Wie du damit fertig werden kannst
„ICH war der Meinung, meine Gefühle unterdrücken zu müssen“, erklärt Mike, dessen Vater gestorben ist. Er hat aus seiner Erfahrung eine wertvolle Lehre gezogen. Was sagte er daher, als sein Freund den Großvater verlor? „Vor einigen Jahren hätte ich ihm auf die Schulter geklopft und ihn aufgefordert: ‚Sei ein Mann!‘ Aber nun faßte ich ihn am Arm und sagte: ‚Gib dich, wie dir zumute ist. Das wird dir helfen, damit fertig zu werden. Wenn du möchtest, daß ich gehe, dann gehe ich. Wenn du möchtest, daß ich bleibe, dann bleibe ich. Aber hab keine Hemmungen, deine Gefühle zu zeigen.‘“
Auch MaryAnne meinte, nachdem ihr Mann gestorben war, sie müsse ihre Gefühle unterdrücken. „Ich war so sehr darum besorgt, anderen ein gutes Beispiel zu geben“, erinnert sie sich, „daß ich meine wahren Gefühle verbarg. Ich dachte, man würde das von mir erwarten. Aber schließlich merkte ich, daß es mir nicht weiterhalf, für andere eine Säule sein zu wollen. Ich analysierte meine Situation und sagte mir: ‚Stell dich nicht so an! Du hast dich lange genug zusammengenommen. Weine, wenn du weinen mußt! Versuche nicht, zu stark zu sein! Befreie dein Inneres!‘“
Mike und MaryAnne raten: Durchlebe die Trauer! Und Experten für Psychohygiene stimmen dem zu. In dem Buch Death and Grief in the Family heißt es: „Das wichtigste nach einem Todesfall ist, auch wirklich zu trauern, den Heilungsprozeß zu durchlaufen.“ Warum?
„Es befreit“, erwähnte ein Psychologe gegenüber Erwachet! „Es kann den Druck erleichtern, wenn man den Gefühlen freien Lauf läßt.“ Ein Arzt sagte: „Wenn die natürlichen Gefühlsäußerungen mit dem Wissen um die Trauer verbunden sind, helfen sie dem Betreffenden, seine Gefühle in der richtigen Perspektive zu sehen.“
Natürlich äußert sich die Trauer nicht bei jedem gleich. Und außerdem spielt es für die emotionale Reaktion der Hinterbliebenen eine Rolle, ob der Tod plötzlich oder nach langer Krankheit eingetreten ist. Aber eines scheint sicher zu sein: Die Gefühle zu unterdrücken kann sowohl in physischer als auch in emotionaler Hinsicht schaden. Habe daher keine Angst, die Trauer zu durchleben. Aber wie?
Die Trauer durchleben — Wie?
Reden kann befreien. Shakespeare schrieb in seinem Drama Macbeth: „Gib Worte deinem Schmerz; Gram, der nicht spricht, preßt das beladne Herz, bis daß es bricht.“ Mit einem „wahren Gefährten“, der geduldig und mitfühlend zuhört, über seine Gefühle zu sprechen kann ein gewisses Maß an Erleichterung mit sich bringen (Sprüche 17:17). Und wenn der Zuhörer selbst einen geliebten Menschen verloren hat und erfolgreich mit dem Verlust fertig geworden ist, erhältst du vielleicht einige praktische Anregungen, die dir helfen, deinen Kummer zu bewältigen.
Deine Gefühle mitzuteilen kann auch dazu beitragen, Mißverständnisse zu beseitigen. Teresea erklärt: „Wir hörten, daß sich Ehepaare scheiden ließen, nachdem ein Kind gestorben war, und wir wollten nicht, daß es uns genauso erging. Immer wenn wir ärgerlich waren und uns gegenseitig Vorwürfe machen wollten, sprachen wir uns aus. Ich denke, wir sind dadurch zusammengewachsen.“ Über deine Gefühle zu reden kann dir verstehen helfen, daß die Trauer bei jedem ein wenig anders sein mag.
