Ein Besuch in Hongkong
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Hongkong
IM November 1972 wurde in Hongkong der millionste Besucher jenes Jahres festlich empfangen. Zum erstenmal hatte die Zahl der Touristen, die in einem Jahr diese britische Kronkolonie besuchten, die Millionengrenze erreicht.
Die meisten Besucher kommen mit dem Flugzeug und landen dann auf dem Flughafen Kai Tak. Viele weitere Touristen treffen auf Fracht- oder auf Fahrgastschiffen ein, die in dem modernen Hafen für Seeschiffe an der Spitze der Halbinsel Kaulun, dem Tor zu den Touristenbezirken, vor Anker gehen.
Wenn das Schiff, mit dem man nach Hongkong reist, den Hafen nachts anläuft, bietet sich einem ein faszinierendes Bild: Der Hafen ist eingerahmt von bunten Lichterketten wie von einem funkelnden Diadem. Ferner sieht man auf dem Wasser „leuchtende Tausendfüßler“ schwimmen. In Wirklichkeit sind das die Fährboote. Aber mit ihren erleuchteten Fenstern gleichen diese Boote, die flink zwischen der Insel und dem Festland hin- und hergleiten, solchen Tierchen.
Viele Touristen, die der Kronkolonie einen Besuch abstatten, „sehen“ Hongkong nie. Wieso nicht?
Nach ihrer Ankunft werden sie direkt in ihr Hotel im Touristenbezirk gefahren, und dann bringen sie die ganze Zeit in jenem Viertel mit Einkaufen zu. Deshalb sehen sie nichts Asiatisches, außer Souvenirs, Gesichtern und chinesischen Schriftzeichen. Das Interessanteste an Hongkong ist jedoch die Bevölkerung und ihre Lebensart.
Hinter der kühlen Geschäftsatmosphäre Hongkongs verbirgt sich eine fleißige, initiative und gewöhnlich freundliche und höfliche chinesische Bevölkerung. Die meisten Bewohner Hongkongs sind zu irgendeiner Zeit aus China ausgewandert, oder sie sind die Kinder von Eltern, die früher in China gewohnt haben. Die älteren Generationen, die größtenteils aus den Kreisen der Landbevölkerung stammen, haben die Herzlichkeit und das Zutrauen, die dieser Bevölkerung eigen sind, mitgebracht. Viele haben in kleinen Dörfern gewohnt, wo man sich umeinander gekümmert und wo man miteinander Freundschaft gepflegt hat, in Dörfern, in denen die Kriminalität so gut wie unbekannt war. Leider haben diese Menschen sich jedoch gewandelt.
Der Sittenverfall und seine Auswirkungen
Heute sind Notzuchtverbrechen und Gewalttaten — noch vor zehn Jahren eine Seltenheit — an der Tagesordnung.
Früher, als die Kriminalität noch gering und demzufolge das Mißtrauen noch nicht so groß war, wurde ein Besucher fast immer gebeten, einzutreten und eine Tasse Tee zu trinken. Leider ist das heute nicht mehr so, sondern jetzt schauen die meisten Leute durch ein einbruchsicheres Eisengittertor oder durch das Guckloch in der Tür und lassen nur Personen herein, die sie kennen. Obwohl die Verbrechensquote hier niedriger ist als in einigen anderen Ländern der Welt, sind die meisten Menschen auf der Straße mißtrauisch und ängstlich.
Auch hat sich das traditionelle chinesische Familienleben geändert; wenn die jüngeren Familienglieder selbst Geld verdienen, fühlen sie sich nicht mehr an die Familie gebunden und tun und lassen dann, was ihnen beliebt. Es kommt auch oft vor, daß Kinder, die eine gute Schulbildung genossen haben, ihre ungebildeten Eltern verachten, die zu arm waren, um zur Schule zu gehen. Wie in anderen Ländern, so hat sich also auch der innere Zusammenhang der chinesischen Familie gelockert.
Besichtigungsfahrten
Der Besucher braucht keine der regelmäßig durchgeführten Rundfahrten mitzumachen, um Hongkong kennenzulernen. Fast alle Verkehrsmittel — Autobus und Straßenbahn — fahren durch die ganze Stadt. Besteigt man eines dieser Verkehrsmittel und fährt bis zur Endstelle und wieder zurück, so kann man sich jene Gegend ansehen, ohne daß man sich verirrt.
