweg immer noch nicht. Daher beschlossen die Abgespaltenen einen Versuch zu machen. Sie sandten einen 10-Rubel-Schein nach Brooklyn und baten die Brüder, die Banknote durchzuschneiden und beide Hälften in die Ukraine zurückzusenden — eine Hälfte des Scheins an die abgespaltenen Brüder und die andere an die Brüder, deren sich das Hauptbüro bedienen sollte.

Daraufhin wurde eine Hälfte per Post gesandt und die andere Hälfte per Kurier den Brüdern vom Landeskomitee übergeben. Diese wiederum gaben ihre Hälfte den verantwortlichen Brüdern in Transkarpatien, die sich dann aufmachten, um sich mit den abgespaltenen Brüdern zu treffen. Einige der abgespaltenen Brüder, die wirklich dachten, die Mitglieder des Landeskomitees seien mit dem Staatssicherheitsdienst im Bunde, blieben jedoch misstrauisch.

Aber die meisten der abgespaltenen Brüder kehrten zur Organisation zurück. Die Bemühungen Satans und des KGB, die Organisation der Zeugen Jehovas in der UdSSR durch Meinungsverschiedenheiten zu zerschlagen, schlugen fehl. Jehovas Volk nahm an Zahl und Stärke zu und war sehr auf Einigung bedacht sowie fleißig beschäftigt mit dem Ausstreuen von Samen der Wahrheit in neuen Gebieten.

Wassilij Kalin sagte: „Man versuchte unserem Bestreben, ein christliches Leben zu führen, auf vielerlei Weise entgegenzuwirken. Doch wir predigten weiterhin anderen ungläubigen Deportierten. Diese waren aus verschiedenen Gründen und wegen verschiedener Vergehen in die Verbannung geschickt worden. Viele von ihnen interessierten sich für unsere Botschaft. Es kam ziemlich häufig vor, dass diese Menschen Zeugen Jehovas wurden, und das obwohl sie die Verfolgungsmaßnahmen kannten, die sowohl die Staatssicherheit als auch die Kommunalverwaltung gegen die Zeugen ergriff.“

Christliches Leben trotz Verbot

Verschaffen wir uns nun einen kurzen Überblick über das Leben in den ersten Jahrzehnten des Verbots. Ab 1939 war das Werk der Zeugen Jehovas in der gesamten Ukraine verboten. Ungeachtet dessen gingen das Predigen und die Versammlungstätigkeit weiter, wenngleich die Brüder beim Zeugnisgeben sehr vorsichtig sein mussten. Interessierten Personen gab man sich anfangs nie als Zeuge Jehovas zu erkennen. Heimbibelstudien wurden oft nur anhand der Bibel durchgeführt. Viele lernten auf diese Weise die Wahrheit kennen.

Die Versammlungszusammenkünfte fanden unter ähnlichen Umständen statt. An vielen Orten kamen die Brüder mehrmals in der Woche spätabends oder nachts zusammen. Sie verhängten die Fenster mit dicken Vorhängen, um nicht entdeckt zu werden, und studierten bei Petroleumlicht. In der Regel bekam eine Versammlung nur ein einziges Exemplar eines handgeschriebenen Wachtturms. Später erhielten die Brüder Zeitschriften, die mit Vervielfältigungsapparaten hergestellt wurden. Gewöhnlich versammelten sich die Brüder zweimal in der Woche in Privatwohnungen zum Wachtturm-Studium. Die Entschlossenheit der KGB-Beamten, Zusammenkunftsorte der Zeugen Jehovas ausfindig zu machen, um die verantwortlichen Brüder zu bestrafen, ließ nicht nach.

Die Brüder nutzten auch Hochzeiten und Begräbnisse als Gelegenheiten, sich zu versammeln und einander mit gut ausgearbeiteten Vorträgen zu ermuntern. Auf Hochzeiten trugen Brüder und Schwestern Gedichte zu biblischen Themen vor und führten auch biblische Dramen in Kostümen auf. Durch all das erhielten viele Anwesende, die keine Zeugen Jehovas waren, ein gutes Zeugnis.

In den 1940er und 1950er Jahren kamen viele Brüder allein wegen ihrer Anwesenheit bei solchen Zusammenkünften ins Gefängnis. In den 1960er Jahren änderte sich jedoch die Lage. Wenn eine Zusammenkunft entdeckt wurde, erstellte der Sicherheitsdienst eine Liste aller Anwesenden, und der Hauseigentümer erhielt eine Strafe in Höhe eines halben Monatseinkommens. Die Art, wie man nach dieser Methode verfuhr, war manchmal geradezu absurd. Einmal besuchten Mikola Kostjuk und seine Frau ihren Sohn. Sofort erschien der Sicherheitsdienst und erstellte eine Liste „aller Anwesenden“. Später erhielt Bruder Kostjuk einen Bußbescheid wegen einer „ungesetzlichen Zusammenkunft der Jehovisten“. Die Familie Kostjuk erhob Einspruch gegen den Bescheid, da keine Zusammenkunft stattgefunden hatte. Die Behörden erklärten daraufhin den Bußbescheid für ungültig.

Gedächtnismahlfeiern

Mit den anhaltenden Schwierigkeiten fertig zu werden war nicht leicht. Die Brüder ließen sich jedoch nicht entmutigen und fuhren fort, sich regelmäßig zu versammeln. Das Gedächtnismahl zu feiern war am schwierigsten. Das KGB war zur Gedächtnismahlzeit besonders aufmerksam, da es das Datum der Feier immer ungefähr kannte. Sie hofften, die Zusammenkunftsorte für das Gedächtnismahl herauszufinden, wenn sie die Zeugen beschatten würden. Dann würde der Staatssicherheitdienst mit neuen Zeugen „bekannt werden“.

Die Brüder kannten die Taktiken und waren daher am Tag der Abendmahlsfeier extrem vorsichtig. Sie hielten die Feiern an Orten ab, die schwer zu finden waren. Interessierte erfuhren das Datum und den Ort der Feier nicht im Voraus. Gewöhnlich suchten Zeugen interessierte Personen am Tag des Gedächtnismahls in ihrer Wohnung auf und nahmen sie von dort direkt zur Zusammenkunft mit.

Einmal hielten Brüder in Transkarpatien das Abendmahl im Keller des Hauses einer Schwester ab. Da der Keller unter Wasser stand, rechnete niemand damit, dass sich jemand dort im knietiefen Wasser versammeln würde. Die Brüder bauten ein Podest, das aus dem Wasser herausragte, und brachten den Keller in einen Zustand, der des Abendmahls würdig war. Sie mussten zwar unter einer niedrigen Decke dicht gedrängt auf dem Podest sitzen, aber niemand störte sie, als sie freudig das Gedächtnismahl feierten.

Bei einer anderen Begebenheit, die sich in den 1980er Jahren zutrug, verließ eine christliche Familie frühmorgens das Haus, um das Gedächtnismahl zu besuchen. Gegen Abend versammelten sie sich in einem Wald mit anderen Brüdern zur Gedächtnismahlfeier. Es regnete in Strömen und die Brüder und Schwestern mussten sich unter Schirmen im Kreis aufstellen und zur Beleuchtung Kerzen in der Hand halten. Nach einem Gebet verließ jeder den Ort. Bei der Ankunft zu Hause stellte die Familie fest, dass das Tor zum Hof offen stand. Es war klar, dass die Polizei oder der Sicherheitsdienst nach ihnen gesucht hatte. Obwohl müde und durchnässt, waren alle aus der Familie froh, dass sie sich schon morgens aufgemacht hatten, um dem Gedächtnismahl beizuwohnen und somit eine Begegnung mit den Behörden vermeiden konnten.

In Kiew war es für die Brüder extrem schwierig, einen sicheren Ort für das Gedächtnismahl zu finden. In einem Jahr beschlossen sie, das Abendmahl auf Rädern zu feiern. Ein Bruder arbeitete als Fahrer für einen Omnibusbetrieb und daher mieteten die Brüder einen Bus. Es stiegen jeweils nur Zeugen Jehovas zu und dann fuhren sie aus der Stadt hinaus und zu einer Lichtung im Wald. In dem Bus stellten die Brüder und Schwestern einen kleinen Tisch mit den Abendmahlssymbolen auf. Sie hatten auch etwas zu essen mitgebracht. Plötzlich tauchte die Polizei auf. Doch die Beamten hatten keinen Grund, die Brüder zu stören, denn sie schienen nach der Arbeit gerade im Bus ihr Abendessen einzunehmen.

In anderen Teilen der Ukraine führte man am Tag des Gedächtnismahls bei den Brüdern zu Hause Razzien durch. Sofort nach Sonnenuntergang fuhren bei den Brüdern Autos mit jeweils drei oder vier Polizisten vor. Die Polizei überprüfte, ob die Brüder zu Hause waren und ob sie sich für den Besuch einer religiösen Feier zurechtgemacht hatten. Die Zeugen waren auf solche Razzien immer eingestellt. Sie zogen über ihre gute Kleidung Arbeitskleidung an und beschäftigten sich mit normalen Hausarbeiten. So erweckten sie den Eindruck, sie würden zu Hause bleiben und hätten nicht vor, eine religiöse Feier zu besuchen. Sofort nach der Razzia zogen sie die alte Kleidung aus und waren für das Gedächtnismahl fertig angezogen. Die Ortsbehörde war zufrieden, dass sie ihrer Aufgabe nachgekommen war, und die Brüder konnten in Frieden das Gedächtnismahl feiern.

Versteckte Literatur

Man erinnere sich, dass Ende der 1940er Jahre Jehovas Zeugen allein deswegen zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, weil sie Literatur zu Hause hatten. Nach dem Tod Stalins im Jahre 1953 wurde das Strafmaß für den Besitz von Literatur auf 10 Jahre Gefängnis herabgesetzt. Später wurde der Besitz von Literatur mit Geldbußen belegt und die Literatur wurde beschlagnahmt und vernichtet. Daher überlegten sich die Brüder während der gesamten Verbotszeit sorgfältig, wie Literatur sicher zu lagern war.

Einige verwahrten Literatur in den Wohnungen ihrer Verwandten und Nachbarn, die keine Zeugen waren; andere vergruben sie in Metalltanks und in Plastiktüten im Garten. Wassilij Guso, ein Ältester aus Transkarpatien, erinnert sich, dass er in den 1960er Jahren einen Wald in den Karpaten als „theokratische Bibliothek“ benutzte. Er tat die Literatur in Milchkannen, die er in den Wald brachte und sie dort so vergrub, dass der Deckel in Bodenhöhe war.

Ein Bruder, der wegen seiner christlichen Tätigkeit 16 Jahre in Gefängnissen verbrachte, erzählt: „Wir versteckten Literatur an allen möglichen Orten: in Bunkern, im Boden, in den Gebäudewänden, in Schachteln mit doppeltem Boden, und in Hundezwingern, die doppelte Böden hatten. Wir versteckten die Literatur auch in Besen und in hohlen Nudelhölzern (wo wir gewöhnlich die Predigtdienstberichte aufbewahrten). Es gab auch andere Verstecke: Brunnen, Toiletten, Türen, Dächer und Stöße gespaltenen Feuerholzes.“

Unterirdische Vervielfältigungsstätten

Trotz der wachsamen Augen kommunistischer Staatssicherheitsbeamter und der Behörden gelangte die geistige Speise weiterhin zu allen, die nach Gerechtigkeit hungerten und dürsteten. Feinden der Wahrheit gelang es nicht, unsere Literatur von der UdSSR fern zu halten, und das mussten sie auch zugeben. Gegen Ende 1959 wurde in der Eisenbahnerzeitung Gudok sogar behauptet, Jehovas Zeugen brächten ihre biblische Literatur mit Ballons in die Sowjetunion.

Unsere Schriften kamen natürlich nicht per Luftballon in die Ukraine. Sie wurden im Land in Privathäusern vervielfältigt. Mit der Zeit stellten die Brüder fest, dass der praktischste und sicherste Ort für die Vervielfältigung von Schriften gut getarnte Bunker waren. Sie bauten sie in Kellern und in Hügeln.

Im Jahre 1960 wurde ein solcher Bunker in der Ostukraine gebaut. Er wurde mit Lüftung und Strom ausgestattet. Der Eingang des Bunkers war so verborgen, dass Polizisten einmal einen ganzen Tag auf dem Bunker verbrachten und mit Metallstäben in den Boden stachen. Sie bemerkten nichts.

Einmal wurde ein geheimer Vervielfältigungsort vom Staatssicherheitsdienst streng überwacht. Man hegte den Verdacht, dass in dem Haus Schriften vervielfältigt wurden, und wollte diejenigen festnehmen, die damit zu tun hatten. Das war für die Brüder ein Problem: Wie konnten sie Papier ins Haus bringen, und wie konnten sie die Schriften hinausschaffen? Schließlich fanden sie eine Lösung. Ein Bruder wickelte Papierstapel in eine Babydecke und trug das Papier wie ein Baby ins Haus. Sobald er drinnen war, ließ er das Papier dort, wickelte neue Vervielfältigungen unserer Zeitschriften in die Decke und brachte das „Baby“ aus dem Haus. Die KGB-Mitarbeiter sahen den Bruder kommen und gehen, schöpften aber keinen Verdacht.

Brüder in der Gegend von Donezk, auf der Krim, in Moskau und in Leningrad (heute St. Petersburg) erhielten die Literatur aus diesem Bunker. Ein paar junge Brüder bauten einen ähnlichen Bunker in Nowowolinsk, einer Stadt in Wolhynien. Diese Brüder waren so darauf bedacht, den Ort des Bunkers geheim zu halten, dass sie erst neun Jahre nach der gesetzlichen Anerkennung des Werkes in der Ukraine anderen Brüdern erlaubten, ihn zu sehen.

Eine ähnliche Druckerei war tief in den Karpaten in Betrieb. Die Brüder leiteten das Wasser eines Bächleins in den Bunker, um damit einen kleinen Dynamo anzutreiben, der für elektrisches Licht sorgte, wenngleich die Vervielfältigung Handbetrieb war. In diesem Bunker wurden viele Schriften hergestellt. Als das KGB bemerkte, dass in der Gegend mehr Literatur auftauchte, suchten sie nach der Produktionsstätte. Die Polizei führte umfangreiche Grabungen durch, um den Bunker zu finden. Sie tarnten sich sogar als Geologen und durchzogen die Berge.

Als die Brüder den Verdacht hatten, dass die Behörden nahe daran waren, den Bunker auszumachen, meldete sich Iwan Dsjabko, um die Arbeit zu beaufsichtigen, da er ledig war und bei einer Verhaftung keine Kinder den Vater entbehren müssten. 1963 wurde der Bunker gegen Ende des Sommers entdeckt und Bruder Dsjabko wurde sofort in der Nähe hingerichtet. Die kommunalen Behörden waren begeistert und veranstalteten „an dem Ort, wo Jehovas Zeugen über Funk mit Amerika Verbindung hatten“, kostenlose Führungen für Groß und Klein. Die Behauptung stimmte zwar nicht, aber dieser traurige Vorfall war ein Zeugnis in jener Gegend. Viele interessierten sich mehr für unsere Botschaft. Zurzeit gibt es in jenem Gebiet der Karpaten über 20 Versammlungen.

Der Wert elterlicher Erziehung

Außer der Beschlagnahmung von Literatur, Geldbußen, Gefängnis, Folter und Hinrichtung machten einige Zeugen die herzzerreißende Erfahrung, dass ihnen die Kinder weggenommen wurden. Lidija Perepjolkina, die in der Ostukraine wohnte, hatte vier Kinder. Ihr Mann, ein Beamter des Innenministeriums, ließ sich 1964 von ihr scheiden, weil sie eine Zeugin war. Das Gericht entzog Schwester Perepjolkina daraufhin das Sorgerecht für ihre Kinder. Ihre siebenjährigen Zwillinge — ein Junge und ein Mädchen — wurden ihrem Mann anvertraut, der mit ihnen 1 000 Kilometer weit in die Westukraine wegzog. Die anderen beiden Kinder sollten auf Anweisung des Gerichts in ein Waisenhaus kommen. Als Lidija erlaubt wurde, sich dazu zu äußern, sagte sie vor Gericht: „Ich glaube, dass Jehova die Macht hat, mir meine Kinder zurückzugeben.“

Nach der Verhandlung verspürte Lidija die besondere Leitung und Fürsorge Jehovas. Aus unbekanntem Grund wiesen die Behörden die zwei ihr verbliebenen Kinder nicht in ein Waisenhaus ein, sondern erlaubten ihnen, bei ihr zu bleiben. In den nächsten sieben Jahren reiste Lidija im Urlaub jedes Jahr zu den anderen beiden Kindern, den Zwillingen. Ihr früherer Mann erlaubte Lidija nicht, die Kinder zu besuchen, aber sie gab nicht auf. Nach ihrer Ankunft in der Stadt, in der ihre Kinder wohnten, verbrachte sie die Nacht auf dem Bahnhof und traf sich mit ihren Kindern auf deren Schulweg. Sie nutzte diese kostbaren Gelegenheiten, um ihnen von Jehova zu erzählen.