Cindy stellte fest, daß sie besser mit dem Tod ihrer Mutter fertig wurde, weil sie mit einer vertrauten Freundin über ihre Gefühle sprechen konnte. Sie erinnert sich: „Meine Freundin war immer für mich da. Sie weinte mit mir. Sie sprach mit mir. Ich konnte meine Gefühle ganz offen zeigen, und das war für mich wichtig. Ich mußte mich nicht dafür schämen, daß ich weinte.“
Damit berührt Cindy noch etwas anderes, was das Durchleben der Trauer erleichtern kann — Weinen. Meist fließen die Tränen automatisch. Aber in einigen Gesellschaften unterdrückt man diese wertvolle Gefühlsregung. Wieso? In dem Buch The Sorrow and the Fury (Leid und Zorn) heißt es: „Die Gesellschaft betrachtet jeden als unterlegen, der Tränen vergießt, weil er zornig ist oder sich verletzt oder einsam fühlt. Der Orden gebührt den Stoikern, wenn sie auch innerlich noch so sehr leiden.“
Besonders Männer fühlen sich oft gezwungen, die Tränen zu unterdrücken. Schließlich hat man sie gelehrt, daß ein „richtiger“ Mann nicht weint. Eine vernünftige Einstellung? In dem Buch Recovering from the Loss of a Child (Mit dem Verlust eines Kindes fertig werden) heißt es: „Die ehrliche, tiefe Gefühlsregung, die Seele mit Tränen der Trauer auszuwaschen, ist damit vergleichbar, daß man einen Abszeß öffnet, um den Eiter abfließen zu lassen. Mann und Frau haben das Recht darauf, ihren Kummer loszuwerden.“
Die Bibel stimmt dem zu. So lesen wir, daß Abraham um seine Frau Sara ‘Klage hielt und sie beweinte’ und daß David ‘klagte und weinte’, als König Saul und Jonathan getötet worden waren (1. Mose 23:2; 2. Samuel 1:11, 12). Und wie steht es mit Jesus Christus? Bestimmt war er ein „richtiger“ Mann ohnegleichen. Doch als sein lieber Freund Lazarus gestorben war, „seufzte er im Geist und wurde beunruhigt“, und kurz danach „brach [er] in Tränen aus“ (Johannes 11:33, 35). Ist es demnach wirklich unmännlich zu weinen?
Mit Schuldgefühlen fertig werden
Wie bereits in den vorhergehenden Artikeln erwähnt, werden einige von Schuldgefühlen geplagt, nachdem sie einen geliebten Menschen verloren haben. Zu erkennen, daß es ganz normal ist, so zu empfinden, kann an sich schon eine Hilfe sein. Und auch hier gilt es wieder, solche Gefühle nicht für sich zu behalten. Darüber zu sprechen, wie schuldig man sich fühlt, kann befreien.
Vielleicht meinst du, irgendein Versäumnis deinerseits habe zum Tod deines lieben Angehörigen beigetragen. Wenn ja, dann sei dir bewußt, daß du, ganz gleich, wie sehr du jemanden liebst, keine Macht über Leben und Tod hast. Wir können nichts daran ändern, daß „Zeit und unvorhergesehenes Geschehen“ diejenigen trifft, die wir lieben (Prediger 9:11). Außerdem hattest du zweifellos keine schlechten Beweggründe. Hast du denn, weil du zum Beispiel nicht eher einen Arzttermin ausgemacht hast, beabsichtigt, daß der geliebte Mensch krank wurde und starb? Natürlich nicht. Bist du dann wirklich schuld daran, daß er gestorben ist?
Teresea lernte, ihr Schuldgefühl zu bewältigen, nachdem ihre Tochter bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Sie erklärt: „Ich fühlte mich schuldig, weil ich sie weggeschickt hatte. Aber allmählich wurde mir bewußt, daß es lächerlich ist, so zu denken. Es war nichts falsch daran, daß ich sie mit ihrem Vater wegschickte, um etwas zu erledigen. Es war einfach ein schrecklicher Unfall.“
„Aber es gibt so vieles, was ich gern gesagt oder getan hätte“, klagst du vielleicht. Doch wer kann schon von sich sagen, daß er als Vater, Mutter oder Kind vollkommen ist? Die Bibel gibt zu bedenken: „Wir alle straucheln oft. Wer nicht im Wort strauchelt, der ist ein vollkommener Mann“ (Jakobus 3:2; Römer 5:12). Akzeptiere daher die Tatsache, daß du nicht vollkommen bist. Dadurch, daß du ständig dem Gedanken nachhängst: „Wenn ich doch nur ...“, ändert sich nichts, aber es dauert wahrscheinlich länger, bis du dich wieder erholt hast.
