Sie zähmen den Niger
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Nigeria
EINEN kräftigen, wilden Hengst zu beobachten, wie er über die Wiesen galoppiert, ist ein unvergeßliches Erlebnis. Ebenso ist ein mächtiger Strom voller Schönheit. Doch ein wilder Hengst nützt dem Menschen nur wenig, ein ungebändigter Strom ebensowenig.
Im Jahre 1964 faßte Nigeria deshalb den kühnen Plan, den Niger, den drittgrößten Strom des afrikanischen Kontinents, zu zähmen. Der Niger fließt durch fünf Länder Westafrikas. Er entspringt in Guinea, windet sich durch Mali und die Republik Niger, entlang der nördlichen Grenze Dahomes und fließt Hunderte von Kilometern weit durch Nigeria, bevor er schließlich in den Atlantischen Ozean mündet.
Das Hauptziel bestand darin, den Fluß für die Stromerzeugung zu nutzen, denn die Dampf- und Dieselkraftwerke konnten mit Nigerias wachsendem Bedarf an elektrischer Energie nicht mehr Schritt halten. Nach gründlichen Untersuchungen entschied man sich schließlich, flußaufwärts bei der Insel Kainji, etwa 1 000 Kilometer von der atlantischen Küste entfernt, den Niger zu stauen. Am 20. Februar 1964 erhielt die italienische Baufirma Impregilo den Auftrag, den Staudamm zu errichten. Im März 1964 begann sie mit der Arbeit.
Viele fragten sich, ob der Bürgerkrieg, der am 6. Juli 1967 in Nigeria begonnen hatte, das Bauvorhaben gefährden würde. Da der Bau aber bereits fortgeschritten war und die Baustelle außerhalb des Kriegsgebietes lag, verlief die Arbeit weiterhin planmäßig.
Die Kosten für dieses Projekt wurden auf 221 200 000 Dollar veranschlagt. Wer sollte aber diese hohe Rechnung bezahlen? Nigeria konnte über ein Drittel der Kosten aufbringen. Die Weltbank stellte einen fast genauso hohen Betrag zur Verfügung, und Italien, Großbritannien, die Vereinigten Staaten und die Niederlande erklärten sich bereit, für den Rest aufzukommen. Es war also ein internationales Bauvorhaben. Kanada leistete technische Hilfe, Schweden, Österreich, Norwegen, Großbritannien und Italien lieferten Maschinen und Baumaterial.
Der Bau
Schließlich arbeiteten 5 700 Personen an dem Damm. Vierzehn Kilometer vom Bauplatz entfernt, errichtete man ein Lager, in dem die Zahl der Einwohner auf 20 000 anwuchs, eine richtige Stadt. In diesem Lager gab es Schulen, Läden, Sportplätze, Straßenbeleuchtung, Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung sowie ein Krankenhaus.
Der Hauptteil des Dammes besteht aus Beton. Er ist 548 Meter lang und 65 Meter hoch, etwa so hoch wie ein zwanzigstöckiges Gebäude! Zu diesem Teil gehört auch der Oberlauf mit den vier mächtigen 15 mal 15 Meter großen hydraulisch betriebenen Schiebern. Mit ihnen führt man die Zuflußmenge ab, die das Fassungsvermögen der Talsperre übersteigt, und reguliert den Wasserstand des Flusses stromabwärts.
Am luftseitigen Dammfuß ist das Kraftwerk errichtet worden. Zwölf Stollen führen das Wasser vom Stausee dem Kraftwerk zu. Das Wasser treibt dort große Turbinen, von denen jede 110 000 PS erzeugt. Die elektrische Energie wird über Freileitungen einem Umspannwerk zugeführt, das sich etwas unterhalb des Dammes befindet. Von hier aus wird sie weitergeleitet, um Nigerias Bedarf an Elektrizität zu decken.
Zu beiden Seiten der 548 Meter langen Betonmauer erstreckt sich ein großer aus Steinen und Erde aufgeschütteter Damm. Der Damm auf der rechten Seite ist 2 440 Meter lang und der am linken Ufer 1 220 Meter. Sie vervollständigen den Hauptteil des Dammes. Am linken Ufer schließt sich dem Erddamm außerdem noch ein niedrigerer 4,5 Meter langer Damm an.
Für den Hauptdamm, einschließlich des Überlaufes, benötigte man 611 680 Kubikmeter Zement und für das Kraftwerk weitere 133 800 Kubikmeter. Und die Erd- und Steindämme verschlangen 6 881 400 Kubikmeter Baumaterial. Breitete man dieses Material über eine Fläche von 1 Quadratkilometer aus, würde es fast 8 Meter hochragen.
Am 22. Dezember 1968 lieferte die Stauanlage den ersten Strom, und Ende Februar 1969 wurde die vierte Turbine eingebaut. Am 15. Februar 1969, knapp fünf Jahre nach Baubeginn, wurde der Damm offiziell in Betrieb genommen. Zwölf Turbinen sollen hier schließlich eingebaut werden, und die damit gekuppelten Generatoren werden mehr als die Menge an elektrischer Energie erzeugen, die in Nigeria vor dem Bau der Stauanlage erzeugt worden war.
Weiterer Nutzen
Der 1 242 Quadratkilometer große See, der durch den Staudamm entstanden ist, dient als Wasserspeicher für die Bewässerung. Das Land, das unterhalb der Stauanlage liegt und bisher wegen Überflutungen nutzlos gewesen war, wird jetzt landwirtschaftlich genutzt werden können. Außerdem wird im Stausee Fischfang betrieben werden, und man hofft, schließlich dort jährlich etwa 10 000 Tonnen Fische zu fangen.
Der Kainjidamm wird auch für die Schiffahrt von großem Nutzen sein. Man hat einen Umleitungskanal mit zwei Schleusen gebaut, dadurch wird der Fluß auch oberhalb des Dammes schiffbar sein. Durch den Damm läßt sich außerdem der Wasserstand regulieren, so daß der Fluß bedeutend länger für Schiffe passierbar sein wird. Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, daß Erzeugnisse schneller den Hafen erreichen und in alle Welt versandt werden können. Ferner hofft man, daß der See Touristen anlocken wird, denn in Afrika gibt es nur wenige Seen, und in einem Gebiet, das so weit vom Meer und anderen großen Gewässern entfernt ist, wird der See bestimmt eine Sehenswürdigkeit sein.
Weitere Bauvorhaben
Der Bedarf an elektrischer Energie steigt ständig; deshalb hat man geplant, zwei weitere Staudämme zu bauen, man wird sie dem Kainjidamm angliedern.
Zuerst wird man in der Nähe von Jebba, 96 Kilometer unterhalb des Kainjidammes, einen Damm errichten. Diese Stauanlage wird etwas mehr als die Hälfte des erst kürzlich in Betrieb genommenen Kraftwerks leisten. Der Stausee, der entstehen wird, wird sich bis zum Kainjidamm erstrecken.
Außerdem plant man, den Kaduna zu stauen, und zwar bei der Shiroschlucht, ein Stück oberhalb der Stelle, wo der Kaduna in den Niger mündet. Diese Stauanlage wird fast genausoviel elektrische Energie erzeugen wie der geplante Jebbadamm. Wenn diese Stauanlagen vollendet sind, soll ein wohldurchdachtes Verbundsystem geschaffen werden, so daß das ganze Jahr über genügend elektrische Energie erzeugt werden wird.
Diese Vorhaben werden für Nigerias Wirtschaft bestimmt von großem Nutzen sein.