Die Jahre vergingen und Lidija ‘säte mit Tränen’ in das Herz ihrer Kinder. Später konnte sie ‘mit Jubelruf ernten’ (Ps. 126:5). Als die Zwillinge 14 Jahre alt waren, entschieden sie sich, bei der Mutter zu wohnen. Lidija setzte alles daran, ihre Kinder in der Wahrheit zu unterweisen. Zwei ihrer Kinder haben zwar einen anderen Weg eingeschlagen, aber ihre Zwillinge und sie dienen treu Jehova.

Eine Änderung zum Guten

Im Juni 1965 befand das Oberste Gericht der Ukraine, dass die Literatur der Zeugen Jehovas nicht antisowjetisch, sondern religiöser Natur sei. Diese Entscheidung galt zwar nur für den einen Gerichtsfall, aber sie wirkte sich auf künftige Urteile in der ganzen Ukraine aus. Die Behörden verhafteten niemand mehr, weil er biblische Literatur las, wenngleich die Zeugen weiterhin wegen ihrer Predigttätigkeit ins Gefängnis kamen.

Eine weitere bedeutende Änderung trat gegen Ende 1965 ein. Die Regierung der UdSSR gab einen Erlass heraus, wonach alle Zeugen, die 1951 nach Sibirien deportiert worden waren, freigelassen werden sollten. Jetzt durften sie in der gesamten Sowjetunion ungehindert reisen, hatten aber keinen Anspruch auf Rückgabe ihrer Häuser, ihres Viehs und anderen beschlagnahmten Hab und Guts. Wegen Schwierigkeiten bei den Meldeämtern konnten aber nur wenige an ihren früheren Wohnort zurückkehren.

Viele Brüder, die 1951 nach Sibirien gesandt worden waren, ließen sich nach und nach in verschiedenen Teilen der UdSSR nieder, in Kasachstan, in Kirgisistan, Georgien und im Norden des Kaukasus. Andere zogen in die Ost- und die Südukraine, sodass der Same der Wahrheit dort ausgestreut wurde.

Standhaft trotz Drucks

Die zuvor genannten Veränderungen waren zwar zum Guten, aber das KGB hatte deswegen seine Haltung gegenüber Jehovas Zeugen nicht geändert. Das KGB wandte die verschiedensten Methoden an, um die Zeugen durch Einschüchterung dazu zu bringen, ihren Glauben aufzugeben. Eine Methode war zum Beispiel, einen Bruder vom Arbeitsplatz wegzuholen und ihn einige Tage in einem KGB-Büro oder in einem Hotel festzuhalten. Während dieses Freiheitsentzugs pflegten drei oder vier Beamte des KGB dem Bruder Vorwürfe zu machen, ihn zu verhören, auf ihn einzureden und ihm zu drohen. Sie lösten sich dabei ab, damit der Bruder nicht schlafen konnte. Danach entließ man ihn, aber nur, um ihn ein oder zwei Tage später wieder festzunehmen und ihm die gleiche Behandlung zukommen zu lassen. Das KGB verfuhr mit Schwestern genauso, wenn auch seltener.

Die Brüder wurden wiederholt in die KGB-Büros bestellt. Der Staatssicherheitsdienst hoffte, sie durch Druck zur Aufgabe ihres Glaubens zu veranlassen, um sie dann als neue Kollaborateure innerhalb der Organisation einsetzen zu können. Ferner wurden die Brüder moralisch und emotionell unter Druck gesetzt, wenn sie nicht von ihrem Glauben abrücken wollten. Michailo Tilnjak, der viele Jahre als Kreisaufseher in Transkarpatien diente, entsinnt sich zum Beispiel an Folgendes: „Während eines Gesprächs waren die uniformierten Sicherheitsoffiziere sehr entgegenkommend und reagierten positiv. Sie luden mich in ein nahe gelegenes Restaurant zum Essen ein. Aber ich lachte sie nur an, legte 50 Rubel (etwa ein halber Monatslohn) auf den Tisch und sagte zu ihnen, sie könnten ohne mich essen gehen.“ Bruder Tilnjak war sich völlig darüber im Klaren, dass sie ihn fotografieren würden, während er mit Personen in Militäruniform essen und trinken würde. Solche Bilder könnten später als „Beweis“ verwendet werden, dass er seinem Glauben untreu geworden wäre. Das würde unter den Brüdern Misstrauen hervorrufen.

Viele wurden jahrzehntelang bedrängt, ihren Glauben aufzugeben. Bela Meisar aus Transkarpatien ist einer von ihnen. Als er 1956 zum ersten Mal verhaftet wurde, unterschrieb der noch unerfahrene junge Bruder unwissentlich gewisse Aussagen unser Werk betreffend, was dazu führte, dass der Staatssicherheitsdienst einige Brüder vorlud. Später erkannte Bruder Meisar seinen Fehler und bat Jehova, zu verhindern, dass einer dieser Brüder verurteilt würde. Es ging so aus, dass keiner von ihnen verhaftet wurde, nur Bruder Meisar selbst wurde zu acht Jahren Gefängnis verurteilt.

Nach seiner Rückkehr durfte er sein Dorf zwei Jahre lang nicht verlassen. Jeden Montag musste er sich bei der Polizei melden. Weil er 1968 den Wehrdienst verweigerte, wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach seiner Haftzeit kehrte er nach Hause zurück und setzte seinen Dienst für Jehova eifrig fort. 1975 wurde er im Alter von 47 Jahren erneut verurteilt.

Als Bruder Meisar eine fünfjährige Strafe verbüßt hatte, wurde er für weitere fünf Jahre nach Jakutsk in Russland verbannt. Er wurde dorthin geflogen, weil keine Straßen in diese Gegend führten. Während des Fluges fragten ihn die jungen Soldaten, die ihn begleiteten: „Alter, wieso bist du solch ein gefährlicher Verbrecher?“ Bruder Meisar erklärte ihnen daraufhin seinen Lebensstil und gab ihnen ein gutes Zeugnis über den Vorsatz Gottes hinsichtlich der Erde.

Nach seiner Ankunft waren die Behörden anfangs in Angst wegen dieses „besonders gefährlichen Verbrechers“, wie man ihn in den Papieren beschrieben hatte. Wegen Bruder Meisars guten christlichen Benehmens sagten die Behörden später zu dem Sicherheitsbeamten: „Wenn Sie noch mehr solche Verbrecher haben, können Sie sie uns gern schicken.“

Bruder Meisar kehrte 1985 im Alter von 57 Jahren nach Hause zurück. Während der insgesamt 21 Jahre seines Gefängnisaufenthalts lebte seine treue Frau Regina zu Hause in Transkarpatien. Trotz der großen Entfernungen und der beträchtlichen Kosten besuchte sie ihren Mann oft im Gefängnis und legte dabei insgesamt über 140 000 Kilometer zurück.

Selbst nach seiner Freilassung hatte Bruder Meisar oftmals zu Hause in Rakoschino Besuch von Polizisten und Sicherheitsbeamten. Diese Tatsache führte zu einer kuriosen Begebenheit. Anfang der 1990er Jahre reiste Bruder Theodore Jaracz von der leitenden Körperschaft zusammen mit Brüdern des Landeskomitees nach Uschgorod in Transkarpatien. Auf dem Rückweg nach Lwiw entschlossen sie sich, Bruder Meisar kurz zu besuchen. Eine Schwester, die in der Nähe wohnt, sah drei Autos zu dem bescheidenen Haus von Bruder Meisar fahren und neun Männer aussteigen. Völlig verschreckt, lief sie zu einem anderen Bruder und berichtete keuchend, das KGB sei gekommen, um Bruder Meisar wieder zu verhaften. Sie war sehr froh, als sie erfuhr, dass sie sich geirrt hatte.

Organisatorische Verbesserungen und Änderungen

Im Jahre 1971 wurde Michail Dasewitsch zum Landesdiener ernannt. Zum Landeskomitee gehörten derzeit drei Brüder aus der Westukraine, zwei aus Russland und einer aus Kasachstan. Sie alle dienten als reisende Aufseher. Darüber hinaus war jeder berufstätig, um die Familie zu versorgen. Die Gebiete, für die die Brüder aus der Westukraine zuständig waren, lagen von ihrem Wohnort recht weit entfernt. Stepan Koschemba reiste nach Transkarpatien und Alexei Dawidjuk bereiste den übrigen Teil der Westukraine sowie Estland, Lettland und Litauen. Bruder Dasewitsch reiste in die Ostukraine, nach West- und Mittelrussland, in den Norden des Kaukasus und nach Moldawien. Brüder aus dem Landeskomitee besuchten regelmäßig die zuvor genannten Gebiete, hielten Zusammenkünfte mit Kreis- und Bezirksaufsehern ab, ermunterten die dortigen Brüder und sammelten Predigtdienstberichte ein.

Diese Brüder hatten auch Verbindung mit Kurieren, die als Touristen einreisten und Literatur sowie Post mitbrachten. Von Ende der 1960er Jahre bis zur Gewährung der Religionsfreiheit im Jahre 1991 hatten unsere Gegner nie den Austausch von Post verhindern können.

Im Jahre 1972 gab die leitende Körperschaft Anweisung, schriftliche Empfehlungen in Verbindung mit der Ernennung von Brüdern zu Ältesten zu unterbreiten. Einige Brüder zögerten, weil sie befürchteten, die entsprechenden Listen könnten der Polizei in die Hände fallen. Bis dahin existierte in keiner Versammlung eine solche Liste. Oft wussten die Brüder nicht einmal den Familiennamen anderer Brüder ihrer Versammlung. Anfangs wurden nur wenige zu Ältesten ernannt, da viele nicht wollten, dass ihr Name auf einer Liste erschien. Als aber nach der Umstellung negative Folgen ausblieben, änderten die anderen ihre Meinung, sie wurden empfohlen und übernahmen treu die Verantwortung als Älteste in den Versammlungen.

Jehovas Schutz bei Durchsuchungen

Eines Morgens kamen Polizisten zum Haus von Wassilij und Nadija Bunha, um es zu durchsuchen. Schwester Bunha war mit ihrem schlafenden, vier Jahre alten Sohn zu Hause, als es plötzlich laut an der Tür klopfte. Schwester Bunha erkannte, dass die Polizei draußen stand, und warf schnell die Predigtdienstberichte und andere Unterlagen über die Predigttätigkeit in den Ofen. Dann öffnete sie den Beamten die Tür. Sie eilten zum Herd, holten vorsichtig die verbrannten Berichte heraus und breiteten sie auf einer Zeitung auf dem Tisch aus. Die Schrift war auf dem verkohlten Papier noch zu erkennen. Als das Haus durchsucht war, gingen alle Polizisten zusammen mit Schwester Bunha zum Schuppen, um dort nachzusehen. Inzwischen wurde ihr Söhnchen wach, sah die verbrannten Papiere auf dem Tisch und beschloss aufzuräumen. Der Kleine nahm alle verbrannten Berichte und warf sie in den Abfalleimer. Dann legte er sich wieder in sein Bettchen. Als die Polizisten zurückkamen, waren sie entsetzt und bestürzt, zu sehen, dass ihre „Beweisstücke“ völlig unbrauchbar geworden waren.

Im Jahre 1969 wurde das Haus der Familie Bunha erneut durchsucht. Diesmal war Bruder Bunha zu Hause, und die Polizei fand den Predigtdienstbericht der Versammlung. Die Beamten ließen ihn jedoch achtlos auf dem Tisch liegen, sodass Bruder Bunha Gelegenheit hatte, ihn zu vernichten. Das brachte ihm 15 Tage Gefängnis ein. Danach zwang der Staatssicherheitsdienst Bruder Bunha, umzuziehen; deshalb lebte und predigte er eine Zeit lang in Georgien und in Dagestan. Später kehrte er in die Ukraine zurück und blieb treu bis zu seinem Tod im Jahre 1999.

Staatssicherheitsdienst veranstaltet „Missionsreisen“

In den 1960er und 1970er Jahren zwang der Staatssicherheitsdienst viele fleißige Brüder, von einem Ort zum anderen umzuziehen. Warum geschah das? Die Gemeinden wollten nicht nach Kiew melden, dass die antireligiösen Aktivitäten in ihrem Bezirk vergeblich waren. Die Gemeindebehörden wussten durch ihre Überwachungstätigkeit, dass die Zahl der Zeugen Jehovas Jahr um Jahr stieg. In ihren Berichten für Kiew sollte jedoch stehen, dass die Zeugen nicht an Zahl zunahmen. Deshalb forderte die Gemeinde die Brüder auf, ihr Gebiet zu verlassen, damit sie melden konnte, dass in ihrer Gegend die Zeugen nicht an Zahl zugenommen hatten.

Dieses Abschieben der Zeugen von einem Gebiet ins andere förderte das Ausstreuen des Samens der Wahrheit. Gewöhnlich handelte es sich um Zeugen, die im Werk mit gutem Beispiel vorangingen. Im Grunde genommen wurden die eifrigen Brüder und Schwestern von den Behörden „ermuntert“, dorthin zu ziehen, wo, wie wir heute sagen, „Hilfe dringender benötigt wird“. Sie setzten in diesen Gebieten ihren Dienst fort und mit der Zeit entstanden neue Versammlungen.

Zum Beispiel wurde Iwan Malizkii aus der Gegend von Ternopil angewiesen, sein Haus zu verlassen. Er zog auf die Krim im Süden der Ukraine, wo nur wenige Brüder wohnten. 1969 gab es auf der Krim nur eine Versammlung, aber heute sind es über 60! Iwan Malizkii dient in einer dieser Versammlungen weiterhin als Ältester.

Die letzten Jahre unter Verbot

Nach einem Führungswechsel in der UdSSR im Jahre 1982 wurde die Ukraine von einer weiteren Welle der Verfolgung erfasst, die zwei Jahre anhielt. Diese Verfolgung schien nicht von der Führung der UdSSR offiziell gebilligt worden zu sein. Die neue sowjetische Führung verlangte Veränderungen und Reformen in den Republiken. Um ihre Hingabe und ihren Eifer bei der Durchführung dieser Reformen kundzutun, sperrten die Behörden in einigen Teilen der Ukraine einige sehr bekannte Zeugen ins Gefängnis. Diese Verfolgungswelle betraf zwar nicht die Mehrheit der Brüder, aber einige Zeugen hatten körperlich und emotionell sehr zu leiden.

Im Jahre 1983 wurde Iwan Migali aus Transkarpatien zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Der gesamte Besitz des 58-jährigen Ältesten wurde von den sowjetischen Behörden beschlagnahmt. Bei der Durchsuchung seines Hauses fand der Staatssicherheitsdienst 70 unserer Zeitschriften. Dieser demütige und friedfertige Mann war in seinem Ort als jemand bekannt, der anhand der Bibel predigte. Diese beiden Gründe — der Besitz von Schriften und sein Predigen — wurden angeführt, um ihn zu verhaften.

In den Jahren 1983 und 1984 fanden in der Ostukraine eine Reihe von Prozessen gegen Personengruppen statt. Viele Zeugen kamen vier bis fünf Jahre ins Gefängnis. Die meisten Brüder brauchten die Strafe nicht im kalten Sibirien oder in Kasachstan zu verbüßen, sondern durften in der Ukraine bleiben. Einige Zeugen wurden sogar im Gefängnis verfolgt, indem ihnen zu Unrecht vorgeworfen wurde, gegen die Anstaltsordnung verstoßen zu haben. Man wollte damit Gründe schaffen, ihre Gefängnisstrafe zu verlängern.

Etliche Anstaltsleiter sandten Brüder auch in psychiatrische Krankenhäuser, weil sie hofften, sie würden geisteskrank werden und die Anbetung Gottes einstellen. Aber Jehova stärkte die Brüder durch seinen Geist, und sie blieben ihm und seiner Organisation treu.