Wenn du der Meinung bist, daß die Schuld echt und nicht bloß eingebildet ist, dann denke an das, was am wichtigsten ist, wenn es darum geht, mit einem Schuldgefühl fertig zu werden — Gottes Vergebung. Die Bibel sichert uns zu: „Wenn du Vergehen anrechnen wolltest, Herr, wer könnte dann vor dir bestehen? Aber du kannst Schuld auch vergeben, damit man dich ehrt und dir gehorcht“ (Psalm 130:3, 4, Die Bibel in heutigem Deutsch). Du kannst das Rad der Zeit nicht zurückdrehen und noch einmal von vorn anfangen. Aber du kannst Gott darum bitten, daß er dir Fehler, die du früher begangen hast, vergibt. Wenn Gott verspricht, Fehler auszulöschen, solltest du dann nicht auch Gras darüber wachsen lassen? (Sprüche 28:13; 1. Johannes 1:9).
Mit dem Zorn fertig werden
Bist du auch ein wenig zornig, vielleicht auf die Ärzte und Krankenschwestern, auf Freunde oder sogar auf den Verstorbenen? Sei dir darüber im klaren, daß dies ebenfalls eine recht übliche Reaktion ist. Warum? Ein Psychologe erklärt: „Schmerz und Zorn begleiten einander. Fühlt man sich zum Beispiel in seinen Gefühlen verletzt, so neigt man dazu, zornig zu werden. Zorn ist eine schützende, abwehrende Emotion.“
Frage dich: „Warum bin ich zornig?“ Wenn du nicht mit einer zufriedenstellenden Antwort aufwarten kannst, dann ist der Zorn höchstwahrscheinlich eine natürliche Begleiterscheinung des Schmerzes, den du empfindest. Dies zu erkennen kann dir schon helfen. In dem Buch The Sorrow and the Fury wird erklärt: „Nur dadurch, daß man sich des Zornes bewußt wird — nicht indem man ihn an anderen ausläßt, sondern sich über dieses Gefühl im klaren ist —, kann man sich von seiner zerstörerischen Wirkung befreien.“
Dem Zorn Luft zu machen kann auch eine Hilfe sein. Wie? Sicher nicht durch unbeherrschte Wutanfälle. Die Bibel warnt übrigens davor, daß es gefährlich sein kann, wenn der Zorn längere Zeit andauert (Sprüche 14:29, 30). Einige machen ihrem Zorn Luft, indem sie das, was sie bewegt, zu Papier bringen. Eine Witwe berichtet, daß sie ihre Gefühle niederschrieb und dann Tage später las, was sie geschrieben hatte. Sie fühlte sich dadurch befreit. Andere empfinden eine anstrengende sportliche Betätigung als hilfreich, wenn sie zornig sind. Und es tröstet dich vielleicht, mit einem verständnisvollen Freund darüber zu sprechen.
Zwar ist es wichtig, in bezug auf seine Gefühle offen und ehrlich zu sein, aber hier ist ein Wort der Vorsicht am Platze. In dem Buch The Ultimate Loss (Der endgültige Verlust) wird erklärt: „Man muß einen Trennungsstrich ziehen zwischen dem Äußern und dem Auslassen [von Zorn oder Frustration] an anderen. ... Wir müssen den anderen wissen lassen, daß wir, wenn wir unseren Gefühlen Luft machen, ihm nicht vorwerfen, er habe diese Gefühle verursacht.“ Achte darauf, daß du nicht aggressiv wirst, wenn du über deine Gefühle sprichst (Sprüche 18:21).
Von diesen Anregungen abgesehen, hilft noch etwas anderes, den Kummer zu überwinden. „Worum handelt es sich?“ magst du fragen.a
Hilfe von Gott
Die Bibel sichert uns zu: „Jehova ist nahe denen, die gebrochenen Herzens sind; und die zerschlagenen Geistes sind, rettet er“ (Psalm 34:18). Ja, ein enges Verhältnis zu Gott kann dir besser als alles andere helfen, mit dem Tod eines geliebten Menschen fertig zu werden. Wie?
Zunächst kann es dir jetzt schon helfen, deinen Kummer zu bewältigen. Viele der bisher gegebenen praktischen Anregungen stützen sich auf Gottes Wort, die Bibel. Diese Grundsätze anzuwenden kann es dir erleichtern, mit dem Verlust fertig zu werden.
Außerdem sollte der Wert des Gebets nicht unterschätzt werden. Die Bibel fordert uns auf: „Wirf deine Bürde auf Jehova, und er selbst wird dich stützen“ (Psalm 55:22). Wenn es, wie bereits erwähnt, schon guttut, mit einem mitfühlenden Freund über seine Gefühle zu reden, wieviel mehr wird es dann helfen, dem „Gott allen Trostes“ sein Herz auszuschütten! (2. Korinther 1:3, 4).