Auf der Insel Hongkong kann man für 20 Hongkong-Cent (etwa 3 1⁄2 amerikanische Cent) mit der Straßenbahn von einem Ende der Insel zum anderen fahren. Fährt man auf dem Oberdeck der Straßenbahn, so kann man von einem bequemen Sitzplatz aus das Leben und Treiben auf der Insel verfolgen. Man sieht die Hausfrauen einkaufen gehen und wie die Schiffe entladen werden. Man sieht Rikschas in Betrieb, Geschäfte, in denen Fische, Muscheln, Krebse usw. verkauft werden sowie alte und neue Wohnhäuser. Auf der Halbinsel Kaulun enden mehrere Buslinien bei den riesigen Wohnblocksiedlungen, die die Regierung gebaut hat. Wenn man diese Siedlungen kurz besichtigt, begreift man, daß man in Hongkong keine andere Wahl hat, als in die Höhe zu bauen.
Der Besucher hat aber auch die Möglichkeit, die Stadt aus der Vogelschau zu betrachten. Vom Victoria Peak aus, einem rund 500 Meter hohen Berg auf der Insel Hongkong, genießt man einen großartigen Blick auf die Kolonie. Und die Fahrt auf diesen Gipfel ist atemberaubend, denn die Bahn hat eine maximale Steigung von 45° — es soll die steilste Zahnradbahn der Welt sein.
Auch der Hafen ist faszinierend; und möchte man sehen, wie die „Bootsbevölkerung“ lebt, muß man mit einem Boot hinausfahren. Die meisten dieser abgehärteten Menschen leben vom Fischfang oder Austernfang, andere benutzen ihre Dschunke zum Entladen der Schiffe, von denen täglich eine Anzahl im Hafen einlaufen. Allmählich schmilzt die Bootsbevölkerung jedoch zusammen, denn die Regierung siedelt immer mehr dieser Bootsbewohner auf dem Lande an. Der jüngeren Generation gefällt das, denn die Arbeit an Land sagt ihr mehr zu. Auch verdient sie dabei mehr, und außerdem ist diese Arbeit weniger anstrengend.
Beziehungen zum Festland
Die „New Territories“ sind ein Gebiet hinter Kaulun auf dem chinesischen Festland. Es wurde im Jahre 1898 von Großbritannien gepachtet; mit diesem Pachtgebiet umfaßt die Kronkolonie Hongkong ein Gebiet, das etwa doppelt so groß ist wie West-Berlin.
In diesem Pachtgebiet leben die Menschen noch wie vor Jahrhunderten. Die Bauern bewässern ihren Garten mit zwei Gießeimern, die je an einem der beiden Enden einer dicken Bambusstange hängen, die der Bauer auf den Schultern trägt. Geschickt bewässert er damit gleichzeitig zwei Reihen Gemüse. Auch sieht man überall den Wasserbüffel, der in Asien den Traktor ersetzt.
Im vergangenen Jahr durften über 3 000 Personen aus China ausreisen und sich in der Kolonie niederlassen. Außerdem sind über 6 000 Personen auf verschiedenen Wegen aus China in die britische Kronkolonie geflüchtet, wo man Flüchtlingen gewöhnlich erlaubt zu bleiben. Dennoch besteht zwischen Hongkong und China im allgemeinen ein gutes Einvernehmen.
Das zeigt unter anderem die Tatsache, daß die Chinesen Tausenden von der Bevölkerung Hongkongs gestatten, ihre Verwandten in China zu besuchen. Ferner erhält Hongkong jedes Jahr von China über 56 Milliarden Liter Wasser, das die Kolonie notwendig braucht, sowie große Mengen Lebensmittel. Der Handel kann ebenfalls ungehindert betrieben werden, und die kommunistischen Kaufhäuser in der Kolonie machen ein Riesengeschäft.
Die chinesische Küche
Für den, der etwas auf Gaumenfreuden hält, ist Hongkong ein Paradies. Hier kann man zahllose verschiedene Gerichte kosten. Es gibt Restaurants, in denen man Spezialitäten aus fast jeder Provinz Chinas erhält. Pekingente, Bettlers Huhn, getrocknete Pilze, Tintenfisch mit Sellerie, gebackener Bohnenquark mit Schweinefleisch oder gebackene Milch sind nur wenige der vielen interessanten Gerichte.
Die Chinesen sind sehr gastfreundlich; sie stürzen sich in große Unkosten — auch wenn sie es sich kaum leisten können —, um Gäste oder Freunde zu bewirten. Es ist bei ihnen üblich, mit den Gästen auswärts essen zu gehen, weil sie meinen, ihre Wohnung und ihre Kochkunst wären nicht gut genug. In Wirklichkeit aber sind die meisten Hausfrauen ausgezeichnete Köchinnen, und zu Hause ist alles viel ungezwungener als in einem Restaurant.
