Eine Schrift, die über die Aussprache nichts aussagt
Vom „Awake!“-Korrespondenten auf Taiwan
IN EINER Schule auf Taiwan sitzt der zehnjährige Lin Yung-hsiung hinter dem Schreibpult. Mit den kleinen Fingern hält er einen feinen Pinsel fest, dessen Bambusgriff von oben bis unten ungefähr gleich dick ist. Sorgfältig malt er schwarze Striche auf das Papier. Millionen Kinder in Dörfern und Städten Asiens tun dasselbe jeden Tag. Was tun sie? Malen sie Bilder für den Zeichenunterricht?
Die Antwort ist: „Ja und nein.“ Die Kinder lernen die Kunst des Schreibens einer Schrift, die über die Aussprache nichts aussagt. Diese Kunst ist schon über 3 000 Jahre alt. Sie geht zurück bis auf die chinesische Schang-Dynastie.
Aber wie ist es möglich, daß eine Schrift nichts über die Aussprache aussagt? Wir wollen das mit dem Namen des erwähnten Jungen veranschaulichen. In dem chinesischen Dialekt, den man Mandarin nennt, lautet sein Familienname Lin. Das Schriftzeichen dafür [Abbildung: Chinesische Schriftzeichen] bedeutet „Wald“ oder „Dickicht“. Siehst du die beiden Bäume, die diesen Gedanken vermitteln? Sein Vorname Yung-hsiung setzt sich aus zwei Bildzeichen zusammen [Abbildung: Chinesische Schriftzeichen], die „ständige Tapferkeit“ oder „ewige Mannhaftigkeit“ bedeuten.
Die Schriftzeichen vermitteln die Bedeutung, aber sie sagen nichts über die Aussprache des Wortes aus. Der Leser muß das Wort gemäß dem chinesischen Dialekt aussprechen, den er spricht. Eine kantonesisch sprechende Person, deren Name mit den gleichen Zeichen geschrieben wird wie der erwähnte Name, würde ihn nicht Lin Yung-hsiung aussprechen, sondern Lam Wing-hung. In beiden Fällen bleibt sich aber die Bedeutung gleich. Alle, die Chinesisch lesen, können sich mit Hilfe der Schrift miteinander verständigen, obschon sie, wenn sie mündlich miteinander verkehren, den Dialekt des anderen nicht verstehen mögen.
Bestrebungen zur Förderung des Mandarins
In jüngerer Zeit sind Bestrebungen in Gang gekommen, Mandarina zur Landessprache für ganz China zu erheben. Um das zu erleichtern, haben Experten 37 phonetische Symbole entwickelt, die die Mandarin-Aussprache der chinesischen Schriftzeichen genau vermitteln. Mit Hilfe dieser phonetischen Symbole wird die Aussprache des Mandarins gelehrt. Außerdem werden sie in Publikationen, die für Kinder und für Leute mit geringer Ausbildung bestimmt sind, verwendet. Das ermöglicht es solchen Personen, die Publikationen zu lesen, ohne erst Tausende von komplizierten Schriftzeichen kennenlernen zu müssen.
Weitere Bemühungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Wege geleitet wurden, haben die chinesische Schrift noch mehr beeinflußt. Wie? In den vorangegangenen 1 800 Jahren benutzte man eine Schriftsprache, die wenyan genannt wurde. Sie zeichnete sich durch Kürze und Prägnanz aus. Jedes Zeichen stellte ein Wort dar, und jedes Wort bestand nur aus einer Silbe. Wenn jemand diese einsilbigen Zeichen vorlas, verstanden die anderen wenig. Die Schwierigkeit könnte wie folgt veranschaulicht werden: Das Schriftzeichen für „treu“ wird im Mandarinendialekt chung1 ausgesprochenb. Dieser gesprochene Laut kann aber auch „Mitte“, „Uhr“, „Ende“ oder andere Dinge bedeuten. In anderen Sprachen gibt es ebenfalls Wörter, die gleich klingen, aber Verschiedenes bedeuten — im Deutschen beispielsweise die Wörter „leeren“ und „lehren“.
