Ist das ein Ausweg?
WENN jemand einem unerträglichen Druck ausgesetzt wird, handelt er oft übereilt. Er mag sich irgend etwas zuwenden, was ihm im Augenblick Linderung verschafft, sein eigentliches Problem aber nicht löst. Er mag sich sogar einreden, das streßerzeugende Problem existiere gar nicht.
Heute behaupten Tausende, sie würden das Mittel kennen, sich von dem Streß und den Spannungen des heutigen Lebens zu befreien.
Was für ein Mittel ist das? Philosophien, und zwar sowohl östliche als auch westliche. Es gibt Personen, die behaupten, durch intensive Meditation die heutigen Probleme „wegdenken“ und so den inneren Frieden finden zu können. Andere vertreten die Ansicht, man könne durch die „Macht positiven Denkens“ einen starken Optimismus entwickeln. „Man muß Selbstvertrauen haben“, sagen sie. „Man muß an sich und an seinen Erfolg glauben.“
Werden wir tatsächlich auf diese Weise von dem Druck der heutigen Zeit befreit?
Eine solche Philosophie nützt offensichtlich nichts, wenn man in einen Verkehrsstau gerät und vor, hinter und neben sich lange Autoschlangen hat. Auch mag jemand versuchen, die Symptome eines bösartigen Tumors „wegzudenken“; würde das indessen den Tumor daran hindern, sich in seinem Körper weiterzuentwickeln?
Natürlich sind Selbstvertrauen und Optimismus etwas Gutes. Aber dafür müssen die richtigen Voraussetzungen vorhanden sein. Als Beispiel diene folgendes: Vor kurzem veröffentlichte das New York Times Magazine einen Artikel über J. I. Rodale, erfolgreicher Schriftsteller und führend auf dem Gebiet des naturgemäßen Landbaues sowie der Reformkost. Darin wird berichtet, daß er gesagt habe: „Ich werde hundert Jahre alt, es sei denn, ein unter Drogeneinfluß stehender Taxifahrer fährt mich um.“ An dem Tag, nachdem der Artikel erschienen war, starb er im Alter von 72 Jahren an einem Herzschlag.
Es mag beruhigend sein, in einer Traumwelt zu leben und aus unseren Sehnsüchten und dem Glauben an Fähigkeiten, die wir gar nicht besitzen, Luftschlösser zu bauen. Doch für den, der sich nur auf seine eigenen unvollkommenen Fähigkeiten und auf sein unvollkommenes Denken stützt oder auf die veränderlichen Philosophien sterblicher Menschen, wird es eines Tages ein böses Erwachen geben.
Der Okkultismus als Ausweg
Was könnte uns besser von unserer angstvollen Ungewißheit befreien, als etwas über die Zukunft zu wissen?
In manchen Ländern haben die okkulten „Wissenschaften“ viele Anhänger. Immer mehr Menschen suchen mit Hilfe der Astrologie und des Spiritismus die Zukunft zu erforschen.
Schon im Jahre 1946 erklärte ein Mitglied der Verwaltung des amerikanischen Naturhistorischen Museums in Washington, D. C.: „Jede Woche werden die Astrologen der Hauptstadt von 10 000 Personen aufgesucht.“ Er erwähnte auch, daß zum Kundenkreis dieser Wahrsager prominente Abgeordnete gehörten; ein Kongreßabgeordneter lasse sich jede Woche in seinem Büro das Horoskop stellen.
Wenn du geneigt bist, dir auf diese Weise Erleichterung zu verschaffen, dann frage dich zuerst: Wie sieht es in den Ländern aus, in denen der Okkultismus zum täglichen Leben gehört? Geht es der Bevölkerung dort besser?
