Der Staudammbruch in Idaho
STELL dir vor, du würdest auf einem stillen Fluß angeln und in der nächsten Sekunde müßtest du vor einer fast hundert Meter hohen Wasserlawine flüchten. Das widerfuhr am 5. Juni 1976 einer Gruppe von Anglern am Teton River im amerikanischen Staat Idaho. Was die Augenzeugen über den Dammbruch erzählten, ist fast unglaublich. Folgendes erlebten beispielsweise die erwähnten Angler:
An jenem denkwürdigen Sonnabend wölbte sich ein tiefblauer Himmel über dem Teton River, der von vielen als ein Paradies für den Angelsport bezeichnet wird. Das Wetter war zum Angeln ideal. Gegen 11 Uhr stiegen die fünf in ihr Schlauchboot direkt unterhalb des Teton-Staudammes, ließen sich etwas flußabwärts treiben und gingen dann vor Anker.
Es war ihnen bereits aufgefallen, daß „das Wasser eine milchige Brühe geworden war“, als ihnen ein Mann vom Cañonrand aus etwas zurief. Es war eine Warnung vor Hochwasser. Der Mann schrie, daß „im Damm eine durchlässige Stelle“ bemerkt worden sei. Darauf ließen die Angler sich weiter flußabwärts treiben. Da beobachteten sie plötzlich voller Entsetzen, daß ein Verwandter von ihnen oben am Cañonrand einen Schuß aus seiner Pistole abfeuerte und wild gestikulierte.
Als sie außerdem bemerkten, daß das Wasser rasch stieg, begriffen sie, daß etwas passiert sein mußte. Die Frau eines der Angler erzählte: „Wir paddelten verzweifelt, um so schnell wie möglich ans Ufer zu gelangen, und stiegen dann eilends zum Cañonrand hoch. Ich wandte mich um und rief den anderen zu, sie sollten das Boot nicht mehr mitschleppen. Ich selbst kletterte auf eine erhöhte Stelle und blieb stehen, um Atem zu holen. Dabei sah ich, wie ein großer Öltank, der einen Durchmesser von ungefähr 15 Metern hatte, vom Wasser talwärts gerissen wurde. Er tanzte auf den Wellen wie ein Korken. Darauf lief ich, so schnell ich konnte, bergan.“
Als die fünf oben anlangten, war der Fluß so angeschwollen, daß das Wasser den fast hundert Meter tiefen Cañon vollständig ausfüllte.
Die Wassermasse aus dem Teton-Stausee wälzte sich rasch talwärts. Ein junger Angler ertrank, und ein anderer wurde etwa acht Kilometer weit vom Wasser mitgerissen, konnte sich aber dann an einem Baum festhalten. Einige Stunden später wurde er geborgen.
Zufolge des Stromausfalls blieben viele Uhren um 11.57 Uhr stehen. Und für die Mehrzahl der hunderttausend Menschen, die in diesem Gebiet des Staates Idaho wohnen, schien die Zeit stillzustehen. Die Flut forderte elf Todesopfer, und die Zahl der Obdachlosen ging in die Tausende. Der Sachschaden wurde auf 400 Millionen bis eine Milliarde Dollar geschätzt. Warum war der Schaden so groß? Weil sich das Flutwasser in fünf Arme teilte.
Als die Wasserlawine zu einem Flußknie kam, überrollte ein großer Teil davon das Ufer, setzte den Weg westwärts fort und überschwemmte kleine Täler dieses gebirgigen Gebietes.
Ein großer „Arm“ ergoß sich natürlich südwärts, indem er dem Flußbett des Snake River (in den der Teton River mündet) folgte.
Aber was trug sich zu, als die Wassermasse aus dem Cañon in die breiteren Täler quoll? Darrell Singleton, ein Ältester einer Versammlung der Zeugen Jehovas, besitzt eine Farm, die sechs Kilometer unterhalb des Staudammes liegt. Er war in dieser Zeit zu Hause und berichtet folgendes:
„... alles unter sich begrub“
„Wir waren gerade dabei, den Lieferwagen mit Geräten zu beladen, als unsere Tochter, die in Rexburg wohnt, anrief. Sie sagte, daß der Teton-Staudamm eine durchlässige Stelle aufweise und der Räumungsbefehl gegeben worden sei. Ich entgegnete, wahrscheinlich sei da jemand überängstlich wegen der geringfügigen Überschwemmung als Folge der Hochwasserabführung zur Entlastung der Anlage. Doch sie bestand darauf, daß die Sache ernster sei. Ich sagte, in diesem Fall wollten wir das Telefongespräch beenden, so daß wir uns, sie und wir, in Sicherheit bringen könnten.