Sieg der Theokratie

In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ließ der Widerstand gegen die wahre Anbetung etwas nach. Die Versammlungen wuchsen, und die Brüder hatten mehr Literatur denn je zuvor. Von Besuchen bei Verwandten im Ausland brachten einige Zeugen Zeitschriften und Bücher mit. Die Brüder, vor allem diejenigen, die in sowjetischen Gefangenenlagern gewesen waren, hielten zum ersten Mal eine Originalausgabe einer biblischen Veröffentlichung in der Hand. Dennoch konnten einige es nicht glauben, dass sie die Zeit erleben würden, wo ein Originalexemplar des Wachtturms den Eisernen Vorhang passieren dürfte.

Nach jahrelangem Kampf gegen Jehovas Zeugen wurden die Behörden endlich verträglicher. Die Brüder wurden jetzt gebeten, mit zivilen Vertretern der örtlichen Büros für religiöse Angelegenheiten zusammenzukommen. Einige dieser Behörden waren zu Gesprächen mit Zeugen Jehovas aus der Zentrale in Brooklyn bereit. Verständlicherweise rechneten die Brüder mit einer Falle. Doch die Zeiten wandelten sich für das Volk Jehovas tatsächlich. Ab 1987 ließen die Behörden inhaftierte Zeugen frei. Später, im Jahre 1988, versuchte eine Anzahl von Brüdern den Bezirkskongress im benachbarten Polen zu besuchen. Laut ihrer Reisepapiere besuchten sie Freunde und Verwandte. Zu ihrer Überraschung wurde ihnen erlaubt, ins Ausland zu reisen. Die polnischen Brüder versorgten die Besucher aus der Ukraine großzügig mit Literatur. Auf dem Heimweg wurden die Brüder an der Grenze durchsucht, aber meistens wurde die biblische Literatur von den Zollbeamten nicht beanstandet. Somit konnten die Brüder Bibeln und andere Veröffentlichungen ins Land bringen.

Die gastfreundlichen polnischen Brüder luden viele weitere Brüder aus der Ukraine zu einem Besuch im folgenden Jahr ein. Daher besuchten 1989 Tausende unauffällig drei internationale Kongresse in Polen, und sie nahmen noch mehr Literatur mit in die Ukraine. Im selben Jahr wurde Jehovas Zeugen gemäß einer Vereinbarung mit dem Büro für religiöse Angelegenheiten erlaubt, religiöse Literatur per Post aus dem Ausland zu empfangen, allerdings nur zwei Exemplare jeder Veröffentlichung pro Postsendung. Deutsche Brüder sandten daraufhin regelmäßig Päckchen mit Büchern und Zeitschriften. Statt in Bunkern oder spätabends in Kellern von Häusern heimlich Zeitschriften zu vervielfältigen, erhielten die Brüder jetzt die Veröffentlichungen offiziell mit der Post. Es war wie ein Traum! Viele langjährige Brüder und Schwestern empfanden wie die Juden, als sie aus dem Exil nach Jerusalem zurückkehrten: ‘Wir wurden wie Träumende’ (Ps. 126:1). Das war jedoch nur der Anfang eines schönen „Traums“.

Kongress in Warschau

Im Jahre 1989 empfahlen die Brüder in Brooklyn dem Landeskomitee, mit den Behörden Kontakt aufzunehmen, um unseren öffentlichen Dienst für Gott registrieren zu lassen. Außerdem besuchten Milton Henschel und Theodore Jaracz vom Brooklyner Bethel die Ukraine. Im Jahr darauf wurde es Tausenden von Zeugen Jehovas offiziell erlaubt, den Kongress in Polen zu besuchen. Bei der Beantragung der Reisedokumente gaben die Brüder nicht mehr an, in Polen Freunde und Verwandte besuchen zu wollen, sondern sie sagten stolz und mit leuchtenden Augen: „Wir möchten einen Kongress der Zeugen Jehovas besuchen.“

Der Kongress in Warschau war für die Besucher aus der Ukraine etwas ganz Besonderes. Freudentränen liefen ihnen die Wangen hinunter. Sie konnten sich mit ihren Glaubensbrüdern und -schwestern treffen, ihre eigenen vierfarbigen Publikationen in ihrer Muttersprache erhalten, und sie durften sich frei versammeln. Die polnischen Brüder gewährten ihnen liebevoll Gastfreundschaft und sorgten für alles, was sie brauchten.

Viele ehemals inhaftierte Zeugen sahen sich zum ersten Mal auf diesem Kongress in Warschau wieder. Dort trafen sich über hundert aus dem „Sonderlager“ in Mordwinien — wohin Hunderte von Zeugen gebracht worden waren. Viele standen nur da, sahen sich gegenseitig an und weinten vor Freude. Ein Zeuge aus Moldawien, der fünf Jahre zusammen mit Bela Meisar in einer Gefängniszelle verbracht hatte, erkannte ihn nicht wieder. Warum nicht? „Ich kenne dich nur in gestreifter Kleidung und nicht wie jetzt in Anzug und Krawatte!“, rief er aus.

Endlich Religionsfreiheit!

Gegen Ende des Jahres 1990 begann die Justiz einige Zeugen Jehovas zu rehabilitieren und erkannte ihnen ihre Rechte zu. Gleichzeitig bildete das Landeskomitee eine Gruppe, die Jehovas Zeugen bei Zusammenkünften mit staatlichen Behörden vertrat. Willi Pohl aus dem deutschen Zweigbüro stand dieser Gruppe vor.

Langwierige Besprechungen mit staatlichen Behörden in Moskau und Kiew führten für die Zeugen zu der lang ersehnten Freiheit. Die Religionsorganisation der Zeugen Jehovas wurde am 28. Februar 1991 in der Ukraine offiziell eingetragen — es war die erste Registrierung auf dem Staatsgebiet der UdSSR. Einen Monat später, am 27. März 1991, wurde diese Organisation auch in der Russischen Föderation eingetragen. Somit erlangten Jehovas Zeugen nach rund 50 Jahren, die von Verboten und Verfolgung geprägt waren, endlich die Religionsfreiheit. Bald darauf, Ende 1991, zerbrach die Sowjetunion und die Ukraine erklärte ihre Unabhängigkeit.

Auf gutem Boden wächst reichlich Frucht

Im Jahre 1939 gab es in dem Gebiet der heutigen Ukraine an die 1 000 Verkündiger von Gottes Königreich, die den Samen der Wahrheit auf fruchtbaren Boden säten — in die Herzen der Menschen. In den 52 Verbotsjahren erlebten die Brüder die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, die Verbannung nach Sibirien, brutale Schläge, Folter und Hinrichtungen. Dennoch hat ‘der vortreffliche Boden’ mehr als den 25fachen Ertrag hervorgebracht (Mat. 13:23). 1991 gab es in 258 Versammlungen in der Ukraine 25 448 Verkündiger und in den übrigen Republiken der ehemaligen UdSSR etwa 20 000 Verkündiger, die meistens von ukrainischen Brüdern die Wahrheit kennen gelernt hatten.

Dieser Boden musste mit biblischen Veröffentlichungen „gedüngt“ werden. Daher bereitete man sich nach der gesetzlichen Registrierung unseres Werkes darauf vor, Literatursendungen aus Selters entgegenzunehmen. Die erste Literatursendung traf am 17. April 1991 ein.

Die Brüder richteten in Lwiw ein kleines Lager ein; und von dort aus versandten sie die Literatur mit Lkws, mit der Bahn oder per Luftfracht an Versammlungen überall in der Ukraine, in Russland, in Kasachstan und in anderen Ländern der früheren Sowjetunion. Das regte weiteres geistiges Wachstum an. Anfang 1991 hatte Charkow, eine Stadt mit zwei Millionen Einwohnern, nur eine Versammlung. Am Ende des Sommers 1991 entstanden aus dieser Versammlung mit 670 Verkündigern acht eigenständige Versammlungen. Heute gibt es in dieser Stadt über 40 Versammlungen.

Obwohl die UdSSR 1991 zu bestehen aufhörte, kümmerte sich das Landeskomitee bis 1993 um alle 15 Republiken der ehemaligen Sowjetunion. In diesem Jahr wurde bei einer Zusammenkunft mit Brüdern von der leitenden Körperschaft die Entscheidung getroffen, zwei Komitees zu bilden: eines für die Ukraine und ein anderes für Russland und die 13 anderen Republiken der früheren Sowjetunion. Zu den Brüdern Michail Dasewitsch, Alexei Dawidjuk, Stepan Koschemba und Ananii Hrohul, die im Landeskomitee der Ukraine dienten, kamen drei weitere hinzu: Stepan Hlinskii, Stepan Mikewitsch und Roman Jurkewitsch.

Dann wurde es nötig, ein Übersetzerteam zu bilden, damit der steigende Bedarf an Literatur in der ukrainischen Sprache gedeckt werden konnte. Wie zuvor erwähnt, hatten die kanadischen Brüder Emil Zarysky und Maurice Saranchuk und deren Frauen einen Anteil an dem Werk. Dieses kleine Team hingebungsvoller Arbeiter übersetzte viele Publikationen. Im Jahre 1991 nahm jedoch ein erweitertes ukrainisches Übersetzerteam in Deutschland die Arbeit auf. 1998 zogen die Übersetzer nach Polen um, wo sie ihre Arbeit bis zum endgültigen Umzug in die Ukraine fortsetzten.

Bezirkskongresse

Nach einer Zusammenkunft mit den Brüdern in Lwiw im Jahre 1990 besichtigte Bruder Jaracz das städtische Stadion und meinte anschließend: „Wir könnten es für den Bezirkskongress im nächsten Jahr benutzen.“ Die Brüder schmunzelten und fragten sich, wie das möglich sein sollte, zumal unsere Organisation nicht einmal registriert war und die Brüder nie zuvor einen Kongress organisiert hatten. Die Organisation wurde aber im folgenden Jahr registriert. Im August 1991 waren 17 531 Personen in diesem Stadion beim Bezirkskongress anwesend, und 1 316 Brüder und Schwestern ließen sich taufen. Zur Unterstützung der Kongressorganisation waren Brüder aus Polen eingeladen worden.

Ebenfalls im August war ein weiterer Kongress in Odessa geplant. Aber wegen politischer Unruhen, die zu Beginn der Kongresswoche in Russland ausbrachen, teilte das zuständige Amt den Brüdern mit, dass sie den Kongress in Odessa nicht abhalten könnten. Die Brüder bemühten sich bei der Stadt weiterhin um die Genehmigung und setzten die letzten Vorbereitungsarbeiten voll Vertrauen auf Jehova fort. Schließlich sagte man den verantwortlichen Brüdern, sie möchten am Donnerstag wegen einer endgültigen Entscheidung beim Amt vorsprechen. Am Nachmittag jenes Tages wurde die Genehmigung für den Kongress erteilt.

Es war schön und erstaunlich zugleich, zu sehen, dass 12 115 Zeugen zusammenkamen und 1 943 Personen sich an diesem Wochenende taufen ließen. Zwei Tage nach dem Kongress suchten die Brüder die Vertreter der Stadt erneut auf und bedankten sich dafür, dass sie den Kongress abhalten durften. Dem Vorsitzenden des Exekutivausschusses überreichten sie das Buch Der größte Mensch, der je lebte. Er sagte daraufhin: „Persönlich war ich nicht auf dem Kongress, aber ich weiß Bescheid über alles, was dort geschah. Und ich kann mich nicht erinnern, dass sich in Odessa je so etwas Bedeutendes ereignet hat ... Falls Sie irgendwann wieder eine Genehmigung für das Abhalten Ihrer Zusammenkünfte benötigen, bin ich gern bereit, sie zu gewähren. Das verspreche ich Ihnen.“ Seither halten die Brüder regelmäßig Kongresse im schönen Odessa ab.

Herausragender internationaler Kongress

Ein weiteres bedeutsames Ereignis war der internationale Kongress „Göttliche Belehrung“, der 1993 in Kiew stattfand. Die Anwesendenzahl von 64 714 auf dem Kongress in der Ukraine ist die bisher höchste in diesem Land, und unter den Besuchern waren Tausende Delegierte aus über 30 verschiedenen Ländern. Englische Vorträge wurden in 16 Sprachen gedolmetscht.

Welch ein begeisternder Anblick es doch war, als in fünf voll besetzten Blöcken des Stadions alle Brüder und Schwestern aufstanden, um die beiden Tauffragen mit Ja zu beantworten! In den folgenden zweieinhalb Stunden wurden 7 402 Personen in sechs Becken getauft — die größte Zahl von Täuflingen auf einem Kongress in der neuzeitlichen Geschichte des Volkes Gottes. Dieses herausragende Ereignis wird für Jehovas Zeugen unvergessen bleiben und von ihnen geschätzt werden.

Wie konnten nur 11 Versammlungen in der Stadt einen solch großen Kongress organisieren? Wie in den Jahren zuvor kamen Brüder aus Polen, um in der Unterkunftsabteilung mitzuhelfen. Zusammen mit den Brüdern am Ort schlossen sie Verträge mit so vielen Hotels und Pensionen wie möglich; es wurden sogar einige schwimmende Hotels gebucht.

Am schwierigsten war es, die Nutzungsgenehmigung für das Stadion zu erhalten. In dem Stadion fanden nicht nur Sportereignisse statt, sondern es diente an den Wochenenden auch als großer Marktplatz. Und bisher war niemandem eine Schließung des Marktes genehmigt worden. Dennoch wurde die Genehmigung erteilt.

Die Stadt bildete sogar einen Sonderausschuss, der die Brüder bei den Vorbereitungsarbeiten unterstützte. Zu diesem Ausschuss gehörten die Leiter verschiedener Ressorts wie Polizei, Verkehr und Tourismus. Für die Beförderung der Kongressdelegierten innerhalb der Stadt wurde eine einzigartige Regelung getroffen. Die Kosten für die öffentlichen Verkehrsmittel wurden pauschal vorgestreckt, sodass Träger von Kongressplaketten nicht beim Einsteigen bezahlen mussten, sondern dies auf dem Kongressgelände erledigen konnten. Auf diese Weise konnten die Delegierten zügig in die U-Bahnen, Straßenbahnen und Stadtbusse gelangen, wenn sie zwischen den Unterkünften und dem Republik-Stadion (heute Olympia-Stadion) pendelten, einem der größten Stadien in Osteuropa. Um den Delegierten entgegenzukommen, wurden in der Nachbarschaft des Stadions zusätzliche Bäckereien eröffnet, damit sich die Brüder für den nächsten Tag noch schnell etwas zu essen besorgen konnten.

Der Polizeipräsident war über den geordneten Ablauf des Kongresses sehr erstaunt und merkte an: „Alles, was Sie getan haben, nebst Ihrem guten Benehmen, hat mich sogar noch mehr beeindruckt als Ihr Predigen. Man vergisst vielleicht, was man gehört hat, aber niemals das, was man gesehen hat.“

Mehrere Frauen, die in einer nahen U-Bahn-Station tätig sind, kamen ins Kongressbüro, um sich für das gute Benehmen der Delegierten zu bedanken. Sie sagten: „Wir waren schon bei vielen Sportereignissen und politischen Anlässen hier im Einsatz, haben aber noch nie erlebt, dass Besucher so höflich und so freudig waren und auch uns beachtet haben. Sie haben uns alle gegrüßt. So etwas sind wir von anderen Anlässen nicht gewöhnt.“

Die Versammlungen in Kiew hatten nach dem Kongress alle Hände voll zu tun, denn es wurden etwa 2 500 Adressen interessierter Personen abgegeben, die mehr erfahren wollten. Jetzt gibt es in Kiew über 50 Versammlungen eifriger Zeugen.

Einer Gruppe von Brüdern war während der Anreise das gesamte Gepäck gestohlen worden. Weil sie aber geistig reicher werden wollten, beschlossen sie, trotzdem die Reise nach Kiew fortzusetzen, und kamen auf dem Kongressgelände nur mit dem an, was sie auf dem Leib trugen. Eine Gruppe von Brüdern aus der ehemaligen Tschechoslowakei hatte Kleidung für Personen mitgebracht, die sie dringend brauchen würden. Als die Kongressleitung davon erfuhr, waren die Brüder, die bestohlen worden waren, schnell mit der Kleidung versorgt, die sie benötigten.