Wenn sich ein Chinese unterhält, löst er dieses Problem oft, indem er bestimmten Wörtern eine Silbe hinzufügt, um seinem Gegenüber die genaue Bedeutung dessen zu vermitteln, was er sagen will. Im Gespräch verwendet eine Mandarin sprechende Person nicht nur das Zeichen für „treu“ (chung1), sondern sagt chung1-hsin1, fügt also eine Silbe (hsin1) hinzu, so daß ihr Gesprächspartner genau weiß, daß sie „treu“ meint und nicht „Mitte“, „Uhr“ oder etwas anderes. Bei der baihua-Methode werden diese zusätzlichen Silben beim Schreiben hinzugefügt, wodurch sie der Umgangssprache ähnlich wird. Übrigens ist das auch die Bedeutung des Ausdruckes baihua (verständliche, gesprochene Sprache). Das erleichtert der weniger gebildeten Person das Lesen. Die Bestrebungen, phonetische Symbole beim Unterrichten in der Mandarin-Aussprache zu verwenden sowie die baihua-Prinzipien beim Schreiben, haben viele Personen ermutigt, Mandarin lesen und sprechen zu lernen.
Eine Schrift, die über die Aussprache nichts aussagt
Chinesische Schriftzeichen zu schreiben ist eine Kunst. Der Schüler muß als erstes die richtige Reihenfolge der Striche lernen. Die Striche müssen außerdem gleichmäßig und im richtigen Verhältnis zueinander sein. Als Erleichterung benutzt der Anfänger kleinkariertes Papier. Unser junger Freund Yung-hsiung hat anfänglich auf kariertem Papier mit Feder oder Bleistift geübt. Schließlich gelang es ihm, in ein kleines Viereck Schriftzeichen, die aus 33 Strichen bestehen, zu schreiben. Später lernte er, diese Schriftzeichen mit dem Pinsel zu schreiben.
Eine Schrift, die über die Aussprache nichts aussagt, bietet Schwierigkeiten. Aber die Chinesen haben diese in genialer Weise gelöst. Interessant ist es, wie Yung-hsiung in einem Telefonbuch die Namen findet. Da es im Chinesischen kein Alphabet gibt, sind die Namen entsprechend der Anzahl Striche angeordnet, die zum Schreiben des ersten Zeichens des Namens gebraucht werden; das ist im Chinesischen der Familienname. Wenn der Junge einen Namen im Telefonbuch sucht, schreibt er zuerst das Zeichen und zählt dabei die Striche. Yung-hsiungs eigener Familienname, Lin, erfordert acht Striche. Diesen Namen findet er somit in der 8-Strich-Rubrik des Buches.
Welche Beziehungen bestehen zwischen dem Chinesischen und dem Japanischen? Die beiden Sprachen sind eigentlich nicht nahe miteinander verwandt. Grammatik und Satzbau der japanischen Sprache sind ganz anders als die der chinesischen Sprache. Die Japaner entlehnten indessen die chinesischen Schriftzeichen für ihre Sprache. Dadurch ist die komplizierteste Schrift der Welt entstanden. Da es für alle chinesischen Schriftzeichen eine japanische und eine chinesische Lesung gibt, können manche je nach dem Zusammenhang auf neun und noch mehr Arten gelesen werden. Der japanische Schüler kommt mit etwa 1 850 chinesischen Schriftzeichen aus, muß aber noch zwei verschiedene phonetische Methoden für die Schreibung der 48 japanischen Laute lernen. Doch das ist nicht alles. Die Sache wird noch komplizierter, weil man nur Japanisch lesen kann, wenn man Zehntausende von verschiedenen Kombinationen, bestehend aus zwei und mehr Schriftzeichen, kennt, denn nur dann weiß man, wie sie in den verschiedenen Zusammenhängen richtig ausgesprochen werden.
Das Schreiben der chinesischen Schrift, die über die Aussprache nichts aussagt, ist eine komplizierte Kunst. Sie ist aber für die Menschheit von großem Wert, denn dank der chinesischen Schrift ist es rund 800 Millionen Personen, die unterschiedliche chinesische Dialekte sprechen, möglich, einander zu verstehen.
[Fußnoten]
a Amtlich wird diese Sprache Kuoyu (Landessprache) genannt, allgemein ist sie aber als Mandarin bekannt, weil sie sich aus der Sprache der Mandarine entwickelt hat. Die Sprache wird außerdem auch als Hochchinesisch, Nordchinesisch und Dialekt von Peking bezeichnet.
b Durch die Ziffer „1“ wird der Ton angegeben. Der Mandarinendialekt hat vier Töne. Weitere Einzelheiten über die chinesische Sprache und Schrift findet der Leser in dem Artikel „Eine Sprache, die vollständig anders ist“ in der Zeitschrift Erwachet! vom 8. August 1975, S. 16—19.
[Bild auf Seite 16]
Lin (Familienname)