Ich war nicht allzusehr beunruhigt. Doch dann beschlossen wir, zum Damm hinaufzufahren, um selbst nachzusehen. Als wir dort eintrafen, begegneten uns Leute, die den Damm fluchtartig verließen. Ein Blick darauf belehrte uns, was vor sich ging. Aus dem Cañon quoll eine riesige schokoladenbraune Wassermasse hervor und ergoß sich ins Tal. Den Rand des Flutwassers entlang war eine Staubwolke zu sehen. Wenn das Wasser gegen etwas prallte, sah es aus, als würden die Gegenstände explodieren.
Wir machten uns auf den Heimweg und warnten alle Leute, an deren Haus wir vorüberkamen. Die Bewohner eines Hauses zögerten wegzugehen, entschlossen sich dann aber doch, weil sie sahen, daß die Stromleitungen herabfielen. Als wir noch ungefähr drei Kilometer von unserem Haus entfernt waren, sahen wir, wie eine über neun Meter hohe Wasserlawine darüber hinwegrollte und alles unter sich begrub. Ein Gefühl der Ohnmacht beschlich uns — Verwüstung, so weit das Auge reichte.
Später (etwa um 17 Uhr) kehrten wir zu unserer Farm zurück. Das Haus war vom Wasser mehr als hundert Meter mitgerissen worden und dann zusammengestürzt. Alle anderen Gebäude und auch die Landmaschinen waren zerstört. Mein Boot sowie der Lieferwagen hingen noch zusammengekuppelt auf den Bäumen.“
Die meisten Leute im Gebiet von Wilford, das zuerst von der Flut erreicht wurde, hatten nur 10 Minuten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Einige sahen plötzlich eine Wasserlawine heranrollen. Andere wurden durch das unheimliche Geräusch zersplitternder Baumstämme gewarnt. Eine Frau beobachtete, wie ein „Backsteinhaus in die Luft geworfen wurde, als wäre es ein Puppenhaus“.
Sofort räumen!
Auf dem Weg, den die Flutwasser nahmen, lagen eine Reihe kleiner Städte. Die erste war Sugar City. Glücklicherweise konnte diese Stadt geräumt werden, ehe die zehn Kilometer breite Wasserlawine sich über die Stadt ergoß und sie zerstörte. Entwurzelte Bäume, Bretter und Balken, Fässer, Autos und Landmaschinen wurden gegen die Gebäude geschleudert.
Auch viele Tierleichen trieben auf dem Wasser. In dem Unglücksgebiet gab es Tausende von Rindern und andere Haustiere. Vielerorts hatten die Bauern gerade noch Zeit, den Stall aufzuschließen und das Vieh loszubinden. Ein kleiner Teil der Tiere konnte sich retten, doch die meisten ertranken.
Die Angehörigen der Stadt- und der Staatspolizei gaben überall den Räumungsbefehl bekannt. Sie forderten die Bevölkerung auf, die Häuser sofort zu verlassen. In der nächsten Stadt — Rexburg — konnte sich die Bevölkerung noch rechtzeitig in Sicherheit bringen, aber kurz danach standen viele Häuser bis ans Dach im Wasser.
Während sich die Flutwasser südwärts wälzten, räumte die Bevölkerung einer Ortschaft nach der anderen die Häuser. Viele Leute wußten nicht, wie sie handeln sollten, denn weil die Beamten unmöglich die Geschwindigkeit des Flutwassers abschätzen konnten, erfolgten des öfteren ungenaue Wasserstandsmeldungen. Wegen des Stromausfalls funktionierten außerdem die Fernsprecher nicht, und weil das Wasser mehrere Brücken weggerissen hatte, war auch der Verkehr behindert.