Förderung des Fortschritts

Solche Beispiele selbstloser Liebe waren keine Ausnahmen. 1991 trat die leitende Körperschaft an mehrere Zweige in Westeuropa mit der Bitte heran, für ihre Brüder in Osteuropa Nahrung und Kleidung bereitzustellen. Die Zeugen schätzten es, helfen zu können, und ihre Bereitschaft mit anderen zu teilen übertraf alle Erwartungen. Viele spendeten Lebensmittel und getragene Kleidung, während andere neue Kleidung kauften. Kartons, Koffer und Taschen voll mit diesen Gütern wurden in westeuropäischen Zweigbüros gesammelt. Aus Dänemark, Deutschland, Italien, den Niederlanden, Österreich, Schweden und aus der Schweiz wurden Lebensmittel und Kleidung tonnenweise mit Lkw-Konvois nach Lwiw transportiert. Oft spendeten Brüder sogar Lastkraftwagen für das Königreichswerk in Osteuropa. Die Grenzbeamten waren sehr entgegenkommend beim Ausstellen der Papiere, damit alle Lieferungen ohne größere Schwierigkeiten erfolgen konnten.

Die Brüder, welche die Güter ablieferten, waren beeindruckt von dem Empfang, der ihnen bereitet wurde. Eine Gruppe, die von den Niederlanden nach Lwiw fuhr, berichtete über ihre Fahrt Folgendes: „Es war eine Mannschaft von 140 Brüdern zur Stelle, um die Lastwagen zu entladen. Bevor diese demütigen Brüder mit der Arbeit begannen, zeigten sie ihr Vertrauen zu Jehova durch ein gemeinsames Gebet. Als die Arbeit erledigt war, kamen sie erneut zum Gebet zusammen, um Jehova zu danken. Nachdem wir die Gastfreundschaft der Brüder genossen hatten, die uns von dem wenigen, was sie hatten, reichlich abgaben, begleiteten sie uns zur Hauptstraße und sprachen vor unserer Abfahrt am Straßenrand ein weiteres Gebet.

Auf der langen Rückfahrt konnten wir über vieles nachdenken: die Gastfreundschaft der Brüder in Deutschland und Polen und die der Brüder in Lwiw, ihr starker Glaube und ihre Gebete, ihre Gastfreundschaft in Bezug auf Unterkünfte und Verpflegung, obwohl sie selbst nicht viel hatten, ihre Einheit sowie ihr enges Zusammengehörigkeitsgefühl und ihre Dankbarkeit. Wir dachten außerdem an unsere Brüder und Schwestern zu Hause, die so großzügig gespendet hatten.“

Ein Fahrer aus Dänemark sagte: „Wir stellten fest, dass wir mehr mit zurücknahmen, als wir dorthin gebracht hatten. Die Liebe und die Opferbereitschaft der ukrainischen Brüder haben unseren Glauben sehr gestärkt.“

Viele der Sachspenden wurden nach Moldawien, zum Baltikum, nach Kasachstan, Russland und anderswohin geschickt, wo sie ebenfalls dringend gebraucht wurden. Einiges wurde per Container nach Sibirien und nach Chabarowsk gesandt, über 7 000 Kilometer weiter östlich. Die herzlichen Dankschreiben von denen, die die Unterstützung erhielten, waren rührend, ermunternd und wirkten einigend. Daher fanden alle Beteiligten die Worte Jesu bestätigt: „Beglückender ist Geben als Empfangen“ (Apg. 20:35).

Gegen Ende 1998 kam es in Transkarpatien zu einer Überschwemmungskatastrophe. Nach amtlichen Angaben standen 6 754 Häuser unter Wasser und 895 Häuser wurden durch Schlammmassen zerstört. 37 der zerstörten Häuser gehörten Zeugen. Das Zweigbüro in Lwiw sandte unverzüglich einen Lastwagen mit Lebensmitteln, Wasser, Seife, Betten und Decken in das betroffene Gebiet. Später schickten Brüder aus Kanada und Deutschland Kleidung und Haushaltswaren dorthin. Zeugen aus Polen, aus der Slowakei, der Tschechischen Republik und aus Ungarn brachten Lebensmittel dorthin und auch Baustoffe, damit die zerstörten Häuser wieder aufgebaut werden konnten. An den Wiederaufbauarbeiten beteiligten sich auch viele einheimische Brüder. Die Zeugen versorgten nicht nur ihre Mitbrüder mit den Lebensmitteln, der Kleidung und dem Feuerholz, sondern auch andere Betroffene. Sie säuberten Höfe und Felder und halfen auch Nichtzeugen bei der Reparatur ihrer Häuser.

Geistige Hilfestellung

Die Unterstützung beschränkte sich jedoch nicht auf materielle Dinge. Nach über 50 Jahren Verbot waren die ukrainischen Zeugen nicht damit vertraut, wie das Werk in Freiheit organisiert wird. Daher wurden im Jahre 1992 Brüder aus dem deutschen Zweigbüro in die Ukraine gesandt, um dabei zu helfen, das Werk dort zu organisieren. Dadurch wurde die Grundlage für die Tätigkeit des Büros und des künftigen Bethels gelegt. Später wurden aus Deutschland, Kanada und aus den Vereinigten Staaten weitere Brüder dorthin gesandt, um das Werk des Jüngermachens mit zu beaufsichtigen.

Es fehlten auch viele erfahrene Brüder für die Arbeit außerhalb des Bethels. Anfangs kamen aus Polen viele Absolventen der Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung, um sich zunächst der Versammlungen und dann der Kreise und Bezirke im Land anzunehmen. Außerdem reisten Ehepaare aus Kanada und aus den Vereinigten Staaten an, die gegenwärtig im Kreisdienst tätig sind. Andere Brüder — aus Italien, aus der Tschechischen Republik, der Slowakei und aus Ungarn — sind ebenfalls dort als Kreisaufseher tätig. Diese Maßnahmen haben es zahlreichen Versammlungen erleichtert, in den verschiedensten Bereichen des Dienstes nach biblischen Grundsätzen zu verfahren oder sich entsprechend umzustellen.

Dankbar für biblische Literatur

Die zweite Hälfte der 1990er Jahre zeichnete sich durch besondere Aktionen aus, was die Literaturverbreitung betrifft. Nach der Verbreitung der Königreichs-Nachrichten Nr. 35 im Jahre 1997 gingen fast 10 000 Coupons von interessierten Personen ein, die entweder die Broschüre Was erwartet Gott von uns? anforderten oder um einen Besuch baten.

Unsere Literatur wird überall geschätzt. Als Brüder eine Entbindungsklinik besuchten, wurden sie gebeten, dem Krankenhaus jede Woche 12 Exemplare des Buches Das Geheimnis des Familienglücks zur Verfügung zu stellen. Warum? Das Personal wollte jedem Ehepaar zusammen mit der Geburtsurkunde ein Buch überreichen.

In den letzten Jahren haben viele Menschen unsere Zeitschriften kennen und schätzen gelernt. Zum Beispiel boten zwei Zeugen bei ihrer Predigttätigkeit in einem Park einem Herrn die Zeitschrift Erwachet! an. Der Herr bedankte sich und fragte: „Was bekommen Sie dafür?“

„Unser Werk wird durch freiwillige Spenden unterstützt“, erklärten die Brüder. Der Mann spendete eine Hrywnja — umgerechnet damals etwa 50 Eurocent —, setzte sich auf eine Bank und begann sofort in der Zeitschrift zu lesen. Danach gaben die Brüder anderen in dem Park Zeugnis. Nach 15 Minuten wandte sich der Mann erneut an die Brüder und gab ihnen eine weitere Hrywnja für die Zeitschrift. Dann setzte er sich wieder auf die Bank und las weiter, während die Brüder ihre Predigttätigkeit fortsetzten. Nach einiger Zeit kam der Mann erneut zu den Brüdern und gab ihnen noch eine Hrywnja. Er sagte ihnen, er finde die Zeitschrift höchst interessant und möchte sie gern regelmäßig lesen.

Gute Schulung beschleunigt die Mehrung

Nach der gesetzlichen Anerkennung unseres Werkes ging es immer schneller voran. Es mussten jedoch auch Schwierigkeiten überwunden werden. Anfangs fiel es einigen schwer, sich auf den Dienst von Haus zu Haus umzustellen, da über 50 Jahre nur informell Zeugnis gegeben worden war. Doch mit der Hilfe des Geistes Jehovas gelang es den Brüdern und Schwestern, sich der für sie neuen Art des Zeugnisgebens anzupassen.

Es war auch möglich, in jeder Versammlung alle fünf wöchentlichen Zusammenkünfte zu organisieren. Das hat viel zur Einheit unter den Brüdern beigetragen und sie dazu veranlasst, sich auf vermehrte Tätigkeit einzustellen. Die Brüder lernten schnell und machten in vielen Bereichen ihres Dienstes Fortschritte. Durch neue Schulen wurden die Zeugen in der Ukraine gut belehrt. 1991 wurde zum Beispiel in allen Versammlungen die Theokratische Predigtdienstschule eingerichtet, um die Zeugen für das Predigtwerk zu schulen. Seit 1992 hilft die Königreichsdienstschule für Älteste und Dienstamtgehilfen den Brüdern sehr, im Predigtdienst, beim Lehren in der Versammlung und beim Hüten der Herde vorbildlich zu sein.

Im Jahre 1996 wurde in der Ukraine die Pionierdienstschule eingeführt. In den ersten fünf Jahren besuchten über 7 400 allgemeine Pioniere diesen zweiwöchigen Kurs. Welchen Nutzen hatten sie davon? Eine Pionierin schrieb: „Ich freute mich, der Ton in Jehovas Hand zu sein und mich durch diese Schule formen zu lassen.“ Eine andere Pionierin sagte: „Nach der Pionierdienstschule begann ich zu ‚leuchten‘.“ Eine Klasse der Pionierdienstschule schrieb: „Diese Schule hat sich für alle, die sie besuchten, als ein wahrer Segen erwiesen. Sie hat uns dazu angespornt, sehr an den Menschen interessiert zu sein.“ Die Schule hat wesentlich dazu beigetragen, dass 57 aufeinander folgende Höchstzahlen an allgemeinen Pionieren erreicht wurden.

Da die wirtschaftliche Lage schwierig ist, fragen sich viele, wie die Pioniere ihren Unterhalt bestreiten. Ein Pionier und Dienstamtgehilfe hat drei Kinder zu versorgen. Er sagte: „Zusammen mit meiner Frau plane ich genau, was wir zum Leben brauchen, und wir kaufen nur das wirklich Nötige. Wir führen ein anspruchsloses Leben und verlassen uns auf Jehova. Manchmal ist man selbst erstaunt, mit wie wenig man auskommen kann, wenn man die richtige Einstellung hat.“

Die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung wurde 1999 eingeführt. Fast hundert Brüder besuchten sie im ersten Jahr. Für viele war es eine Herausforderung, in einer wirtschaftlichen Notzeit diesen zweimonatigen Kurs zu besuchen. Es ist jedoch zu erkennen, dass Jehova die Brüder unterstützt hat.

Ein Bruder, der zum Besuch der Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung eingeladen wurde, diente als Pionier in einem weit entfernten Gebiet. Er und sein Pionierpartner hatten sich für den kommenden Winter Geld für Lebensmittel und Kohlen zurückgelegt. Als er zur Schule eingeladen wurde, standen sie vor der Frage, ob sie Kohlen kaufen sollten oder eine Bahnfahrkarte, damit er zur Schule fahren konnte. Sie besprachen die Sache und beschlossen, er solle die Schule besuchen. Kurz nach dieser Entscheidung sandte die leibliche Schwester des Bruders ihm aus dem Ausland etwas Geld. Es reichte für die Reise zur Schule. Nach der Schule wurde der Bruder zum Sonderpionier ernannt.

Solche Schulungsprogramme haben Jehovas Diener ausgerüstet, im Predigtdienst und in der Versammlungstätigkeit wirkungsvoller vorzugehen. Die Verkündiger lernen, wie man effektiver predigt; Älteste und Dienstamtgehilfen werden gelehrt, wie sie in ihrer Versammlung die Brüder noch besser ermuntern können. ‘Die Versammlungen wurden daher im Glauben weiterhin befestigt und nahmen an Zahl zu’ (Apg. 16:5).

Schnelles Wachstum bringt Veränderungen mit sich

In den Jahren seit der gesetzlichen Registrierung hat sich die Zahl der Zeugen in der Ukraine mehr als vervierfacht. In vielen Landesteilen war das Wachstum außergewöhnlich groß. Es besteht somit ein großer Bedarf an fähigen Ältesten. Oft werden die Versammlungen geteilt, sobald ein zweiter Ältester da ist. Manche Versammlungen hatten bis zu 500 Verkündiger. Solch ein Wachstum erforderte administrative Änderungen.

Bis zu den 1960er Jahren half der polnische Zweig, das Werk in der Ukraine zu beaufsichtigen; und danach übernahm der deutsche Zweig die Aufsicht und gab Hilfestellung. Im September 1998 wurde die Ukraine ein Zweig unter der Aufsicht der Weltzentrale in Brooklyn. Zu jener Zeit wurde zur Verwaltung organisatorischer Angelegenheiten ein Zweigkomitee gebildet.

Das schnelle Wachstum machte auch größere Zweigeinrichtungen nötig. Ab 1991 diente Lwiw als Literaturdrehscheibe für die 15 Republiken der früheren UdSSR. Im Jahr darauf trafen zwei Ehepaare aus dem deutschen Zweigbüro ein. Schon bald nahm ein kleines Büro in Lwiw die Tätigkeit auf. Ein Jahr später wurde ein Haus gekauft, in dem Büros für Vollzeitmitarbeiter eingerichtet wurden. Anfang 1995 wuchs die Zahl der freiwilligen Mitarbeiter im ukrainischen Büro schnell an, sodass ein weiterer Umzug nötig wurde — diesmal in einen Gebäudekomplex mit sechs Königreichssälen, die von 17 Versammlungen genutzt wurden. Die ganze Zeit über fragten sich die Brüder: „Wann werden wir unser eigenes Bethel bauen und wo?“

Ein neues Zweigbüro und mehr Königreichssäle

Schon 1992 begann man nach einem Grundstück für ein Zweigbüro zu suchen. Es vergingen mehrere Jahre, in denen Orte geprüft wurden, die sich eventuell dafür eigneten. Die Brüder erwähnten diese Notwendigkeit stets im Gebet und vertrauten darauf, dass zur gegebenen Zeit ein geeignetes Gelände gefunden würde.

Anfang 1998 wurde 5 Kilometer nördlich von Lwiw in der Gemeinde Brjuchowitschi ein Grundstück in einem malerischen Kiefernwald gefunden. In der Verbotszeit hatten zwei Versammlungen nicht weit davon entfernt ihre Zusammenkünfte im Wald abgehalten. Ein Bruder bemerkte: „Ich hätte nie gedacht, dass ich zehn Jahre nach unserer letzten Waldzusammenkunft wieder Gelegenheit hätte, in demselben Wald mit Brüdern zusammenzukommen, aber unter völlig anderen Umständen — auf dem Gelände für unser neues Zweigbüro.“

Gegen Ende 1998 trafen dort die ersten International Servants ein. Brüder aus dem regionalen Bauplanungsbüro in Selters begannen fieberhaft an den Zeichnungen zu arbeiten. Nach der behördlichen Genehmigung ging es Anfang Januar 1999 mit den Bauarbeiten los. Auf dem Gelände arbeiteten über 250 Freiwillige aus 22 Nationen. An den Wochenenden halfen außerdem bis zu 250 einheimische Freiwillige bei dem Bauprojekt mit.

Viele schätzten sehr das Vorrecht, bei diesem Projekt mitzuarbeiten. Ganze Versammlungen mieteten Busse, um an Wochenenden nach Brjuchowitschi zu fahren. Oft fuhren sie die ganze Nacht hindurch, um pünktlich auf dem Gelände anzukommen und die Bauarbeiten zu unterstützen. Nach einem harten Arbeitstag verbrachten sie eine weitere Nacht auf der Heimreise — müde, aber glücklich und mit dem Wunsch wiederzukommen. Eine Gruppe von Brüdern aus der Gegend von Luhansk in der Ostukraine reiste 34 Stunden mit dem Zug, um 8 Stunden beim Bethelbau mitzuhelfen. Um 8 Stunden mitarbeiten zu können, nahm sich jeder Bruder zwei Tage Urlaub und gab über einen halben Monatslohn für die Bahnfahrkarte aus. Diese Opferbereitschaft ermunterte die ganze Baumannschaft und alle in der Bethelfamilie. Die Bauarbeiten gingen zügig voran, sodass es möglich wurde, das Zweigbüro am 19. Mai 2001 der Bestimmung zu übergeben. Bei diesem Anlass waren 35 Länder vertreten. Im Rahmen besonderer Zusammenkünfte am nächsten Tag sprach Theodore Jaracz zu 30 881 Zuhörern in Lwiw und Gerrit Lösch sprach zu 41 142 Besuchern in Kiew — insgesamt 72 023 Anwesende.

