Wie werden die Völker von der Religion geführt?
DER flüchtige Beobachter erhält den Eindruck, daß die Religion dem Staat untergeordnet sei. In gewissen Fällen trifft das auch zu. Aber wieso ist es einigen Machthabern gelungen, die Zügel der Regierung zu ergreifen, besonders Diktatoren in sogenannt christlichen Ländern?
Ist ihnen das nicht gelungen, weil die Religion das Denken der Völker beeinflußt hat? Die Religion hat tatsächlich einen solchen Einfluß auf die Menschen ausgeübt, daß Diktatoren zur Macht kommen und an der Macht bleiben können. Sie hat das Volk veranlaßt, zu erwarten, daß politische Herrscher die von ihm ersehnten sozialen Verhältnisse herbeiführen würden.
Mit wenigen Ausnahmen haben die religiösen Führer sich zu den politischen Herrschern bekannt und sie unterstützt. Manchmal mischt sich die Geistlichkeit sogar in die Politik ein, indem sie dem Kirchenvolk sagt, wie es wählen soll.
Kommt ein Diktator zur Macht und verspricht dem Volk das, was sich das Volk wünscht, folgen ihm viele. Aber was geschieht, wenn er Krieg anfängt? Das Volk ist von der Geistlichkeit so beeinflußt worden, daß es bereit ist, in den Krieg zu ziehen.
Manchmal gehen gewisse Machthaber zu weit. Sie tun Dinge, die der Geistlichkeit mißfallen. Aber wer ist in erster Linie verantwortlich dafür, daß solche Diktatoren die Gewalt an sich reißen konnten? Wäre es zum Beispiel Hitler gelungen, eine so große Macht auszuüben, hätte die Mehrheit der Geistlichkeit das Kirchenvolk nicht aufgefordert oder ihm nicht erlaubt, Hitler Gefolgschaft zu leisten? Bedeutete das Konkordat, das zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich geschlossen wurde, nicht eine moralische Stärkung für das Hitler-Regime?
Wäre in Rußland der Kommunismus zur Macht gekommen, wenn die Kirche dort nicht die reichen Großgrundbesitzer und andere Gruppen, die das Volk bedrückten, in einem Maß unterstützt hätten, daß es zu einer Reaktion kommen mußte? Hätte der Kommunismus in China Fuß fassen können, wenn die sogenannt christlichen Völker mit dem chinesischen Volk anders umgegangen wären?
Einige radikale Geistliche treten jetzt sogar für die Revolution ein. Handeln sie aber wirklich so ganz anders als ihre Amtskollegen? Lenken sie dadurch nicht lediglich die Aufmerksamkeit des Volkes auf eine andere Herrschaftsform selbstsüchtiger Prägung, anstatt ihm zu zeigen, wie es gemäß Gottes Wort, der Bibel, wahre Befreiung erlangen kann?
Und wie verhalten sich die Kirchen in Fragen der Sittlichkeit? Was wird gegen Gemeindeglieder unternommen, die Hurerei, Ehebruch und Homosexualität treiben? Werden sie nicht meistens weiter als Glieder der Kirche anerkannt? Ist nicht die alarmierende Überhandnahme von Geschlechtskrankheiten, der Anstieg unehelicher Geburten und der Zahl von Abtreibungen in der Christenheit hauptsächlich darauf zurückzuführen, daß die Kirchen versäumt haben, Gemeindeglieder, die unsittlich handeln, zur Rechenschaft zu ziehen und in sittlichen Fragen klare Normen aufzustellen?
Heute bestehen die gleichen Verhältnisse wie bei den Israeliten, bevor sie nach Babylon in Gefangenschaft kamen und ihre Hauptstadt, Jerusalem, zerstört wurde. Über jene Zeit lesen wir in der Bibel: „Sowohl der Prophet als der Priester selbst sind entweiht worden.“ — Jer. 23:11.
Was für Verhältnisse hatte das zur Folge? Die Bibel antwortet: „Fluchen und Betrügen und Morden und Stehlen und Ehebrechen, das ist ausgebrochen, und Taten des Blutvergießens haben an andere Taten des Blutvergießens gereicht.“ — Hos. 4:2.
Wie die Geistlichkeit der Israeliten zu jener Zeit, so hat auch die heutige Geistlichkeit Gott nicht die Treue gehalten. Sie hat ihre Gemeinden die Wahrheiten des Wortes Gottes nicht gelehrt, und sie selbst hält sich nicht daran. Sie ist mehr daran interessiert, nach ihrem eigenen Gutdünken zu handeln, als den Willen Gottes zu tun.
Das heißt nicht, daß es keine Geistlichen gegeben hat, die die abscheulichen Dinge, welche im Namen Gottes verübt worden sind, nicht mißbilligt hätten. Auch haben ehrliche Staatsmänner sich bemüht, die Lage des Volkes zu bessern. Aber der Geist der Kompromißbereitschaft und Selbstsucht, der dominiert, sowie das System, das sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat und in dem gute Grundsätze mißachtet werden, wirken lähmend auf Personen, die sich bemühen, die Christenheit zu reformieren.
Wahrscheinlich am tragischsten hat sich das Versagen der Religion in Verbindung mit den Kriegen ausgewirkt! Es ist aufschlußreich, einen Blick auf die Geschichte zu werfen. Wie haben sich die Kirchen zum Beispiel gegenüber dem Vietnamkrieg verhalten?