Mehrere Städte nehmen den Kampf auf
Die größte Stadt, die auf dem Weg lag, den das Flutwasser nahm, war Idaho Falls. Hunderte von Freiwilligen halfen, das Ufer des Snake River mit Sandsäcken abzusichern. Das machte einen merkwürdigen Eindruck, weil alles bei strahlendem Sonnenschein vor sich ging. Als am Sonntag das Flutwasser heranrollte, erreichte der Wasserspiegel eine Höhe von sechs Metern. Dennoch hielten alle Brücken stand. Man hatte das Hochwasser unter Kontrolle. Die Arbeit der Freiwilligen, die sich in der Nacht und am Tag zuvor so geplagt hatten, war nicht umsonst gewesen.
Aber manchen flußabwärts gelegenen Ortschaften erging es nicht so gut. Obschon Freiwillige versuchten, eine Hochwasserkatastrophe abzuwenden, wurden doch mehrere Gemeinden überschwemmt. Fast 120 Kilometer vom Staudamm entfernt, bildete das Wasser aus dem Staubecken immer noch einen wilden, reißenden Strom.
Am Montagabend war der Wasserstand des Flusses wieder einigermaßen normal — das Wasser aus dem Teton-Stausee hatte sich verlaufen. Die Bewohner des Katastrophengebietes waren noch ganz benommen, während sie ihre Sachen zusammensuchten. Viele waren dankbar, daß das Hochwasser nicht nachts gekommen war, denn dann hätte es die meisten Menschen im Schlaf überrascht. Doch überall wurde die Frage gestellt: Wie konnte das geschehen?
Es begann ganz klein
Hast du schon einmal die Geschichte von dem kleinen Holländer gehört, der in einem Damm eine undichte Stelle entdeckte und dann stundenlang seinen Finger darauf drückte, bis Hilfe kam? Man feierte ihn als einen „Helden“, der die in der Nähe liegende Stadt vor einer Überschwemmung bewahrt hatte. Auch die Tetondamm-Katastrophe begann mit einer durchlässigen Stelle. Aber die Hilfe kam zu spät.
Kurz vor der Fertigstellung dieser Talsperre wurde bekanntgegeben, daß das ganze Projekt 55 Millionen Dollar gekostet hatte. Am 5. Juni 1976 gegen 8 Uhr wurden Arbeiter an eine bestimmte Stelle beordert. Schon mehrere Tage lang hatte man beobachtet, daß dort etwas Wasser heraussickerte. Schließlich lief eine lehmige Brühe heraus, und außerdem bemerkte man noch eine weitere undichte Stelle. Da das Staubecken zum erstenmal voll war, riefen diese durchlässigen Stellen große Beunruhigung hervor.
Zwei Männer erhielten den Auftrag, mit je einem Bulldozer Steine in das große Loch auf der Talseite des Dammes zu schieben. Doch auf der Wasserseite hatte sich bereits ein unheilkündender Wirbel gebildet (was die Kraft der Strömung erkennen ließ). Zudem blieb der größere Bulldozer in der Erde stecken, worauf die beiden Führer die Fahrzeuge aneinanderketteten und versuchten, von dem Loch weg- und die Böschung hinaufzufahren. Kurz danach unterbrach der Vorarbeiter ihr Bemühen, indem er ihnen durch Zeichen zu verstehen gab, daß sie die Maschinen stehenlassen und sich in Sicherheit bringen sollten. Jetzt floß immer mehr Wasser durch die Öffnung und fraß ein großes Loch in den Damm.
Als nächstes versuchte man mit Hilfe von großen Bulldozern Steine von der Dammkrone aus in den Strudel auf der Wasserseite zu schieben. Trotzdem vergrößerte sich das Loch. und die beiden erwähnten Bulldozer, die aneinandergekettet waren, fielen in das brodelnde Wasser. Gleich danach mußten alle Arbeiter samt ihren Maschinen den Damm verlassen. Der Kampf, das Wasser aufzuhalten, war verloren.
Ein Augenzeuge schilderte, was darauf passierte, wie folgt: „Mir war klar, daß es nun eine Überschwemmung geben würde, aber ich hatte keine Ahnung von ihrem Ausmaß. Es sah aus, als würde das Meer einströmen. Alles ging so schnell. Jedesmal, wenn ein Stück [ein großes Stück des Erddamms] hineinfiel, zerbarst es mit solchem Getöse, als würde eine Bombe explodieren — es war eine Erdexplosion.“
Aber wie können solche Schäden entstehen, wenn man bedenkt, wie hoch entwickelt heute der Talsperrenbau ist? Fünf Wochen später berichtete die Zeitschrift Engineering News-Record (Ausgabe vom 15. Juni 1976), daß es nach den Aussagen einer Expertengruppe „fünf mögliche Ursachen für den Einsturz des 93 Meter hohen Erddamms gibt“. Eine der Erklärungen, die man für die zutreffendste hielt, war die, daß der „Injektionsvorhang“ nicht gehalten hatte. Was bedeutet das?