Wie verhält es sich mit den Königreichssälen? Von 1939 an, als in Transkarpatien mehrere Säle zerstört worden waren, bis 1993 gab es keine offiziellen Königreichssäle in der Ukraine. In jenem Jahr wurde in nur acht Monaten in Transkarpatien in dem Dorf Dibrowa ein schöner Gebäudekomplex mit vier Königreichssälen errichtet. Bald darauf wurden weitere sechs Säle in anderen Gebieten der Ukraine fertig gestellt.

Weil die Verkündigerzahl stark zunahm, wurden viele Königreichssäle gebraucht. Aber komplizierte gesetzliche Verfahren, die Inflation und die steigenden Materialkosten führten dazu, dass in den 1990er Jahren nur 110 Königreichssäle gebaut wurden. Hunderte fehlten allerdings noch. Deshalb wurde im Jahre 2000 ein neues Königreichssaal-Bauprogramm ins Leben gerufen, das bereits dazu beiträgt, den Bedarf zu decken.

Voran im Erntewerk!

Im September 2001 gab es in der Ukraine 120 028 Zeugen Jehovas in 1 183 Versammlungen, die von 39 Kreisaufsehern besucht wurden. Der Samen der Wahrheit, der über viele Jahre ausgestreut wurde, hat reichlich gute Frucht hervorgebracht. In manchen Familien sind schon Angehörige der fünften Generation Zeugen Jehovas. Das zeigt, dass der „Boden“ wirklich vortrefflich ist. Viele halten am Wort fest, „nachdem sie es mit einem edlen und guten Herzen gehört haben“. In den vergangenen Jahren haben die Brüder oft unter Tränen gesät; andere haben den fruchtbaren Boden „begossen“. Jehova lässt es wachsen, und seine treuen Zeugen in der Ukraine wollen weiterhin „mit Ausharren Frucht tragen“ (Luk. 8:15; 1. Kor. 3:6).

An manchen Orten ist das Verhältnis der Zeugen zur Einwohnerzahl hervorragend. Zum Beispiel gibt es in einer Gegend in Transkarpatien in 8 Dörfern mit Rumänisch sprechender Bevölkerung 3 Kreise mit 59 Versammlungen.

Die Anstrengungen religiöser und weltlicher Gegner, Jehovas Zeugen aus dem Boden der Ukraine herauszureißen, sind trotz Deportation und anderer Verfolgung fehlgeschlagen. Der Herzensboden der Menschen erwies sich als fruchtbar für den Samen der biblischen Wahrheit. Heute bringen Jehovas Zeugen eine große Ernte ein.

Der Prophet Amos sagte über eine kommende Erntezeit: „Da wird der Pflüger tatsächlich den Schnitter einholen“ (Am. 9:13). Der Segen Jehovas macht den Boden so fruchtbar, dass die Ernte noch andauert, wenn es schon Zeit zum Pflügen ist. Jehovas Zeugen in der Ukraine haben erlebt, dass sich diese Prophezeiung bewahrheitet hat. Sie sind davon überzeugt, dass bei einer Besucherzahl beim Gedächtnismahl von über einer viertel Million im Jahre 2001 die Aussichten für die Zukunft verheißungsvoll sind.

Jehova verheißt gemäß Amos 9:15: „Ich werde sie gewiss auf ihrem Boden pflanzen, und sie werden nicht mehr aus ihrem Boden herausgerissen werden, den ich ihnen gegeben habe.“ Während Jehovas Diener weiterhin Samen der Wahrheit ausstreuen und weiterhin reichlich ernten, erwarten sie mit Spannung die Zeit, wo sich diese Prophezeiung vollständig erfüllen wird. Unterdessen ‘erheben wir unsere Augen und schauen die Felder an, dass sie weiß sind zur Ernte’ (Joh. 4:35).

[Herausgestellter Text auf Seite 140]

„Man hätte Daniil normalerweise gehängt, aber weil er noch minderjährig war, bekam er nur vier Monate Gefängnis“

[Herausgestellter Text auf Seite 145]

„Die Zeugen unterschieden sich von den anderen im Konzentrationslager. Sie waren optimistisch und hatten eine freundliche Art. Ihr Verhalten zeigte, dass sie den anderen Gefangenen etwas Wichtiges zu sagen hatten.“

[Herausgestellter Text auf Seite 166]

Am 8. April 1951 wurden über 6 100 Zeugen von der Westukraine nach Sibirien deportiert

[Herausgestellter Text auf Seite 174]

„Oft übernahmen unsere Schwestern Arbeiten eines Versammlungsdieners, und in manchen Gegenden nahmen sie Aufgaben eines Kreisdieners wahr“

[Herausgestellter Text auf Seite 183]

Statt in die Flitterwochen zu fahren, verbrachte er zehn Jahre im Gefängnis

[Herausgestellter Text auf Seite 184]

„Es tat mir sehr weh, mein liebes Mädchen an eine unbekannte Frau abzugeben“

[Herausgestellter Text auf Seite 193]

Als der Staatssicherheitsdienst einsah, dass Jehovas Zeugen durch Verbannung, Gefängnis, buchstäbliche Gewalt und Folter nicht zum Verstummen gebracht werden konnten, wandte er neue Taktiken an

[Herausgestellter Text auf Seite 207]

Das KGB legte den abgespaltenen Brüdern einen gefälschten Brief von Bruder Knorr vor

[Herausgestellter Text auf Seite 212]

Das KGB war zur Gedächtnismahlzeit besonders aufmerksam, da es das Datum der Feier immer ungefähr kannte

[Herausgestellter Text auf Seite 231]

Zum ersten Mal hielten sie eine Originalausgabe einer biblischen Veröffentlichung in der Hand

[Herausgestellter Text auf Seite 238]

„Alles, was Sie getan haben, nebst Ihrem guten Benehmen, hat mich sogar noch mehr beeindruckt als Ihr Predigen. Man vergisst ... niemals das, was man gesehen hat.“

[Herausgestellter Text auf Seite 241]

„Die Liebe und die Opferbereitschaft der ukrainischen Brüder haben unseren Glauben sehr gestärkt“

[Herausgestellter Text auf Seite 249]

Um acht Stunden mitarbeiten zu können, nahm sich jeder Bruder zwei Tage Urlaub und gab über einen halben Monatslohn für die Bahnfahrkarte aus

[Kasten/Bilder auf Seite 124]

Bibelübersetzungen im Laufe der Jahrhunderte

Eine Zeit lang benutzte man in der Ukraine die Altslawische Übersetzung aus dem 9. Jahrhundert. Mit dem Wandel der Sprache wurde diese Übersetzung zu verschiedenen Zeiten revidiert. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde die altslawische Bibel unter der Aufsicht von Erzbischof Gennadius vollständig revidiert. Dieser Revision folgte eine weitere, deren Resultat die erste gedruckte altslawische Bibel war. Diese Übersetzung ist als Ostroger Bibel bekannt und wurde 1581 gedruckt. Noch heute gilt sie unter Fachleuten als ein Musterbeispiel der Druckkunst. Sie diente als Grundlage für spätere Übersetzungen der Bibel ins Ukrainische und ins Russische.

[Bilder]

Iwan Fedorow druckte 1581 die Ostroger Bibel in der Ukraine

[Kasten/Bild auf Seite 141]

Ein Interview mit Wassilij Kalin

Geburtsjahr: 1947

Taufe: 1965

Kurzporträt: Von 1951 bis 1965 verbannt. Von 1974 bis 1991 Schriften vervielfältigt. Seit 1993 Dienst im Zweigbüro in Russland.

Mein Vater musste unter den verschiedensten Regierungsformen und staatlichen Behörden leben. Als die Westukraine zum Beispiel von den Deutschen besetzt war, wurde mein Vater geschlagen, weil man ihn für einen Kommunisten hielt. Warum hielt man ihn dafür? Der Geistliche hatte den deutschen Beamten gesagt, die Zeugen Jehovas seien Kommunisten, denn sie gingen nicht zur Kirche. Dann kam das Sowjetregime. Erneut bekam mein Vater zusammen mit vielen anderen Unterdrückung zu verspüren. Nun wurde er als amerikanischer Spion bezeichnet. Weshalb? Weil sich die Glaubensansichten der Zeugen Jehovas von den damals üblichen unterschieden. Deshalb wurde mein Vater mit seiner ganzen Familie nach Sibirien verbannt, wo er später starb.

[Kasten/Bild auf Seite 147-151]

Ein Interview mit Iwan Litwak

Geburtsjahr: 1922

Taufe: 1942

Kurzporträt: Von 1944 bis 1946 in Haft. Von 1947 bis 1953 in Zwangsarbeitslagern im hohen Norden Russlands.

Im Jahre 1947 wurde ich verhaftet, weil ich mich nicht politisch betätigte. Ich wurde in ein Hochsicherheitsgefängnis in Luzk (Ukraine) gebracht, wo ich, mit den Händen im Schoß, gerade sitzen musste, ohne meine Beine ausstrecken zu können. Drei Monate lang saß ich in dieser Haltung. Ein Mann mit einem schwarzen Jackett verhörte mich. Er wollte von mir etwas über die Brüder wissen, die das Werk leiteten. Ihm war bekannt, dass ich Bescheid wusste, aber ich weigerte mich, ihm Auskunft zu geben.

Am 5. Mai 1947 verurteilte mich ein Militärgericht zu zehn Jahren Haft in einem entlegenen Hochsicherheitslager. Nun, ich war damals jung und erhielt deshalb den Tauglichkeitsgrad „Eins“. Alle mit Grad „Eins“ waren junge Burschen — sowohl Zeugen als auch Nichtzeugen. Man verschickte uns in Viehwaggons nach Workuta, in den hohen Norden Russlands. Dort verfrachtete man uns auf einen Dampfer zu einer viertägigen Seereise bis an die Karastraße.

Hier wuchs kaum etwas; alles, was es gab, waren nur Tundragewächse wie zum Beispiel Zwergbirken. Von dort trieb man uns vier Tage und Nächte zu Fuß weiter. Nun, wir waren jung. Man gab uns trockene Brotkrusten und geräuchertes Rentierfleisch zu essen. Wir erhielten diese Rationen zusammen mit Schüsseln und warmen Stoffdecken. Es regnete in Strömen. Die Decken saugten sich so sehr mit Wasser voll, dass man sie unmöglich noch tragen konnte. Jeweils zwei von uns behielten eine Decke und wrangen sie aus, damit sie wieder leichter wurde.

Schließlich kamen wir an unserem Bestimmungsort an. Ich dachte bei mir: Bald werde ich ein Dach über dem Kopf haben. Aber wir kamen zu einem freien, dick bemoosten Gelände. Die Wachen sagten: „Lasst euch hier nieder. Das ist euer Ort.“

Einige Gefangene weinten; andere verfluchten die Regierung. Ich verfluchte dort niemals irgendjemand. Ich betete im Stillen: „Jehova, mein Gott, du bist meine Zuflucht und mein Bergungsort. Sei auch hier meine Zuflucht.“

Um das Gelände wurde mangels Draht ein Seil gezogen. Wachen wurden postiert. Die Wärter waren immer mit Lesen beschäftigt; sie sagten, sie würden schießen, wenn jemand näher als zwei Meter herankäme. Wir übernachteten auf sumpfigem Boden. Der Regen prasselte ständig auf uns herab. Ich wurde nachts wach und schaute nach den 1 500 Leuten, doch alles, was ich sehen konnte, war der Dunst, der von ihnen aufstieg. Als ich morgens aufwachte, lag ich auf einer Seite im Wasser. Es war zwar Moos, aber dort stand auch Wasser. Zu essen gab es nichts. Man sagte uns, wir sollten einen Flugplatz anlegen, damit ein Flugzeug landen und uns Nahrungsmittel bringen könne. Unsere Wärter hatten einen besonderen Traktor mit großen, breiten Reifen, damit er nicht stecken blieb. Dieser brachte ihnen Versorgungsgüter, aber wir bekamen nichts.

Wir arbeiteten drei Tage und drei Nächte an dem Flugplatz. Wir mussten das Moos abtragen, damit das Flugzeug landen konnte. Ein kleineres Flugzeug brachte Mehl. Das Mehl wurde mit heißem Wasser vermischt, und das aßen wir.

Unsere Arbeit war Knochenarbeit. Wir arbeiteten am Bau einer Straße und bauten außerdem eine Eisenbahnstrecke. Wir waren wie ein menschliches Fließband, auf dem schwere Steine befördert wurden. Im Winter war es den ganzen Tag dunkel und immer bitterkalt.

Schlafen mussten wir unter freiem Himmel, ohne Dach und Decke. Und der Regen strömte auf uns herab, wir waren hungrig und froren; aber wir waren jung und hatten auch Kraft. Die Wärter sagten uns, wir sollten uns keine Sorgen machen, denn bald hätten wir ein Dach über dem Kopf. Schließlich kam eine Zugmaschine des Militärs und brachte Zelttuch, genügend für 400 Personen. Wir zogen das Tuch auseinander und errichteten ein Dach, aber man konnte nach wie vor nur im Moos schlafen. Wir brachten alle eine Art Gras in die Behelfszelte, in denen wir wohnten. Dieses verfaulte und verwandelte sich in Kompost, auf dem wir dann schliefen.

Dann bekamen wir Läuse. Die haben uns total zerbissen. Sie waren nicht nur auf unserem Körper, sondern auch überall in unserer Kleidung — große und kleine —, es war schrecklich. Wenn man von der Arbeit kam und sich hinlegte, begannen sie einen zu beißen, und man kratzte und kratzte sich. Sobald man schlief, fraßen sie einen fast auf. Wir sagten zu unserem Vorarbeiter: „Die Läuse fressen uns bei lebendigem Leibe auf.“ Er erwiderte: „Bald werden eure Läuse geröstet.“

Die Gefängnisbeamten mussten wärmeres Wetter abwarten, denn wir hatten immer minus 30 Grad. Nun, die Kälte ließ etwas nach, und man brachte uns eine tragbare Desinfektionsstation. Aber wir hatten immer noch 20 Grad Kälte, und das Zelt war ganz zerrissen. „Ausziehen“, hieß es, „ihr werdet euch waschen. Ausziehen! Eure Kleider werden desinfiziert.“

Da standen wir nun bei 20 Grad Kälte und entkleideten uns völlig in einem Zelt, das überall Risse hatte. Man brachte uns Bretter, und wir benutzten sie als Boden. Als ich auf den Brettern saß, sah ich mir meinen Körper an. Ein fürchterlicher Anblick. Ich schaute den Mann neben mir an. Dasselbe. Kein Muskel war zu sehen. Alles war verkümmert. Wir waren nur Haut und Knochen. Ich konnte nicht einmal mehr auf einen Güterwagen klettern. Ich war völlig erschöpft. Dennoch hatte ich Tauglichkeitsgrad „Eins“ — ein junger, gesunder Arbeiter.

Ich dachte, ich würde bald sterben. Viele starben, alles junge Männer. Jetzt betete ich ganz inständig zu Jehova um Hilfe, denn ich sah keinen Ausweg mehr. Einige, die keine Zeugen waren, ließen eine Hand oder ein Bein vorsätzlich erfrieren und hieben es ab, um von dieser Arbeit befreit zu werden. Es war schrecklich, einfach fürchterlich!

Eines Tages stand ich in der Nähe eines Wachtpostens, und ich sah auch einen Arzt dort stehen. Ich war nach meiner Verhaftung zusammen mit ihm „gereist“ und hatte ihm über Gottes Königreich Zeugnis gegeben. Er war auch ein Gefangener gewesen, war dann aber begnadigt worden. Ich ging zu ihm und sah ihn an, und tatsächlich schien er frei zu sein. Ich sprach ihn mit Namen an; ich glaube er hieß Sascha. Er sah mich an und fragte: „Iwan, bist du es?“ Bei diesen Worten weinte ich wie ein kleiner Junge. „Geh sofort zur Krankenstation“, sagte er.

Ich ging zur Krankenstation und wurde aus dem Tauglichkeitsgrad „Eins“ für Arbeiter herausgenommen. Aber ich war nach wie vor im Lager. Da ich nun Tauglichkeitsgrad „Drei“ hatte, wurde ich in den Bereich für Ruhebedürftige verlegt. Der Kommandant sagte zu mir: „Ich habe dich nicht hierher eingeladen. Du bist hierher gekommen. Benimm dich anständig, und tu deine Arbeit!“ So stellte ich mich allmählich auf das Leben dort ein. Mit der Knochenarbeit war es jetzt für mich vorbei.