In einigen asiatischen Ländern spielt die Astrologie für die ganze Bevölkerung eine wichtige Rolle: In allen Unternehmungen richtet man sich nach den Sternen. In vielen afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern blüht der Spiritismus und Wodukult. Bist du der Meinung, das habe der Bevölkerung dieser Länder Frieden, Sicherheit und Geborgenheit gebracht? Oder betäuben diese Praktiken, ähnlich wie suchterzeugende Drogen, die Menschen nur, so daß sie ihre wahre Situation nicht erkennen?
Befreit Vertrauen zur Wissenschaft von Streß?
In „fortschrittlichen“ Ländern erwarten viele, daß Wissenschaft und Technologie sie vom Druck der heutigen Lebensverhältnisse befreie. Sie stehen auf dem Standpunkt, man habe es dabei wenigstens mit „Realitäten“ zu tun.
Wer kann bestreiten, daß in den vergangenen fünfzig Jahren in vielen Zweigen der Wissenschaft große Fortschritte erzielt worden sind? Wir lesen von Glanzleistungen auf dem Gebiet der Chirurgie, von „Wunder“drogen, von bemannten Mondflügen und von einer erdumkreisenden Weltraumforschungsstation. Auch dürfen wir die „grüne Revolution“ nicht vergessen. Landwirtschaftsexperten behaupten, diese Revolution sei durch die Entwicklung neuer Weizen-, Mais- und Reissorten ausgelöst worden, die größere Erträge lieferten. Damit hofft man, die sich explosiv vermehrende Erdbevölkerung zu ernähren.
Zeigt das nicht, daß es realistisch ist, von den Wissenschaftlern zu erwarten, daß sie uns durch ihr technologisches Wissen von den streßerzeugenden Problemen befreien? Nein. Warum nicht?
Weil ehrliche Wissenschaftler zugeben, daß sie nicht wissen, wie das geschehen könnte.
In Pollution, einem Organ der Staatsuniversität New York, wurde in einem Artikel, der sich mit den Gefahren der Umweltvergiftung befaßte, u. a. gesagt:
„Im allgemeinen weigert sich der Laie, die Möglichkeit einer Katastrophe auch nur in Erwägung zu ziehen. Seine stereotype Antwort lautet: ,Wissenschaft und Technologie haben bisher immer unsere Probleme gelöst, sie werden das auch in Zukunft tun.‘ ... die Zahl der Wissenschaftler, die diese Meinung nicht teilt, wird immer größer.“
Harry Grundfest, Professor der Chirurgie an der Columbia-Universität, sagte am 15. Mai 1971: „Man hat noch immer nur vage Anhaltspunkte über die Ursachen der Krebserkrankungen — von einer Besiegung des Krebses ganz zu schweigen.“ Untersuchungen lassen erkennen, daß trotz großer Bemühungen auf dem Gebiet der Krebsforschung 25 Prozent der amerikanischen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens an Krebs erkranken werden. Heute vollbringen Chirurgen erstaunliche Leistungen, indem sie Menschenherzen verpflanzen. Wie aus der New York Times vom 16. Juli 1971 aber hervorgeht, sind Herzkrankheiten in den Vereinigten Staaten immer noch Todesursache Nr. 1. Auch gegen andere tödliche Krankheiten kämpft die Medizin heute noch vergeblich.