Es ist nicht so, daß der Wert des Gebets nur psychologischer Natur ist. Der „Hörer des Gebets“ hat verheißen, seinen Dienern, die aufrichtig darum bitten, heiligen Geist zu geben (Psalm 65:2; Lukas 11:13). Und der heilige Geist oder die wirksame Kraft Gottes kann dir für jeden Tag „Kraft, die über das Normale hinausgeht“, geben (2. Korinther 4:7). Vergiß nicht: Für einen treuen Diener Gottes gibt es kein Problem, bei dem Gott ihm nicht beistehen kann. (Vergleiche 1. Korinther 10:13.)
Ferner kann uns ein Verhältnis zu Gott insofern helfen, mit dem Kummer fertig zu werden, als es uns Hoffnung vermittelt. Überlege dir folgendes: Wie würdest du empfinden, wenn du wüßtest, daß es möglich ist, in naher Zukunft unter gerechten Verhältnissen auf der Erde mit dem geliebten Verstorbenen wieder vereint zu werden? Wirklich eine begeisternde Aussicht! Ist sie aber realistisch? Jesus verhieß: „Die Stunde kommt, in der alle, die in den Gedächtnisgrüften sind, seine Stimme hören und herauskommen werden“ (Johannes 5:28, 29; Offenbarung 20:13; 21:3, 4).
Können wir dieser Verheißung wirklich Glauben schenken? Nun, sollte Jehova Gott, der am Anfang das Leben erschaffen hat, nicht dazu imstande sein, jemanden, der bereits gelebt hat, wieder zum Leben zu bringen? Da überdies „Gott, der nicht lügen kann“, dies verheißen hat, kann man ihm dann nicht vertrauen, daß er sein Wort wahr machen wird? (Titus 1:2; Jesaja 55:10, 11).
Mike ist davon überzeugt. Sein Glaube an die Auferstehung ist so stark, daß er sagt: „Ich denke darüber nach, was ich tun sollte, um Gott jetzt zu gefallen, damit ich auch da bin, wenn mein Vater auferweckt wird.“
Jehovas Zeugen helfen dir gern, mehr über diese herzerfreuende Hoffnung zu erfahren. Diese Hoffnung kann viel bewirken. Zwar kann sie den Schmerz nicht wegnehmen, doch sie kann ihn lindern. Das bedeutet nicht, daß du nicht mehr weinen oder den geliebten Verstorbenen vergessen wirst. Das nicht, aber du kannst mit dem Verlust fertig werden. Und was du durchmachst, bis du an diesen Punkt gelangst, kann dazu beitragen, daß du verständnisvoller und mitfühlender wirst, wenn du anderen hilfst, mit einem ähnlichen Verlust fertig zu werden.
[Fußnote]
a Es sollte beachtet werden, daß in manchen Fällen die Notwendigkeit für professionelle Hilfe bestehen mag, besonders wenn der Trauernde bereits mit Nervenkrankheiten zu tun hatte oder Anzeichen für Selbstmordabsichten erkennen läßt. Siehe Erwachet! vom 22. Januar 1982, Seite 24 und 25.
[Kasten auf Seite 12]
Einige praktische Anregungen
Vertraue auf Freunde: Nimm die Hilfe anderer ruhig an. Habe Verständnis dafür, daß dies für sie eine Möglichkeit ist, ihr Mitgefühl zu zeigen; vielleicht finden sie nicht die richtigen Worte.
Achte auf deine Gesundheit: Dein Körper braucht wie sonst auch genügend Ruhe, Betätigung und die richtige Nahrung. Falls du deine Gesundheit vernachlässigt hast, wäre es gut, den Hausarzt aufzusuchen.
Schiebe größere Entscheidungen hinaus: Warum nicht, wenn irgend möglich, warten, bis du wieder klarer denken kannst, ehe du dich entscheidest, ob du das Haus verkaufen oder den Arbeitsplatz wechseln solltest? (Sprüche 21:5).
Sei nachsichtig mit anderen: Versuche, geduldig zu sein. Sei dir darüber im klaren, daß die Situation für sie peinlich ist. Weil sie nicht wissen, was sie sagen sollen, machen sie vielleicht eine taktlose Bemerkung oder sagen etwas Verkehrtes.
Sei nicht übermäßig besorgt: Du machst dir womöglich Gedanken darüber, was nun bloß aus dir werden soll. Die Bibel rät uns, uns nicht ständig um das Morgen zu sorgen. „Es hilft mir wirklich, von einem Tag zum anderen zu leben“, erklärte eine Witwe (Matthäus 6:25-34).