Am 16. August 1953 wurde ich entlassen. Man sagte zu mir: „Du kannst jetzt gehen.“ Ich könne hingehen, wohin ich wolle, teilte man mir mit. Ich ging zuerst in Richtung Wald, um Jehova dafür zu danken, dass er mich bewahrt hatte. Ich ging in das Wäldchen hinein und dankte Jehova auf Knien, dass er mich am Leben erhalten hatte — für die Zukunft und die künftige Tätigkeit seinen heiligen Namen zu verherrlichen.

[Herausgestellter Text]

„Bald werde ich ein Dach über dem Kopf haben“

[Herausgestellter Text]

„Ich ging in das Wäldchen hinein und dankte Jehova auf Knien, dass er mich am Leben erhalten hatte“

[Kasten/Bild auf Seite 155, 156]

Ein Interview mit Wolodimir Lewtschuk

Geburtsjahr: 1930

Taufe: 1954

Kurzporträt: Wegen politischer Betätigung von 1946 bis 1954 im Gefängnis. Kam in einem der Arbeitslager in Mordwinien mit Zeugen Jehovas in Berührung.

Ich war ukrainischer Nationalist. Deswegen verurteilten mich die Kommunisten zu 15 Jahren Lagerhaft. Im Lager befanden sich auch Zeugen Jehovas. Sie gaben mir Zeugnis, und ich erkannte sofort, dass es die Wahrheit war. Da wir in einem Hochsicherheitslager waren, hatten wir keine Bibel. Daher suchte ich nach kleinen Zetteln und hob sie mir auf. Als ich einige zusammenhatte, machte ich mir daraus ein kleines Notizbuch. Ich bat die Brüder, mir Bibelverse zu nennen, an die sie sich erinnern konnten, und wo sie in der Bibel standen. Dann schrieb ich sie in mein Buch. Ich befragte auch diejenigen, die nach mir ankamen. Wenn jemand etwas über eine biblische Prophezeiung wusste, dann schrieb ich das auch auf. Ich sammelte so eine Anzahl von Bibeltexten und begann sie in meiner Predigttätigkeit zu gebrauchen.

Als ich zu predigen anfing, gab es viele junge Burschen wie mich. Mit nur 16 Jahren war ich der jüngste. Ich sprach sie an und sagte: „Wir haben vergebens gelitten. Wir haben zusammen mit anderen unser Leben für nichts eingesetzt. Keine politische Ideologie wird uns etwas Gutes einbringen. Ihr müsst für das Königreich Gottes eintreten.“ Ich zitierte die Verse, die ich mir aus meinem Buch gemerkt hatte. Mein Gedächtnis war recht gut. Ich überzeugte meine Altersgenossen ziemlich schnell, und sie kamen nach und nach zu uns, zu uns Zeugen Jehovas. Sie wurden unsere Brüder.

[Kasten/Bild auf Seite 157]

Strafen, die Jehovas Zeugen auferlegt wurden

Verbannung innerhalb der Landesgrenzen: Verbannte wurden in entlegene Gegenden deportiert, gewöhnlich nach Sibirien, wo sie wohnen und arbeiten mussten. Sie durften ihr Wohngebiet nicht verlassen. Wöchentlich oder monatlich mussten sie sich bei der Polizei melden.

Haftanstalten: Drei bis zehn Gefangene wurden in eine Zelle gesperrt. Sie erhielten zwei bis drei Mahlzeiten am Tag. Einmal am Tag oder einmal in der Woche war ein Rundgang im Gefängnishof erlaubt. Sie arbeiteten nicht.

Gefangenenlager: Die meisten Lager befanden sich in Sibirien. Hunderte von Gefangenen wohnten zusammen in Baracken (in einem Gebäude gewöhnlich 20 bis 100 Häftlinge). Sie arbeiteten täglich mindestens acht Stunden auf dem Lagergelände oder woanders. Die Arbeit war schwer und bestand im Bau von Fabriken und Bahnstrecken sowie im Holzfällen. Die Häftlinge wurden auf dem Arbeitsweg von Wachen begleitet. Innerhalb des Lagers konnten sich die Gefangenen außerhalb der Arbeitszeit frei bewegen.

[Bild]

Sibirien (Russland): Kinder deportierter ukrainischer Zeugen hacken Brennholz (1953)

[Kasten/Bild auf Seite 161, 162]

Ein Interview mit Fjodor Kalin

Geburtsjahr: 1931

Taufe: 1950

Kurzporträt: Verbannung von 1951 bis 1965. Im Gefängnis von 1962 bis 1965.

Als ich im Gefängnis verhört wurde, tat Jehova etwas für mich, was mir wie ein Wunder erschien. Der zuständige Beamte vom KGB (Komitee für Staatssicherheit) kam mit einem Schriftstück. Der Untersuchungsbeamte setzte sich, und der Ankläger saß neben ihm. Der KGB-Beamte sagte zu dem Untersuchungsbeamten: „Geben Sie ihm dies! Lassen Sie ihn lesen, dass seine Brüder in Amerika nichts Gutes im Sinn haben!“

Man gab mir das Schriftstück. Es war eine Kongressresolution. Ich las sie durch; dann las ich sie noch mal sorgfältig. Der Ankläger wurde ungeduldig. Er unterbrach mich: „Herr Kalin! Wollen Sie das auswendig lernen?“

Ich erwiderte: „Nun, beim ersten Lesen habe ich es nur überflogen. Ich möchte es richtig verstehen.“ Innerlich weinte ich vor Freude. Als ich die Resolution zu Ende gelesen hatte, gab ich sie zurück und sagte: „Ich bin Ihnen wirklich dankbar, und ich danke Jehova Gott, dass er Sie veranlasst hat, dies zu tun. Nachdem ich diese Resolution gelesen habe, ist mein Glaube viel stärker geworden. Ich schließe mich diesen Zeugen an, und ich werde den Namen Gottes rückhaltlos preisen. Ich werde überall darüber reden, zu den Menschen im Lager und im Gefängnis. Das ist mein Auftrag!

Ganz gleich, was Sie mir Schlimmes antun werden, Sie werden mir nicht den Mund stopfen können. In dieser Resolution wird nicht gesagt, dass die Zeugen eine Art Aufstand herbeiführen wollen; aber sie sind fest entschlossen, was ihnen auch immer widerfahren mag, selbst bei schlimmer Verfolgung, Jehova in dem Bewusstsein zu dienen, dass er ihnen helfen wird, treu zu bleiben. Ich bitte Jehova Gott, mich in dieser schwierigen Zeit zu stärken, damit ich im Glauben standhaft sein kann.

Ich werde mich nicht erschüttern lassen. Dazu hat mich die Resolution zu sehr gestärkt. Daran wird sich auch nichts ändern, wenn Sie mich jetzt an die Wand stellen und erschießen. Jehova wird mich durch die Auferstehung retten!“

Den Untersuchungsbeamten stand die Enttäuschung im Gesicht geschrieben. Sie wussten, welch schweren Fehler sie gemacht hatten. Statt mit der Resolution meinen Glauben zu schwächen, hatten sie ihn damit gestärkt.

[Kasten/Bild auf Seite 167-169]

Ein Interview mit Marija Popowitsch

Geburtsjahr: 1932

Taufe: 1948

Kurzporträt: Sechs Jahre in Gefängnissen und Gefangenenlagern. Hat über zehn Personen geholfen, die Wahrheit kennen zu lernen.

Als ich am 27. April 1950 verhaftet wurde, war ich im fünften Monat schwanger. Am 18. Juli wurde ich zu zehn Jahren verurteilt. Bestraft wurde ich, weil ich gepredigt hatte, den Menschen von der biblischen Wahrheit erzählt hatte. Es wurden sieben von uns Zeugen verurteilt, vier Brüder und drei Schwestern. Jeder bekam zehn Jahre. Mein Sohn wurde am 13. August geboren.

Im Gefängnis verließ mich nicht der Mut. Aus Gottes Wort, der Bibel, hatte ich gelernt, dass man glücklich sein kann, wenn man als Christ und nicht als Mörder oder Dieb leidet. Und ich war glücklich. Ich hatte Freude im Herzen. Ich kam in Einzelhaft, und ich ging in der Zelle auf und ab und sang.

Ein Soldat öffnete das Guckloch und fragte: „In deiner Lage singst du?“

Ich erwiderte: „Ich bin glücklich, weil ich niemand irgendetwas angetan habe.“ Er schloss das Fensterchen. Geschlagen wurde ich nicht.

Man riet mir: „Sag dich von deinem Glauben los. Denk doch an deinen Zustand.“ Sie meinten, dass ich mein Kind im Gefängnis bekommen würde. Aber ich war glücklich, weil ich für meinen Glauben an das Wort Gottes verurteilt worden war. Deshalb fühlte ich mich wohl. Mir war bewusst, dass ich keine Verbrecherin war. Ich wusste, dass ich wegen meines Glaubens an Jehova litt. Deswegen blieb ich immer glücklich. So war es damals.

Als ich später im Lager arbeitete, bekam ich Erfrierungen an den Händen. Ich wurde ins Krankenhaus gesandt. Die Ärztin dort mochte mich mit der Zeit gut leiden. Sie sagte: „Um Ihre Gesundheit steht es nicht gut. Warum arbeiten Sie nicht für mich?“

Dem Lagerleiter gefiel diese Idee natürlich nicht. Er sagte zu der Ärztin: „Warum wollen Sie, dass diese Frau für Sie arbeitet? Suchen Sie sich jemand bei den anderen aus.“

Sie entgegnete: „Ich brauche in meinem Krankenhaus nicht irgendjemand, ich brauche gute, ehrliche Personen. Und sie wird hier in diesem Krankenhaus arbeiten. Ich weiß, dass sie nichts stehlen und dass sie keine Drogen nehmen wird.“

Man vertraute uns. Man achtete gläubige Menschen besonders. Man sah, was für Menschen wir waren. Das war gut für uns.

Schließlich überzeugte die Ärztin den Lagerleiter. Er wollte mich behalten, weil ich gut Holz schlagen konnte. Wo immer wir als Jehovas Diener arbeiteten, waren wir stets ehrlich und gewissenhaft.

Anmerkung: Marijas Sohn wurde im Gefängnis der ukrainischen Stadt Winniza geboren. In den folgenden beiden Jahren behielt man ihn auf der Waisenstation des Gefängnisses. Danach schickten Verwandte das Kind zu seinem Vater, der bereits nach Sibirien deportiert worden war. Als Schwester Popowitsch aus dem Gefängnis entlassen wurde, war ihr Sohn sechs Jahre alt.

[Herausgestellter Text]

„Ich bin glücklich, weil ich niemand irgendetwas angetan habe“

[Kasten/Bild auf Seite 175]

Ein Interview mit Marija Fedun

Geburtsjahr: 1939

Taufe: 1958

Kurzporträt: Deportiert von 1951 bis 1965.

Was sollten wir anderes tun, als wir im Zug saßen und uns alle beruhigt hatten? Wir kannten Lieder und wir fingen an zu singen. Wir sangen alle Lieder, die wir kannten — die Lieder aus unserem Liederbuch.

Zuerst hörten wir nur, dass in unserem Güterwagen gesungen wurde, aber als unser Zug später anhielt, weil andere Züge Vorfahrt hatten, erkannten wir, dass auch in anderen Zügen Brüder waren. Wir hörten das Singen aus diesen Zügen. Manche kamen aus Moldawien; dann fuhren die Rumänen aus der Bukowina vorbei. Es fuhren viele Züge. Sie überholten einander an verschiedenen Stellen. Wir merkten, dass es alles unsere Brüder waren.

Wir erinnerten uns an viele Lieder. Darüber hinaus wurden etliche Lieder in jenen Güterwagen komponiert. Das ermunterte uns und versetzte uns in die richtige Verfassung. Diese Lieder richteten unsere Aufmerksamkeit auf Jehova.

[Kasten/Bild auf Seite 177]

Ein Interview mit Lidija Staschtschischin

Geburtsjahr: 1960

Taufe: 1979

Kurzporträt: Sie ist eine Tochter von Marija Pilipiw, deren Interview auf Seite 208 und 209 erscheint.

Ich war noch klein, und Großvater diente als Ältester; er stand der Versammlung vor. Ich erinnere mich noch an seinen Tagesablauf: Morgens stand er auf, wusch sich und dann betete er. Danach schlug er die Bibel auf und wir saßen zusammen, um den Tagestext und das ganze Kapitel zu lesen. Großvater bat mich regelmäßig, wichtige Unterlagen — in einem Umschlag oder in einer Tasche — einem Ältesten zu bringen, der am anderen Ende der Stadt wohnte. Um zu seinem Haus zu gelangen, musste ich einen Hügel hinaufklettern. Ich mochte diesen Hügel nicht. Er war steil, und ihn hinaufzuklettern war mühevoll. Ich sagte immer: „Großvater, ich geh nicht! Kann ich nicht bitte hier bleiben?“

Großvater erwiderte dann stets: „Nein, du nimmst jetzt die Unterlagen und gehst!“

Im Innern sagte ich mir: „Ich gehe nicht! Ich gehe nicht!“ Doch dann dachte ich: „Nein, ich muss gehen, vielleicht hängt etwas Wichtiges davon ab.“ Daran dachte ich immer. Ich wollte wirklich nicht gehen, aber dennoch tat ich es. Ich wusste, dass er sonst niemand hatte. Das war sehr oft. Es war meine Arbeit, meine Aufgabe.

[Kasten/Bild auf Seite 178, 179]

Ein Interview mit Pawlo Rurak

Geburtsjahr: 1928

Taufe: 1945

Kurzporträt: Verbrachte 15 Jahre in Gefängnissen und Gefangenenlagern. Gegenwärtig vorsitzführender Aufseher in Artemowsk, im Osten der Ukraine.

Im Jahre 1952 war ich in einem streng geführten Lager in Karaganda (UdSSR). Wir waren zu zehnt in jenem Lager. Die Zeit verging nur langsam, sodass es sehr schwer für uns war. Wir hatten zwar Freude und Hoffnung, aber keine geistige Speise. Nach der Arbeit trafen wir uns, redeten miteinander und erinnerten uns an das, was wir zuvor durch den „treuen und verständigen Sklaven“ gelernt hatten (Mat. 24:45-47).

Ich entschloss mich, meiner Schwester zu schreiben, ihr unsere Situation im Lager zu schildern und ihr zu erklären, dass wir keine geistige Speise hatten. Da Gefangene solche Briefe nicht schreiben durften, war es schwierig, den Brief zu versenden. Schließlich erhielt meine Schwester jedoch den Brief. Sie packte ein Paket, tat frisches Brot zusammen mit einem Neuen Testament hinein und schickte es mir zu.

Die Kontrollen waren sehr streng. Die Beamten händigten den Gefangenen nicht immer die Päckchen aus. Oft zerbrachen sie den Inhalt. Alles wurde gründlich untersucht. Sie prüften zum Beispiel bei Konservendosen, ob nicht in einem doppelten Boden oder in der Wandung etwas verborgen war. Sie untersuchten sogar trockene Brötchen.

Schließlich kam der Tag, an dem ich sah, dass ich auf der Liste derer stand, die ein Paket erhalten sollten. Ich freute mich überaus, obwohl ich mir nicht erträumte, dass meine Schwester mir in dem Paket ein Neues Testament schicken würde. Der strengste Inspektor hatte Dienst; die Gefangenen nannten ihn Hitzkopf. Als ich mein Paket abholte, fragte er mich: „Von wem erwartest du ein Paket?“ Ich nannte ihm die Adresse meiner Schwester. Er nahm eine kleine Brechstange und öffnete es.

Als er den Deckel hochhob, sah ich das Neue Testament zwischen der Paketwand und den Lebensmitteln. Ich hatte gerade Zeit im Stillen zu sagen: „Jehova, lass es mich haben.“

Zu meinem Erstaunen sagte der Inspektor: „Mach schnell, nimm das Paket mit!“ Ich konnte nicht glauben, was geschehen war, und trug das Paket für andere unsichtbar zu den Baracken. Ich nahm das Neue Testament heraus und steckte es in meine Matratze.