Durch die „grüne Revolution“ ist die Getreideerzeugung in einigen Ländern zwar gewaltig gestiegen, aber sie hat auch ernste Nachteile. In einem Artikel der Associated Press wird folgendes berichtet: „Die neuen Getreidesorten, die man durch Kreuzung entwickelt hat, sind nicht so resistent gegen Brand wie die alten. Die Möglichkeit besteht, daß die gesamte Ernte eines Landes — vielleicht eine ganze Welternte — durch eine neue Pflanzenkrankheit zerstört wird. Das ist im vergangenen Jahr [1970] in den Vereinigten Staaten mit der Maisernte beinah geschehen.“
Aus diesem und aus anderen Gründen äußerte der Ernährungsexperte William C. Paddock Zweifel darüber, daß man durch eine solche Steigerung der Getreideerzeugung das Ernährungsproblem, das die sich explosiv vermehrende Weltbevölkerung darstellt, zu lösen vermag. Er sagte: „Die Revolution ist nur grün, solange man sie durch eine grüne Brille betrachtet. Nimmt man die Brille ab, so erweist sie sich als eine Täuschung ... es klappt nicht.“
Paddock und andere weisen noch auf einen weiteren Faktor hin: Der Mensch verwandelt weit größere Gebiete in Wüsten, als er durch Bewässerung gewinnt. Ein Beispiel ist Westpakistan: Wie Lord Richie Calder berichtet, hat die Bevölkerung des Industales in Westpakistan so zugenommen, daß es alle 5 Minuten 10 weitere Menschen zu ernähren gilt. „In jenem Tal aber geht der Nahrungsmittelerzeugung alle 5 Minuten fast ein halbes Hektar Boden verloren, weil er entweder versumpft oder versalzt.“
Ist die technologische Wissenschaft bis jetzt nicht die Quelle vieler Übel gewesen, unter denen die Menschen heute leiden — vom Verkehrschaos über LSD bis zur Umweltverschmutzung und der Gefahr des Atomkrieges? Es ist leicht zu sagen: „Die Wissenschaft hat die Probleme geschaffen, sie wird auch einen Ausweg finden.“ Bedeutet denn der Umstand, daß ein kräftiger Mann im stürmischen Meer weit hinauszuschwimmen vermag, daß er auch wieder zurückschwimmen kann, ohne dabei zu ertrinken?
Wie andere Menschen, so sind auch Wissenschaftler entgegen ihren Behauptungen einem Druck ausgesetzt, dem Druck nationalistischer Ambitionen oder der eigenen Selbstsucht. Immer wieder kommt es vor, daß Wissenschaftler sich dafür hergeben, politischen Zielen oder der Gewinnsucht von Großunternehmern zu dienen. Sie vollbringen phantastische Leistungen auf dem Gebiet der Mechanik, der Physik und der Chemie. Aber sie versagen, wenn es darum geht, Schwierigkeiten, die durch das Zusammenleben der Menschen entstehen, zu beheben. Je „menschlicher“ das Problem, desto unfähiger ist die Wissenschaft, es zu lösen.
Die Leistungen der Wissenschaft, sie mögen noch so faszinieren, können uns im Grunde genommen so wenig vom Druck der heutigen Lebensverhältnisse befreien wie die Schau, die ein tanzender Medizinmann mit einer knöchernen Klapper und mit Fetischen aufzieht.
Werden Vernunft und Anständigkeit Erfolg haben?
Andere trösten sich mit dem Gedanken, die Menschheit werde schließlich aufwachen, die Gefahren erkennen und Abhilfe schaffen. Nach ihrer Überzeugung lassen die Staatsführer immer mehr erkennen, daß sie sich der Schwere der heutigen Probleme bewußt sind.
Sie sagen, es könne nur besser werden, wenn man an „die Anständigkeit des Menschen“ glaube; man sollte die Überzeugung haben, daß „die Menschen vom Wunsch beseelt seien und die Fähigkeit hätten, Probleme gemeinsam zu lösen“.
Haben sie recht? Bringt uns eine solche Überzeugung Erleichterung?
Viele Menschen leben in Frieden. Andere könnten das somit auch. Ein Teil der Menschen ist ehrlich, sie stehlen nicht und betrügen nicht. Andere könnten das auch sein. Es gibt Gegenden, in denen die Menschen die Luft, das Wasser und den Boden nicht mit Chemikalien oder Abgasen vergiften. Andere könnten sie nachahmen, könnten bereitwillig auf gewisse Dinge verzichten, könnten ihre Lebensweise ändern, so daß alle vor Schaden bewahrt würden. Ja, sie könnten alles das tun. Die Frage ist nur: Sind sie dazu bereit? Sind sie in der Vergangenheit dazu bereit gewesen? Zeigen sie jetzt eine gewisse Bereitwilligkeit?
