Die Kunst der Funkenprobe
„STAHL ist doch Stahl“, mögen einige sagen, „wozu also eine Probe machen?“ Haben sie aber noch nie etwas von Nickelstahl oder Wolframstahl oder Kobaltstahl gehört? Es gibt da einige sehr bedeutende Unterschiede.
Sogar Hausfrauen sind in bezug auf Stahl wählerisch. Ihnen ist die Sorte nicht gleich. Das glänzende Kochgeschirr, das bis zu 12 Prozent Chrom und vielleicht etwas Nickel enthält, ist nicht einfach aus „Stahl“. Es ist aus rostfreiem Stahl. Und es gibt viele Sorten von rostfreiem Stahl — einige sind zum Beispiel so umgewandelt, daß sie korrosionsbeständiger sind als andere.
Tausende, die in Maschinenwerkstätten und Herstellungsbetrieben arbeiten, wissen, daß für jedes hergestellte Erzeugnis eine gewisse Stahlsorte benötigt wird. Wie kann man unter verschiedenen vorhandenen Sorten die richtige ausfindig machen? Es genügt im allgemeinen nicht, sich das Metall anzusehen. Sollte der Arbeiter eine Probe ins Labor schicken, damit eine chemische Analyse gemacht wird? Das wäre sehr kostspielig und zeitraubend. Sicher gibt es eine praktischere Methode.
Ein Farbkennzeichnungssystem
Stahlerzeuger kennzeichnen die in ihren Walzwerken hergestellten Stahlstangen am Ende mit verschiedenen Farben. Dazu werden Farbentafeln geliefert, aus denen genau hervorgeht, mit welcher Legierung man es zu tun hat, wenn man eine Stange aus dem Lager holt.
Wie du vielleicht schon weißt, entsteht eine Legierung, wenn zwei oder mehr Metalle zusammengeschmolzen werden. Zum Beispiel ergeben Kupfer und Zink die Legierung Messing. Ebenso enthalten legierte Stähle verschiedene Elemente zusätzlich zum Eisen. Sie mögen hinzugefügt werden, um den Stahl härter, korrosionsbeständiger oder elastischer zu machen oder ihm eine andere Eigenschaft zu geben. Zum Beispiel ist, wie vorhin erwähnt, eine Verbindung aus Stahl und Chrom (vielleicht mit etwas Nickel) erforderlich, um glänzendes, rostfreies Kochgeschirr herzustellen.
Was aber, wenn wir Stangen verschiedener Stahlsorten haben und die mit Farben gekennzeichneten Enden abgeschnitten sind oder wenn wir die Farbentafeln nicht finden können? Nur nicht aufgeben; die Sache ist noch nicht verloren.
Die Funkenprobe enthüllt das Unbekannte
Es gibt eine Methode, die vorhandene Stahlsorte zu bestimmen. Es ist die Funkenprobe, eine alte Kunst, die sich auch heute noch bewährt. Diese Kunst ermöglicht es, nicht nur die chemische Zusammensetzung des Metalls festzustellen, sondern auch herauszufinden, welche Eigenschaften der Stahl durch Frischen und Erhitzen angenommen hat.
Wenn ein Stück Metall angeschliffen wird, entstehen Funken. Die Funkenprobe ist eine schnelle Methode, durch die sich das Vorhandensein der meisten Legierungselemente in dem Metall nachweisen läßt, ohne es wesentlich zu zerstören. Verwendet werden kann ein transportabler Handschleifapparat mit einer bestimmten Umfangsgeschwindigkeit. Bevor man mit der Funkenprobe beginnt, sollte die Schleifscheibe gesäubert werden. Sonst können bereits Stahlteilchen darauf sein, die ein irreführendes Ergebnis verursachen.
Ein gleichmäßiger Druck zwischen der Schleifscheibe und dem Stahlstück ist sehr wichtig. Dieser Druck sollte ausreichen, um eine Funkengarbe von etwa 60 Zentimeter Länge zu erzeugen. „Aber was für einen Nutzen hat es, Funken zu erzeugen?“ fragst du.
Diese Funken enthüllen dem geübten Auge das Unbekannte. In der Funkengarbe erzeugt jedes Element sein eigenes besonderes Muster und seine bestimmte Farbe. Der Anteil eines Elements im Stahl wird durch Beobachtung der Häufigkeit seines charakteristischen Funkens festgestellt. So ist es möglich, das Vorhandensein von Elementen wie Kohlenstoff, Mangan, Silizium, Nickel, Chrom, Molybdän, Wolfram, Kupfer, Aluminium, Titan, Vanadium und Niob nachzuweisen. Ein erfahrener Funkenprüfer kann auf diese Weise unter mehreren Stahlsorten zum Beispiel Manganstahl heraussuchen, der benötigt wird, um verschleißbeanspruchte Teile herzustellen.