Als ich den Brüdern sagte, ich hätte ein Neues Testament bekommen, wollte es mir niemand glauben. Es war ein Wunder Jehovas! Er unterstützte uns in geistiger Hinsicht, weil es in unserer Lage unmöglich war, irgendetwas zu bekommen. Wir dankten unserem himmlischen Vater Jehova für seine Barmherzigkeit und Fürsorge. Wir begannen zu lesen und uns geistig zu stärken. Wie dankbar wir Jehova dafür waren!

[Kasten/Bild auf Seite 180, 181]

Ein Interview mit Lidija Bsowi

Geburtsjahr: 1937

Taufe: 1955

Kurzporträt: Verbannung von 1949 bis 1965

Als Teenager war es für mich sehr schmerzlich, dass Vater nicht bei uns war. Wie die meisten Kinder liebten auch wir unseren Vater. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden. Iwan und ich sahen ihn nicht weggehen. Wir waren damals gerade auf dem Feld bei der Hirseernte.

Als wir vom Feld zurückkamen, sagte unsere Mutter zu uns, dass man Vater verhaftet hatte. Ich empfand eine Leere und fühlte mich tief getroffen. Ich geriet jedoch nicht in Panik und verspürte keinen Hass. Wir hatten immer damit gerechnet. Ständig wurden wir an die Worte Jesu erinnert: „Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen“ (Joh. 15:20). Diesen Vers lernten wir sehr früh im Leben. Wir kannten ihn genauso gut wie das Mustergebet. Wir wussten auch, dass die Welt uns nicht lieben würde, weil wir kein Teil von ihr sind. Was die Behörden taten, taten sie aus Unwissenheit.

Unter rumänischer Herrschaft in Moldawien wusste Vater, dass sein Fall vor Gericht verteidigt werden konnte. Wir durften mit zum Gericht. Das war ein sehr freudiger Tag für uns.

Vater gab ein wunderbares Zeugnis. Niemand hörte auf die Anklagen des Staatsanwalts, aber alle hörten der Aussage Vaters gebannt zu. Eine Stunde und 40 Minuten verteidigte er die Wahrheit. Er gab ein sehr klares und verständliches Zeugnis. Die Gerichtsbeamten hatten Tränen in den Augen.

Wir waren stolz, dass Vater sich vor Gericht verteidigen, also öffentlich für die Wahrheit eintreten konnte. Auf keinen Fall waren wir verzweifelt.

Anmerkung: Im Jahre 1943 wurden Schwester Bsowis Eltern von den deutschen Behörden verhaftet und zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, angeblich weil sie mit den sowjetischen Behörden zusammengearbeitet hatten. Die sowjetischen Truppen kamen innerhalb eines Jahres und ließen sie frei. Danach verhafteten die sowjetischen Behörden ihren Vater. Insgesamt verbrachte er 20 Jahre in Gefängnissen.

[Herausgestellter Text]

Wie die meisten Kinder liebten auch wir unseren Vater. Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden.

[Kasten/Bilder auf Seite 186-189]

Ein Interview mit Tamara Rawljuk

Geburtsjahr: 1940

Taufe: 1958

Kurzporträt: 1951 deportiert. Half fast 100 Personen, die Wahrheit kennen zu lernen.

Dies ist die Geschichte von Halina. Sie war erst 17 Tage alt, als ihre Eltern 1958 verhaftet wurden. Zusammen mit ihrer Mutter kam Halina in ein Gefangenenlager in Sibirien. Solange ihre Mutter sie stillte, durfte Halina bei ihr bleiben, und das war in den ersten fünf Monaten. Danach musste sie arbeiten, und das Baby sollte in ein Kinderheim. Unsere Familie lebte in dem nahe gelegenen Gebiet Tomsk. Die Brüder schrieben an unsere Versammlung und fragten, ob jemand das Mädchen holen und es erziehen könne, bis die Eltern frei wären. Als der Brief vorgelesen wurde, stießen alle einen Seufzer aus. Es war traurig und tragisch, dass sich ein Kind in einer solchen Situation befand.

Wir hatten etwas Bedenkzeit. Eine Woche verging, ohne dass sich jemand anbot, das Mädchen zu nehmen. Niemand hatte es leicht. In der zweiten Woche sagte mein älterer Bruder zu Mama: „Nehmen wir doch das Mädchen zu uns.“

Mama erwiderte: „Wie stellst du dir das vor, Wasja? Ich bin alt und krank. Es ist eine große Verantwortung, das Kind von jemand anders aufzunehmen. Das ist kein Tier. Es ist keine Kuh und keine Färse. Es ist ein Baby. Und dazu eines, das uns nicht gehört.“

Er sagte darauf: „Aus ebendiesem Grund sollten wir es zu uns nehmen, weil es kein Tier ist. Stell dir nur einmal ein Baby unter solchen Verhältnissen vor — unter Lagerverhältnissen! Es ist noch so klein und hilflos.“ Dann fügte er hinzu: „Sollten wir nicht daran denken, dass es eine Zeit geben könnte, wo zu uns gesagt wird: ‚Ich war krank, ich war im Gefängnis, mich hungerte, aber ihr habt mir nicht geholfen‘?“

Mama sagte: „Ja, das könnte geschehen, dennoch ist es eine große Verantwortung, das Kind von jemand anders zu sich zu nehmen. Was ist, wenn ihr bei uns was zustößt?“

Mein Bruder entgegnete: „Und was ist, wenn ihr dort etwas zustößt?“ Er zeigte auf mich und sagte: „Wir haben Tamara. Sie kann ungehindert reisen und das Kind herbringen. Wir alle werden uns bemühen, für das Kind zu sorgen.“

Nun, wir überlegten hin und her und redeten miteinander, bis wir uns schließlich einig waren, dass ich gehen sollte. Daher ging ich zu den Lagern von Marinsk, um das Mädchen dort abzuholen. Die Brüder gaben mir Literatur mit. Außerdem gaben sie mir einen Fotoapparat, damit ich von der Mutter ein Bild machen konnte und wir wüssten, wie sie aussieht, denn wir kannten sie ja nicht. Den Fotoapparat durfte ich nicht mit ins Lager nehmen, aber die Literatur bekam ich durch. Ich hatte einen Topf gekauft, die Literatur hineingelegt und Öl darüber gegossen. Als ich durch die Pforte ging, prüfte der Wärter nicht, ob etwas unter dem Öl war. So bekam ich die Literatur ins Lager hinein.

Lidija Kurdas, die Mutter, konnte ich kennen lernen. Ich übernachtete sogar im Lager, weil die Entlassungspapiere für das Kind noch ausgestellt werden mussten. Und dann nahm ich Halina mit nach Hause. Sie war damals fünf Monate und ein paar Tage alt. Wir kümmerten uns zwar alle gut um sie, aber trotzdem wurde sie sehr krank. Die Ärzte kamen, aber sie konnten nichts finden.

Die Ärzte meinten, es sei mein Kind, und sie machten mir Vorwürfe: „Was sind Sie nur für eine Mutter!“, sagten sie. „Warum geben Sie ihr nicht genug zu essen?“ Wir fürchteten uns, zu sagen, dass das Kind aus dem Gefängnis stammte, und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Ich weinte nur und sagte gar nichts. Die Ärzte schimpften mit mir; sie schrien Mama an und sagten, ich sei zu jung für eine Heirat gewesen und brauche ja selbst noch Milch. Ich war 18 Jahre alt.

Halina war sehr krank und hatte Atembeschwerden. Ich schlich mich unter die Treppe und betete: „Jehova Gott, Jehova Gott, bevor die Kleine sterben muss, lass lieber mich sterben!“

Das kleine Mädchen rang in Gegenwart der Ärzte nach Luft. Sie meinten: „Es ist hoffnungslos, sie kommt nicht durch, sie kommt nicht durch.“ Sie sagten dies in meinem Beisein und in Gegenwart meiner Mutter. Mama weinte und ich betete. Und das Kind kam durch. Halina blieb bei uns, bis ihre Mutter entlassen wurde. Sie war sieben Jahre bei uns und wurde kein einziges Mal mehr krank.

Halina lebt heute in Charkow (Ukraine). Sie ist unsere Schwester und steht im allgemeinen Pionierdienst.

[Herausgestellter Text]

„Jehova Gott, Jehova Gott, bevor die Kleine sterben muss, lass lieber mich sterben!“

[Bild]

Von links nach rechts: Tamara Rawljuk (geborene Burjak), Serhii Rawljuk, Halina Kurdas, Michailo Burjak, Marija Burjak

[Bild]

Von links nach rechts: Serhii und Tamara Rawljuk, Mikola und Halina Kuibida (geborene Kurdas), Olexii und Lidija Kurdas

[Kasten auf Seite 192]

Ein Kreisaufseherbericht aus dem Jahre 1958

„Wie schwer es für die Brüder ist, kann man in etwa begreifen, wenn man erfährt, dass zehn Mitglieder einer kommunistischen Jugendorganisation so gut wie jeden Bruder ausspionieren. Hinzu kommen verräterische Nachbarn, falsche Brüder, eine Vielzahl von Polizisten, Strafen bis zu 25 Jahren in Lagern oder Gefängnissen, Verbannung nach Sibirien, lebenslange Zwangsarbeit und Haft, manchmal lange Haftstrafen in dunklen Gefängniszellen — all das kann jemand widerfahren, der nur wenige Worte über das Königreich Gottes sagt.

Doch die Verkündiger sind furchtlos. Ihre Liebe zu Jehova ist grenzenlos, sie sind ähnlich eingestellt wie die Engel, und sie denken nicht daran, den Kampf aufzugeben. Sie wissen, dass es Jehovas Werk ist und dass es bis zum siegreichen Ende getan werden muss. Die Brüder wissen, für wen sie ihre Lauterkeit bewahren. Für Jehova zu leiden ist für sie eine Freude.“

[Kasten/Bild auf Seite 199-201]

Ein Interview mit Serhii Rawljuk

Geburtsjahr: 1936

Taufe: 1952

Kurzporträt: Verbrachte 16 Jahre in Gefängnissen und Gefangenenlagern. Wurde siebenmal gezwungen, sein Zuhause zu verlassen. Half etwa 150 Personen, die Wahrheit kennen zu lernen. Das Interview mit seiner Frau Tamara erscheint auf den Seiten 186 bis 189. Serhii dient gegenwärtig als Ältester in der Versammlung Rohan, in der Nähe von Charkow.

Ich verbrachte sieben Jahre in Mordwinien. Obwohl dies in einem Hochsicherheitslager war, wurden zu meiner Zeit dort viele Veröffentlichungen verbreitet. Einige Wärter nahmen die Literatur mit nach Hause, lasen sie selbst und gaben sie dann anderen in der Familie und weiteren Verwandten.

Manchmal kam ein Wärter in der zweiten Schicht zu mir. Er sagte gewöhnlich: „Hast du irgendwas, Serhii?“

„Was hätten Sie denn gerne?“, pflegte ich zu antworten.

„Nur etwas zu lesen.“

„Ist morgen eine Durchsuchung?“

„Ja, morgen in der fünften Einheit.“

„In Ordnung, in einer bestimmten Koje unter einem Handtuch wird ein Wachtturm liegen. Sie können ihn haben.“

Die Durchsuchung fand statt, und er nahm sich den Wachtturm. Die Wachen fanden allerdings keine andere Literatur, weil wir von der Durchsuchung im Voraus wussten. Auf diese Weise halfen uns einige Wärter. Sie fühlten sich von der Wahrheit angezogen, fürchteten aber, ihre Arbeit zu verlieren. In den vielen Jahren, in denen die Brüder dort waren, sahen die Wärter, wie wir lebten. Vernünftig denkende Menschen konnten erkennen, dass wir keines Verbrechens schuldig waren. Sie konnten sich nur nicht darüber äußern, da sie sonst als Kollaborateure der Zeugen Jehovas angesehen worden wären und sie ihren Arbeitsplatz verloren hätten. Sie unterstützten unser Werk also in gewissem Grad. Sie nahmen Schriften und lasen sie. Das machte die Hitze der Verfolgung erträglicher.

Bis 1966 waren von uns fast 300 in Mordwinien. Die Verwaltung wusste, an welchem Datum das Gedächtnismahl stattfinden würde. In diesem Jahr beschloss man, uns an der Feier zu hindern. Die Verwaltung meinte: „Ihr studiert schon den Wachtturm, aber mit diesem Gedächtnismahl ist jetzt Schluss. Ihr werdet nicht das Geringste tun können.“

Die Mitglieder der verschiedenen Wacheinheiten mussten bis zum Signal „Entwarnung“ auf ihren Stuben bleiben. Alle waren an ihrem Platz: die Überwachungsbeamten, das Verwaltungspersonal und der Lagerkommandant.

Daher gingen wir alle auf die Straße, zu dem Platz, auf dem wir täglich, morgens und abends, zum Zählappell antreten mussten. Dann gingen wir — jeweils geschlossen als Versammlung oder Gruppe — auf dem Gelände spazieren. In jeder Gruppe hielt ein Bruder unterwegs die Ansprache, und die anderen hörten zu.

Wir hatten keine Symbole, wir hielten also nur die Ansprache. Zu jener Zeit war niemand von den Gesalbten im Lager. Um 21.30 Uhr war alles vorüber; alle Gruppen hatten die Feier abgeschlossen, die im Gehen auf der Straße abgehalten wurde.

Wir wollten das Lied zusammen singen, alle Brüder gemeinsam. Wir versammelten uns also neben dem Badehaus, das von dem Kontrollpunkt am Eingang am weitesten entfernt lag. Man muss sich einmal vorstellen: Von 300 Männern singen etwa 80 bis 100 abends in der Taiga. Man stelle sich nur vor, wie jenes Lied geklungen haben muss! Ich entsinne mich, dass wir das Lied „Alles für dich“ sangen — Nummer 25 aus dem alten Liederbuch. Jeder kannte das Lied. Manchmal riefen uns sogar die Soldaten von den Türmen aus zu: „Singt bitte Lied 25!“

Als wir an diesem Abend das Lied anstimmten, lief das gesamte Personal aus den Wachstuben zum Badehaus, um uns am Singen zu hindern. Als sie ankamen, konnten sie das Singen jedoch nicht unterbrechen, denn alle Brüder, die nicht sangen, standen in einem geschlossenen Kreis um diejenigen herum, die sangen. Daher liefen die Wachen nur wild umher, bis wir zu singen aufhörten. Nach dem Lied zerstreuten wir uns. Die Wachen wussten nicht, wer gesungen hatte und wer nicht. Sie konnten nicht alle in Einzelhaft stecken.

[Kasten/Bild auf Seite 203, 204]

Ein Interview mit Viktor Popowitsch

Geburtsjahr: 1950

Taufe: 1967

Kurzporträt: Im Gefängnis geboren, Sohn von Marija Popowitsch (das Interview mit ihr erscheint auf den Seiten 167 bis 169). 1970 verhaftet, vier Jahre im Gefängnis wegen Predigttätigkeit. An drei Verhandlungstagen bezeugten 35 Personen vor Gericht, dass Bruder Popowitsch ihnen gepredigt hatte.

Die Lage, in der sich Jehovas Zeugen befanden, ist nicht nur auf menschlicher Ebene zu bewerten. Die Verfolgung des Volkes Gottes ist nicht ausschließlich der Regierung zuzuschreiben. Die meisten Beamten haben nur ihre Pflicht getan. Mit dem Wechsel einer Regierung wechselte auch ihre Treue, aber wir blieben wir selbst. Wir erkannten, dass die eigentliche Ursache unserer Beschwernisse in der Bibel geoffenbart worden war.

Wir sahen uns nicht einfach als unschuldig Unterdrückte. Wir konnten leichter ausharren, weil wir klar die Frage verstanden, die im Garten Eden aufgeworfen wurde: die Streitfrage um das Herrscherrecht Gottes. Es war eine ungeklärte Streitfrage. Wir erkannten die Chance, für die Herrschaft Jehovas einzutreten. Wir traten für eine Streitfrage ein, bei der es nicht nur um menschliche Eigeninteressen ging, sondern auch um die Interessen des Souveräns des Universums. Wir hatten eine viel erhabenere Auffassung von den eigentlichen Streitfragen. Das machte uns stark und befähigte uns, unter extremsten Bedingungen die Lauterkeit zu bewahren. Wir erkannten, dass es um mehr ging als um bloße Beziehungen auf menschlicher Ebene.