Vermochte die Anständigkeit des Menschen den Ausbruch von Kriegen zu verhindern? Aus der Geschichte sind uns Tausende von Friedensverträgen und Nichtangriffspakten bekannt. Der verstorbene französische Staatspräsident Charles de Gaulle sagte einmal: „Verträge gleichen Rosen und jungen Mädchen. Sie währen, solange sie währen.“
Ein Beispiel ist der im Jahre 1928 abgeschlossene Briand-Kellogg-Pakt. Dieser internationale Vertrag zur Achtung des Krieges „als Werkzeug der nationalen Politik“ wurde als ein gewaltiger Erfolg gewertet. Er wurde von zweiundsechzig Staaten feierlich unterschrieben. Aber nach etwas mehr als einem Jahrzehnt war die Mehrzahl dieser Staaten in den Zweiten Weltkrieg verwickelt.
Ohne Zweifel ziehen die meisten Menschen den Frieden dem Krieg vor. Aber wenn selbstsüchtige Interessen auf dem Spiel stehen, sind sie bereit, diesen den Frieden zu opfern. Materieller Reichtum, Macht und Nationalstolz bedeuten ihnen mehr als Menschenleben. Ähnlich verhält es sich mit anderen Problemen, die Streß und Spannungen erzeugen.
Es klingt vortrefflich, wenn man vom Glauben „an die Anständigkeit des Menschen“ spricht. Aber ist es realistisch?
Ist es zum Beispiel realistisch, zu glauben, Straftaten beschränkten sich nur auf Personen, die andere überfallen, vergewaltigen oder erpressen, und alle Verbrecher stammten aus Elendsvierteln?
Ein kanadisches Detektivbüro hat ermittelt, daß „von drei Angestellten einer grundsätzlich unehrlich ist — das heißt, er sucht nach Möglichkeiten zu stehlen; daß der zweite von diesen dreien unehrlich ist, wenn er Gelegenheit dazu erhält“.
Amerikanische Kriminologen schätzen, daß in einem Jahr von „anständigen“ Angestellten Sachen im Werte von 4 000 000 000 Dollar veruntreut werden oder das Siebzigfache dessen, was in jenem Land von regelrechten Dieben gestohlen wird.
Ferner häufen sich die Beweise dafür immer mehr, daß Personen in hohen Amtsstellungen ebenso der Versuchung ausgesetzt sind, Tatsachen irreführend darzustellen und unaufrichtig zu handeln, wie der gewöhnliche Bürger — oder vielleicht noch mehr. Wir tun uns gewiß keinen Gefallen, wenn wir uns einreden, es sei nicht so.
Haben wir damit die Möglichkeiten, Erleichterung zu finden, erschöpft? Nein, das haben wir nicht.
Wohl haben sich die Mittel, die wir bisher besprochen haben, als untauglich erwiesen, wirkliche Abhilfe zu schaffen, doch es gibt noch eine zuverlässige Quelle, der wir uns zuwenden können.
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Über die moderne Wissenschaft sagte Albert Einstein: „In Kriegszeiten ermöglicht sie es uns, uns gegenseitig zu vergiften und zu verstümmeln. In Friedenszeiten ist unser Leben durch sie gehetzt und unsicher geworden. Anstatt uns von geisttötender Arbeit zu befreien, hat sie die Menschen zum Sklaven der Maschine gemacht, und die meisten ekelt vor der langweiligen Arbeit, die sie tagaus, tagein verrichten müssen.“
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Nützt die Philosophie des Selbstvertrauens etwas, wenn man in einen Verkehrsstau gerät?
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Millionen Menschen sehen im Okkultismus eine Möglichkeit, sich von dem Druck, der heute auf uns lastet, zu befreien. Erreichen sie Ihr Ziel?
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Die Leistungen der Wissenschaft können uns im Grunde sowenig vom heutigen Druck befreien wie die Gaukelkünste eines Medizinmannes.