Es gibt zwei allgemeine Gruppen von Stahl: die reinen Kohlenstoffstähle und die legierten Stähle.
Reine Kohlenstoffstähle
Sehen wir einmal zu, wenn ein Stück Kohlenstoffstahl fest an eine Schleifscheibe gedrückt wird. Das Gesamtbild der Funkengarbe hilft festzustellen, ob der Stahl einen niedrigen oder einen hohen Kohlenstoffgehalt hat. Bei einem niedrigen Kohlenstoffgehalt wird eine lange, schmale Garbe erzeugt, während es bei einem hohen Kohlenstoffgehalt eine kurze, breite Garbe ist.
Wir müssen auch auf die Hauptstrahlen achten, nämlich auf die einzelnen Strahlen, die durch ihren Verlauf die Funkengarbe bilden. Sie entstehen durch winzige Stahlteilchen, die sich durch die Reibung der Schleifscheibe von der Stahlstange lösen. Die Hitze, die erzeugt wird, wenn sich ein Teilchen löst, und die Reibung, die entsteht, während es durch die Luft schießt, bringen es zum Glühen. Jedes winzige Stahlteilchen gleicht sozusagen einem ganz kleinen Meteor, der sich durch den Weltraum bewegt.
Da Stahl mit niedrigem Kohlenstoffgehalt weich ist, löst die Schleifscheibe größere Teilchen ab. Daher sind die einzelnen Hauptstrahlen breiter, und durch die Massenwirkung glühen sie länger als die kleinen Teilchen der härteren, spröderen Stähle mit hohem Kohlenstoffgehalt.
Art und Form der Explosionen nahe dem Ende der Hauptstrahlen ermöglichen es, den Kohlenstoffgehalt des Stahls genauer zu bestimmen. Die Explosionen sind unterschiedlich in Größe, Gestalt, Form, Intensität und Entfernung von der Schleifscheibe. Ein niedriger Kohlenstoffgehalt hat einige wenige stachelförmige Explosionen zur Folge, wohingegen ein hoher Kohlenstoffgehalt viele sternförmige Explosionen bewirkt. Ein Blick auf die beiden Abbildungen zeigt dir einige der soeben erwähnten Unterschiede.
In dem Maße, wie der Kohlenstoffgehalt zunimmt, wird auch die Funkengarbe dichter. Das ist in ihrer Mitte zu beobachten. Auch diese Unterschiede sieht man in den beiden Abbildungen; doch vergiß nicht, daß das richtige Andrücken des Stahlstücks an die Schleifscheibe äußerst wichtig ist, um die Dichte beurteilen zu können.
Funkenproben bei legierten Stählen
Wenn man bei legierten Stählen die Funkenprobe macht, muß man auf besondere Faktoren achten, denn jedes Element und der Prozentsatz seines Anteils im Stahl rufen besondere Merkmale und Farbwirkungen der Funken hervor. Ein Faktor, den man als das „Warenzeichen“ jedes Elements bezeichnen könnte, ist seine Eigenschaft. Je höher der Gehalt des Legierungselements im Stahl ist, desto deutlicher zeigt sich die Eigenschaft dieses Elements in der Funkengarbe. Angenommen, man beobachtet beim Prüfen eines unbekannten Stahls, daß sich vom Ende jedes Hauptstrahls eine „Lanzenspitze“ löst, so bedeutet das, daß der Stahl Molybdän enthält. Beim Vorhandensein von Vanadium sieht das Ende jedes Hauptstrahls wie ein umgekehrter Regenschirm aus.
Ein anderer Faktor ist die Farbe. Es gilt die allgemeine Regel, daß Elemente, die leicht oxydieren, die Funkengarbe heller werden lassen, während sie durch Elemente, die schwer oxydieren, gewöhnlich dunkler wird. Bei den meisten Kohlenstoffstählen sind die Funken strohfarben. Legierte Stähle erzeugen zum größten Teil eine schmutziggelbe Farbe. Bei wolframhaltigen Schnellstählen kommt es zu einer roten oder tieforangefarbenen Funkengarbe.
Aus dieser kurzen Abhandlung erkennen wir, daß die Funkenprobe in der Industrie eine bedeutende Kunst ist, eine Kunst, die sehr nützlich ist, um Stahllegierungen und unbekannte Stahlgüten zu identifizieren. Wenn du auch nie ein „Funkenkünstler“ wirst, ist es doch gut, zu wissen, daß andere auf diesem Gebiet zu Fachleuten geworden sind. Denke einmal darüber nach, wenn du das nächste Mal Kochgeschirr aus rostfreiem Stahl benutzt oder in einem Schnellzug über glatte Stahlbänder fährst. (Eingesandt.)
[Bilder auf Seite 25]
STACHELFÖRMIGES BILD BEI NIEDRIGEM KOHLENSTOFFGEHALT
STERNFÖRMIGE EXPLOSIONEN BEI HOHEM KOHLENSTOFFGEHALT