[Herausgestellter Text]

Die Verfolgung des Volkes Gottes ist nicht ausschließlich der Regierung zuzuschreiben

[Kasten/Bild auf Seite 208, 209]

Ein Interview mit Marija Pilipiw

Geburtsjahr: 1934

Taufe: 1952

Kurzporträt: Zog 1951 nach Sibirien, um ihre Schwester zu besuchen, die dorthin deportiert worden war. Marija lernte die Wahrheit in Sibirien kennen und heiratete später einen deportierten Bruder.

Als mein Vater gestorben war, kam die Polizei zu uns nach Hause. Es waren etliche Polizisten. Sie kamen vom Ort und vom Kreis. Sie wiesen uns darauf hin, dass sie keine Lieder und Gebete hören wollten. Wir wandten ein, dass Gebete nicht gesetzlich verboten seien. Sie erkundigten sich nach dem Zeitpunkt des Begräbnisses. Wir sagten es ihnen, und sie gingen wieder.

Die Brüder waren früh da. Es war zwar verboten, sich zu versammeln, aber man durfte zu einer Beerdigung gehen. Wir begannen früh, da wir mit der Polizei rechneten. Gerade als ein Bruder mit dem Gebet begann, fuhr ein voll besetzter Mannschaftswagen der Polizei vor. Der Bruder sprach das Gebet zu Ende, und dann gingen wir zum Friedhof.

Die Polizisten folgten uns und erlaubten uns, den Friedhof zu betreten. Als der Bruder ein weiteres Gebet sprach, wollte man ihn festnehmen. Aber wir Schwestern hatten beschlossen, zu verhindern, dass sie den Bruder zu fassen bekamen. Weil es viele Polizisten waren, bildeten wir um den Bruder einen Kreis. In dem anschließenden Durcheinander führte eine Schwester den Bruder vom Friedhof über Schleichwege ins Dorf. Plötzlich kam ein Bekannter mit seinem Privatauto vorbei, der Bruder stieg ein und fuhr mit. Die Polizei suchte ihn überall, aber vergebens. Dann rückte sie wieder ab.

Die Schwestern haben die Brüder oft beschützt. Gewöhnlich ist es umgekehrt, aber so musste es damals sein. Die Schwestern mussten die Brüder beschützen. Es gab viele ähnliche Situationen.

[Herausgestellter Text]

„So musste es damals sein. Die Schwestern mussten die Brüder beschützen.“

[Kasten/Bild auf Seite 220, 221]

Ein Interview mit Petro Wlasjuk

Geburtsjahr: 1924

Taufe: 1945

Kurzporträt: Verbannung von 1951 bis 1965. Kurz nachdem Bruder Wlasjuk deportiert worden war, erkrankte sein Sohn und starb. Im Jahr darauf traten bei seiner Frau nach der Geburt eines weiteren Sohnes Komplikationen ein, denen sie schließlich erlag. Nun stand Bruder Wlasjuk mit dem Baby allein da. 1953 heiratete er wieder, und seine zweite Frau half ihm, das Kind zu versorgen.

Ich war unter denen, die 1951 aus der Ukraine nach Sibirien deportiert wurden. Niemand von uns war verängstigt. Jehova flößte den Brüdern einen solch besonderen Geist ein, dass sie Glauben hatten, einen Glauben, der sich in der Art, wie sie redeten, äußerte. Niemand hätte sich je dieses Gebiet zum Predigen ausgesucht. Anscheinend gestattete Jehova Gott es aber der Regierung, uns dorthin zu bringen. Später gestanden die Behörden: „Wir haben einen großen Fehler begangen.“

Die Brüder fragten: „Was für einen Fehler?“

„Den Fehler, dass wir Sie hierher gebracht haben und Sie jetzt auch hier die Leute bekehren.“

Die Brüder erwiderten: „Das wird wohl nicht Ihr letzter Fehler gewesen sein.“

Ihr zweiter großer Fehler war, dass wir nach der Amnestie zwar freigelassen wurden, aber nicht nach Hause zurückkehren durften. „Ziehen Sie irgendwohin, außer nach Hause“, sagten sie. Hinterher kamen sie zur Vernunft und erkannten, dass dies für sie ein schlechter Schachzug gewesen war. Zufolge dieser Anordnung hatte sich nämlich die gute Botschaft in ganz Russland verbreitet.

[Kasten/Bild auf Seite 227]

Ein Interview mit Anna Wowtschuk

Geburtsjahr: 1940

Taufe: 1959

Kurzporträt: Verbannung von 1951 bis 1965. Wurde im Alter von zehn Jahren nach Sibirien geschickt. Von 1957 bis 1980 im Untergrund tätig, vervielfältigte biblische Literatur.

Das KGB versuchte uns oft dazu zu bewegen, die Identität unserer Brüder zu bestätigen. Man legte uns zu diesem Zweck Bilder vor. Ich sagte gewöhnlich: „Wenn Sie mich fragen — ich weiß nichts. Für Sie kenne ich niemanden.“ So antworteten wir ihnen immer. Später, kurz nach meiner Heirat, ging ich in die Stadt und begegnete dem obersten KGB-Beamten in Angarsk. Er hatte mich oft vorgeladen und kannte mich gut.

Er sagte zu mir: „Was Stepan Wowtschuk betrifft — haben Sie mir gesagt, Sie würden den Mann nicht kennen. Wie kommt es, dass Sie jetzt mit ihm verheiratet sind?“

Ich antwortete ihm: „Sie haben ihn mir doch selbst durch Ihre Bilder vorgestellt.“

Er klatschte in die Hände: „Sieh mal einer an! Wir sind schon wieder die Schuldigen!“

Und wir lachten gemeinsam. Das war ein freudiger Moment in meinem Leben.

[Kasten/Bild auf Seite 229, 230]

Ein Interview mit Sofija Wowtschuk

Geburtsjahr: 1944

Taufe: 1964

Kurzporträt: Verbannung von 1951 bis 1965. Wurde im Alter von sieben Jahren zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrer Schwester nach Sibirien deportiert.

Als man uns nach Sibirien schickte, hieß es, wir würden dort für immer bleiben. Wir hätten uns nie vorstellen können, dass es je wieder Freiheit für uns geben würde. Als wir im Wachtturm von Kongressen in anderen Ländern lasen, beteten wir zu Jehova, nur einmal im Leben einen Kongress besuchen zu können, wie es den Brüdern in anderen Ländern möglich ist. Und wie sollte es anders sein, Jehova segnete uns. 1989 konnten wir einen internationalen Kongress der Zeugen Jehovas in Polen besuchen. Es ist unbeschreiblich, wie begeistert, wie erfreut wir darüber waren, dort sein zu können.

Die Brüder in Polen hießen uns herzlich willkommen. Wir waren vier Tage dort. Wir waren tatsächlich auf einem Kongress! Es war die reinste Freude, mehr über Jehova zu erfahren und aus dem Wort Gottes unterwiesen zu werden. Wir waren überglücklich. Allen erzählten wir, was wir erlebt hatten. Obwohl so viele Nationalitäten vertreten waren, waren doch alle unsere Brüder. Als wir im Stadion umhergingen, verspürten wir ein wunderbares Gefühl des Friedens. Nach alldem — nach einer solch langen Zeit unter Verbot — war es so, als wären wir bereits in der neuen Welt. Niemand fluchte und alles war schön sauber. Nach dem Programm waren wir mit anderen zusammen. Wir gingen nicht gleich weg; wir pflegten mit den Brüdern Gemeinschaft und redeten miteinander. Es waren auch Dolmetscher da, wenn wir jemandes Sprache nicht verstanden. Auch wenn wir uns nicht direkt verstehen konnten, küssten wir uns. Wir waren einfach glücklich.

[Kasten/Bild auf Seite 243, 244]

Ein Interview mit Roman Jurkewitsch

Geburtsjahr: 1956

Taufe: 1973

Kurzporträt: Verbrachte wegen seiner christlichen Neutralität sechs Jahre in Gefangenenlagern. Dient seit 1993 in der Ukraine im Zweigkomitee.

Die Wahrheit veranlasst jemand dazu, anderen zu helfen und sie zu unterstützen. Wir spürten dies besonders 1998, als es in Transkarpatien große Überschwemmungen gab und Hunderte, buchstäblich Hunderte von Menschen über Nacht ihr Zuhause und ihr ganzes Hab und Gut verloren.

Innerhalb von zwei Tagen war eine Gruppe von Brüdern zur Stelle, und sie bildeten Hilfskomitees. Diese Komitees bestimmten, welche Hilfe jede Familie und jedes Dorf erhalten sollte. Zwei Dörfer waren besonders schwer betroffen: Wari und Wischkowe. Innerhalb von nur zwei bis drei Tagen stand fest, welcher Familie wie geholfen werden sollte und wer die Hilfe leisten würde. Dann trafen unsere Brüder mit Lastwagen ein und begannen die Unmengen von Schlamm wegzuschaufeln.

Sie brachten trockenes Holz mit, worüber sich alle in der Gegend wunderten. Die Außenstehenden waren erstaunt. Eine Schwester aus Wischkowe befand sich dort, wo eine Mannschaft von Brüdern den Schlamm wegschaufelte. Ein Reporter wandte sich an sie mit der Frage: „Wissen Sie, wer die Leute hier sind?“

„Ich kenne sie nicht näher“, antwortete sie, „weil wir verschiedene Sprachen sprechen — Rumänisch, Ungarisch, Ukrainisch und Russisch. Aber eines weiß ich: Es sind meine Brüder und Schwestern, und sie helfen mir.“

Innerhalb von zwei bis drei Tagen hatten die Brüder Hilfe geschickt und sich um die Familien gekümmert, die an andere Orte gebracht werden mussten. Ein halbes Jahr später waren so gut wie alle Häuser der Zeugen wieder aufgebaut, und die Zeugen in jener Gegend zogen als Erste in ihr neues Haus ein.

[Übersicht auf Seite 254]

(Siehe gedruckte Ausgabe)

Allgemeine Pioniere in der Ukraine (1990—2001)

10 000

8 000

6 000

4 000

2 000

0

1990 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2001

[Übersicht auf Seite 254]

(Siehe gedruckte Ausgabe)

Zeugen Jehovas in der Ukrainea (1939—2001)

120 000

100 000

80 000

60 000

40 000

20 000

0

1939 1946 1974 1986 1990 1992 1994 1996 1998 2001

[Fußnote]

a Die Zahlen für die Jahre 1939—1990 enthalten ungefähre Angaben

[Karten auf Seite 123]

(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)

UKRAINE

WOLHYNIEN

GALIZIEN

Lwiw

TRANSKARPATIEN

BUKOWINA

KIEW

Charkow

Dnjepropetrowsk

Luhansk

Saporoschje

Donezk

Odessa

KRIM

SCHWARZES MEER

TÜRKEI

BULGARIEN

RUMÄNIEN

MOLDAWIEN

POLEN

WEISSRUSSLAND

RUSSLAND

[Ganzseitiges Bild auf Seite 118]

[Bild auf Seite 127]

Wojtek Tschechi

[Bild auf Seite 129]

Der erste Kongress in Galizien in Borislaw im August 1932

[Bild auf Seite 130]

Kongress in Solotwino (Transkarpatien), 1932

[Bild auf Seite 132]

Vierzig Jahre lang kamen Marija und Emil Zarysky treu ihrer Aufgabe als Übersetzer nach

[Bild auf Seite 133]

Das erste Literaturlager der Ukraine befand sich von 1927 bis 1931 in diesem Haus in Uschgorod

[Bild auf Seite 134]

Verkündigergruppe — bereit, mit dem Bus in die Gegend von Rachiw (Karpaten) in den Predigtdienst zu fahren (1935); (1) Wojtek Tschechi

[Bild auf Seite 135]

Frühe Grammophonplatte („Religion und Christentum“) in Ukrainisch

[Bild auf Seite 136]

Die Versammlung Kosmatsch im Jahre 1938; (1) Mikola Wolotschij verkaufte eines seiner beiden Pferde, um sich ein Grammophon kaufen zu können

[Bild auf Seite 137]

Ludwik Kinicki, an den sich viele gerne als einen eifrigen Diener Gottes erinnern, starb in Treue gegenüber Jehova in einem NS-Konzentrationslager

[Bilder auf Seite 142]

Illja Howutschak (oben, links) wurde von der Gestapo hingerichtet, nachdem ein katholischer Geistlicher ihn der Polizei übergeben hatte; hier mit Onufrij Riltschuk unterwegs in den Predigtdienst in den Bergen und (rechts) mit seiner Frau Paraska

[Bild auf Seite 146]

Anastasia Kasak (1) und andere Zeugen aus dem Konzentrationslager Stutthof

[Bilder auf Seite 153]

Iwan Maximjuk (oben mit seiner Frau Jewdokija) und sein Sohn Michailo (rechts) weigerten sich, ihre Lauterkeit aufzugeben

[Bild auf Seite 158]

Frühe biblische Veröffentlichungen in Ukrainisch

[Bild auf Seite 170]

Mit 20 Jahren hatte Hrihorii Melnik die Aufgabe, für seine beiden jüngeren Brüder und seine Schwester zu sorgen

[Bild auf Seite 176]

Marija Tomilko ertrug 15 Jahre Gefängnis, ist aber treu geblieben

[Bild auf Seite 182]

Nuzu Bokotsch bei einem kurzen Zusammentreffen mit seiner Tochter im Gefängnis (1960)

[Bilder auf Seite 185]

Lidija und Olexii Kurdas (oben) wurden verhaftet und in getrennten Lagern eingesperrt, als ihre Tochter Halina 17 Tage alt war; Halina Kurdas im Alter von drei Jahren (rechts): Das Foto ist von 1961, als ihre Eltern noch im Gefängnis waren

[Bild auf Seite 191]

Am Abend vor ihrer Hochzeit wurden Hanna Schischko und Jurii Kopos verhaftet und darauf zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Sie heirateten zehn Jahre später.

[Bild auf Seite 191]

Jurii Kopos verbrachte fast ein Dritteljahrhundert in sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern

[Bild auf Seite 194]

Pawlo Sjatek widmete sein ganzes Leben dem Dienst für Jehova

[Bild auf Seite 196]

Vom 18. Mai 1962 datierter Brief von Nathan H. Knorr an die Brüder in der UdSSR

[Bild auf Seite 214]

Literatur für die Ukraine und andere Teile der Sowjetunion wurde in Bunkern, wie diesem in der Ostukraine, hergestellt

[Bild auf Seite 216]

Oben: Der Waldhügel tief in den Karpaten, wo Iwan Dsjabko die Arbeit in einem geheimen Bunker beaufsichtigte

[Bild auf Seite 216]

Mitte: Michailo Djoloh sitzt neben dem damaligen Eingang des Bunkers, wo er Iwan Dsjabko mit Papier belieferte

[Bild auf Seite 216]

Rechts: Iwan Dsjabko

[Bild auf Seite 223]

Bela Meisar verbrachte insgesamt 21 Jahre im Gefängnis. In dieser Zeit legte seine treue Frau Regina bei ihren häufigen Besuchen insgesamt über 140 000 Kilometer zurück

[Bild auf Seite 224]

Michail Dasewitsch wurde 1971 zum Landesdiener ernannt

[Bild auf Seite 233]

Die Registrierung der Zeugen Jehovas in der Ukraine am 28. Februar 1991 war die erste auf dem Staatsgebiet der UdSSR

[Bilder auf Seite 237]

Beim internationalen Kongress in Kiew, der im August 1993 stattfand, ließen sich 7 402 Personen taufen — die größte Zahl von Täuflingen auf einem Kongress in der neuzeitlichen Geschichte des Volkes Gottes

[Bild auf Seite 246]

Die Abschlussfeier der ersten Klasse der Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung in Lwiw (Anfang 1999)

[Bild auf Seite 251]

Oben: Der Königreichssaalkomplex, in dem die Bethelfamilie von 1995 bis 2001 tätig war

[Bild auf Seite 251]

Mitte: Das Haus, das die Bethelfamilie von 1994 bis 1995 benutzte

[Bild auf Seite 251]

Unten: Der Königreichssaal in Nadwirna — der erste, der im Rahmen des Königreichssaal-Bauprogramms in der Ukraine errichtet wurde

[Bilder auf Seite 252, 253]

(1—3) Das neue Zweigbüro in der Ukraine

[Bild auf Seite 252]

(4) Das Zweigkomitee (von links nach rechts): (sitzend) Stepan Hlinskii, Stepan Mikewitsch; (stehend) Andrii Semkowitsch, Roman Jurkewitsch, John Didur und Jürgen Keck

[Bild auf Seite 253]

(5) Theodore Jaracz hält am 19. Mai 2001 die Ansprache zur Bestimmungsübergabe

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