Die „schicksalsschwere Hypothek für die russische Kirche“
IM Jahre 1847 schrieb der russische Literaturkritiker Wissarion Belinskij an den russischen Schriftsteller Gogol, der die russisch-orthodoxe Kirche gepriesen hatte: „Die russische Kirche ist stets die Stütze für die Herrschaft der Knute und die Helfershelferin der Despotie gewesen ... Warum zerren Sie da Christus herein? Was haben Sie gefunden, das ER mit irgendeiner Kirche und ganz besonders mit der Orthodoxen Kirche gemein hätte? ER war der erste, der der Menschheit die Lehre von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit brachte, und hat mit seinem Märtyrertum die Wahrheit dieser seiner Lehre besiegelt.“ Bestand wirklich ein solcher Gegensatz zwischen dem wahren Christentum und der russischen Kirche?
Über diese Kirche schreibt Maurice Hindus in seinem Buch Haus ohne Dach (1961; übersetzt aus dem Amerikanischen von Irene Salzner): „In der Zarenzeit machte die Bauernschaft 80 Prozent der Bevölkerung aus, aber die Kirche unterzog sich niemals der Mühe, den Muschik [russischen Bauern] von seinem Aberglauben zu befreien, der noch aus der Zeit des Heidentums stammte. Dem Klerus waren die Hexen, Zauberer, Magier und Beschwörer, die das Dorf heimsuchten und von der Leichtgläubigkeit und Unwissenheit des Muschiks lebten, gänzlich gleichgültig. Oft war das ,Väterchen‘ des Dorfes selbst ein vollkommen unwissender Mann, der gerne Wodka trank und auch nicht abgeneigt war, einmal ein hübsches Pfarrkind zu verführen. ... Aber der Muschik, der Hauptpfeiler der Kirche zumindest auf Grund seines überwältigenden Bevölkerungsanteils, blieb hinsichtlich des Glaubens, in den er hineingeboren war, vergleichsweise in Unkenntnis. Er lernte mehr über Gut und Böse aus den Erzählungen und Balladen wandernder Bettler und Pilger als von den Ortspriestern.“
Warum war das so? Warum legte die orthodoxe Kirche nicht mehr Wert auf den Glauben und auf die hohen Sittenmaßstäbe des Wortes Gottes? Maurice Hindus schreibt: „Eine schicksalsschwere Hypothek für die russische Kirche war ihre vollkommene Unterwerfung und Dienstbarkeit gegenüber dem zaristischen Staat, was, um mit Miljukow zu sprechen, ,alle lebenden Knospen der Religion absterben ließ‘.“
„Aber das hat sich doch sicher geändert; heute ist es bestimmt nicht mehr so“, mag der eine oder andere denken. Maurice Hindus schreibt aufgrund seiner eigenen jahrelangen Beobachtungen über die russische Kirche von heute:
„Die Verfassung untersagt der Kirche jegliche politische Betätigung und beschränkt ihre Funktionen allein auf die Ausübung ihrer religiösen Aufgaben. Aber wenn der Kreml die Kirche ruft, antwortet sie bereitwilligst mit ihrem Segen für die sowjetische Außenpolitik, wie diese auch aussehen möge. Obwohl der Kreml nicht mehr vom ,heiligen‘ Rußland spricht, so hat doch für die in hohem Maße nationalistische Kirche das Heilige Rußland immer recht, und seine Feinde, die der Kreml als solche bestimmt, gleichgültig ob es sich um wirkliche oder nur um eingebildete handelt, haben stets unrecht“ (S. 119, 121, 122, 123).