Wenn sich das Gestein unter einem Damm oder zu beiden Seiten eines Dammes (die Cañonwände) als porös erweist, werden reihenweise große Löcher in das Gestein gebohrt, und diese werden dann mit Beton ausgegossen. Mit einer solchen Betonmauer, „Vorhang“ genannt, will man erreichen, daß der Staudamm fest an den Untergrund anschließt und kein Wasser einsickert. Beim Teton-Staudamm hat der „Vorhang“ seine Aufgabe offenbar nicht erfüllt. Auf der einen Seite des Dammes, wo er mit der Cañonwand verbunden war, begann Wasser durchzusickern. Sobald das Wasser auf jener Seite die Dichtungsschicht erodiert hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis das Gewicht des Wassers im Stausee die schwache Stelle im Damm durchbrochen hatte.
Hilfeleistung und Reflexionen
Tausende von Menschen eilten den Katastrophenopfern zu Hilfe. Von der Hilfe, die Jehovas Zeugen aus dem ganzen Westen der Vereinigten Staaten leisteten, hieß es, sie sei „überwältigend“ gewesen. Ein Katastrophenopfer machte folgende herzerfreuende Erfahrung: „Als ich am Sonntag bei Tagesanbruch aufstand, sah ich einen Lastwagen, beladen mit Lebensmitteln, Kleidung und Decken, vor dem Haus stehen. Im Fahrerhaus saßen zwei Brüder [Zeugen Jehovas] und schliefen. Sie waren fast die ganze Nacht hindurch gefahren.“
Aus Utah traf ein über dreizehn Meter langer Lastwagen mit Hilfsgütern ein, und aus Kalifornien kam ein weiterer. Ein Katastrophenopfer sagte über diese Spenden: „Wir erhielten so viel, daß wir nicht mehr wußten, was wir damit anfangen sollten. Da uns aber klar war, daß die Brüder es für alle geschickt hatten, die durch das Hochwasser in Not geraten waren, gaben wir auch unseren Nachbarn sowie anderen Leuten, die in derselben Lage waren wie wir, etwas davon ab.“ Kurz danach teilten die Zeugen Jehovas, die das Hilfswerk leiteten, mit, daß nichts mehr gespendet werden sollte, weil genug vorhanden sei.
Wenn man sich alles nochmals durch den Sinn gehen läßt, was sich in diesen drei schweren Tagen zugetragen hat, stellt man einige krasse Widersprüche fest. Die Mehrzahl der Leute hat zusammengearbeitet und sich gegenseitig Freundlichkeiten erwiesen. Einige riskierten sogar ihr Leben, um andere zu retten. Aber andererseits mußte die Polizei auch gegen Plünderer einschreiten. Da die Staatspolizei die Zufahrtsstraßen zum Katastrophengebiet gesperrt hatte, mußte es sich bei diesen skrupellosen Personen um „Nachbarn“ der Katastrophenopfer gehandelt haben.
Unterschiedlich war auch die Einstellung der Leute zum Verlust ihrer materiellen Güter. Viele schauten voller Sorge in die Zukunft.
Eine Frau aber sagte nachdenklich: „Es war ein schreckliches Erlebnis, doch ich bin froh daß die Menschen, die ich am meisten liebe, noch am Leben sind. Ich glaube, die Leute haben aus dieser Katastrophe gelernt, daß Menschen wichtiger sind als materieller Besitz.“
Eins ist sicher, diese Überschwemmung hat, ganz gleich, was die Menschen daraus gelernt haben, sowohl in der Landschaft als auch bei den Überlebenden Spuren hinterlassen. (Eingesandt.)
[Bild auf Seite 7]
Der zerstörte Damm
[Bildnachweis]
(Veröffentlicht mit der Genehmigung des amerikanischen Innenministeriums, Wasserwirtschaftsverwaltung)