In Verbindung mit den Tischsitten gibt es keine bestimmten Tabus. Gewöhnlich wird das Essen auf einem runden Tisch serviert, an dem etwa zehn Personen Platz haben. Jede Person hat eine eigene Reisschüssel vor sich stehen. Das soong oder Hauptgericht wird in die Mitte des Tisches gestellt, und jeder nimmt sich sein Teil heraus, man nimmt die mundgerechten Stücke mit den Eßstäbchen auf und ißt sie zusammen mit dem Reis. Alle freuen sich, wenn europäische Gäste einen Versuch mit den Eßstäbchen machen. Am Anfang glaubt man, man schaffe es nie und man verhungere, bis es einem gelinge, einen Bissen zum Mund zu führen. Aber Beharrlichkeit macht sich bezahlt, und bald hat man es heraus, wie man mit der „asiatischen Gabel“ umgehen muß.
Einstellung zur Religion
Man könnte meinen, die Religionsgemeinschaften der Christenheit wären hier eine treibende Kraft, denn viele Schulen, Krankenhäuser und Klubs werden von den Kirchen unterhalten. Doch für den Großteil der hiesigen Bevölkerung ist die Religion nur ein Mittel zum Zweck. Liegt eine von einer Kirche betriebene Schule in der Nähe und ist sie nicht zu teuer, so haben die Eltern nichts dagegen, wenn ihre Kinder in diese Kirche eintreten, damit sie eine Schulbildung erhalten. Viele treten auch in eine Kirche ein, weil ihre „Nachbarn das ebenfalls getan haben“.
Ferner locken die Kirchen die Menschen durch ihre soziale Tätigkeit und durch verschiedene Arten finanzieller Unterstützung an. Die Kirchenmitglieder werden darauf aufmerksam gemacht, daß Getaufte, die später aus der Kirche austreten, mit dem Verlust gewisser materieller Vorteile rechnen müßten, Vorteile in bezug auf die Wohnung, den Schulunterricht, die Fürsorgeeinrichtungen und sogar in bezug auf die Beerdigung. In Wirklichkeit kaufen also die Kirchen neue Mitglieder.
In den katholischen und den protestantischen Schulen wird der Glaube der Schüler an den wahren Gott und an sein Wort, die Bibel, nicht gestärkt. Im Gegenteil, der Glaube wird untergraben. In einem Religionsbuch, das in den protestantischen Schulen gebraucht wird, heißt es zum Beispiel, der Schöpfungsbericht sei ein Mythos, er sei von unaufgeklärten und abergläubischen Juden verfaßt worden, die über keine wissenschaftliche Bildung verfügt hätten.
Spielen vielleicht der Buddhismus und der Ahnenkult bei der hiesigen chinesischen Bevölkerung eine wichtige Rolle? Im allgemeinen ist das nicht der Fall. Die meisten Buddhisten und Ahnenverehrer opfern Weihrauch und andere Dinge, weil sie hoffen, das bringe ihnen Glück und Wohlstand. Diese Anbetung wird also aus selbstsüchtigen Gründen gepflegt. Doch machen immer mehr der jüngeren Generation diese traditionelle Verehrung nicht mehr mit, sondern überlassen sie den älteren Familiengliedern. Sie verwenden ihre Zeit, um dem Vergnügen nachzugehen oder um Geld zu verdienen.
Warum bedeutet der Bevölkerung Hongkongs die Religion so wenig? Ein scharfsinniger Karikaturist traf mit seinen Worten den Nagel auf den Kopf: „In Hongkong tanzt man um das Goldene Kalb.“ Das stimmt, denn alles, was Geld einbringen könnte, ist im Schwange: Börsengeschäfte, Rennwetten und andere Formen des Glücksspiels, erlaubte und verbotene. Die Menschen haben die Überzeugung, daß Geld und Gold allein Sicherheit bieten können. Ein chinesisches Sprichwort gibt die Auffassung, die viele über das Verhältnis der Religion zum Geld haben, treffend wieder. Der Chinese sagt: „Chin haw toong sun.“ Das bedeutet: „Mit Geld kann man die Götter kaufen.“
Es gibt jedoch eine Anzahl Menschen, insbesondere jüngere, die einsehen, daß es nutzlos ist, dem Geld nachzujagen, und die sich nach etwas sehnen, was beständig ist und befriedigt. (Pred. 5:10; 7:12) Diesen Menschen helfen die über 250 Zeugen Jehovas, die es in Hongkong gibt, den Schöpfer und sein Vorhaben kennenzulernen.