Den Vögeln abgesehen
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Japan
„Ich möchte wie ein Vogel fliegen, am blauen Himmel schweben und die weißen Wolken berühren.“ Ist das ein Wunschbild längst vergangener Zeiten? Vielleicht. Der Traum vom Fliegen geht bis auf den alten griechischen Mythos über den Erfinder Dädalus zurück. Aus Federn und Wachs verfertigte er Flügel, mit denen er und sein Sohn Ikarus wie Vögel fliegen konnten. Da aber die Sonnenwärme das Wachs schmelzen ließ, stürzte Ikarus ab.
ALLERDINGS erkannte man 1680, daß es unmöglich ist, auf diese Weise zu fliegen. Durch die Berechnungen des italienischen Mathematikers Giovanni A. Borelli wurde bewiesen, daß der Mensch niemals vom Boden abheben könnte, wenn er auf die Kraft in seinen Armen angewiesen wäre und wie ein Vogel mit Flügeln schlagen würde.
Erst 1783 waren Menschen in der Lage, den festen Boden aus der Vogelperspektive zu betrachten. Zwei Franzosen segelten in einem Leinwandballon über Paris. Jahre später führten Experimente mit Drachen und Gleitern zum Wunder des motorisierten Fluges.
Düsenflugzeuge, die fast 500 Passagiere oder 90 Tonnen Fracht aufnehmen und mit einer Geschwindigkeit von 950 Stundenkilometern fliegen, sind heute nichts Ungewöhnliches mehr. Man hat schon Geschwindigkeitsrekorde mit mehr als 3 200 Stundenkilometern und Strecken von über 16 000 Kilometern nonstop geflogen. Viele verfolgen diese Fortschritte in der Luftfahrt mit Bewunderung, doch einige empfinden viel Freude und Genugtuung, wenn sie langsam und geräuschlos in geringer Höhe (600 bis 900 Meter) fliegen. Das ist die Welt des Gleit- und Segelflugs.
Einsatz von Segelflugzeugen
Segelflugzeuge verwendete man anfangs für Flugexperimente und setzt sie seither für Schulung, Transport, Militär, Forschung und Sport ein. Der Segelflugsport ist sehr beliebt in den USA, in Deutschland und in Australien. In diesen Ländern hat man auch Segelflugrekorde aufgestellt, zum Beispiel 1961 in den USA mit 14 102 Metern den Höhenflugweltrekord; in Deutschland erreichte man mit 1 460,8 Kilometern den längsten Nonstop-Streckenflug; die größte auf einer 500 Kilometer langen Dreiecksstrecke erzielte Geschwindigkeit beträgt 140,7 Stundenkilometer (Australien).
In Japan gibt es fast 3 000 Segelflugenthusiasten, von denen jeder zweite Student ist. Laut eines Zeitungsberichts von 1975 arbeiteten zwei erfahrene Piloten darauf hin, mit einem hochentwickelten Segelflugzeug vom 3 776 Meter hohen Gipfel des Fudschijama zu einem Transpazifikflug zu starten. Manche glauben, daß ein Transpazifikflug theoretisch möglich wäre, wenn man genügend Sauerstoff und Proviant mitnehmen und eine angemessene Höhe erreichen könnte. Allerdings hat man die Pläne für einen solchen Flug aufgegeben. Da die gesetzlichen Bestimmungen eine maximale Flughöhe von annähernd 450 Metern festlegen, können hier keine Weltrekorde geflogen werden. Trotzdem werden auf dem Segelflugplatz von Kambara nach wie vor Flüge gestartet, sei es zu Schulungs- oder Vergnügungszwecken. Die kleine Fischerstadt liegt zwischen den Bergen und dem Meer in der Nähe des Fudschijama. Möchtest du gern von deinem Wohnzimmersessel aus dem Segelflugplatz einen Besuch abstatten, um zu sehen, inwieweit das Segelflugzeug dem Menschen immer noch die beste Möglichkeit gibt, den Vogelflug nachzuahmen?
Besuch des Segelflugplatzes
Beim ersten Blick in den Hangar fallen uns zwei einmotorige Schleppflugzeuge auf, mit denen die Segelflugzeuge zum Fliegen gebracht werden, und zwei Motorsegler mit einem kleinen 25-PS-Motor, den man abstellen kann, sobald man genügend Höhe erreicht hat. Wo sind die andern Segelflugzeuge? Wir recken den Hals, während die Tore zur zweiten Etage geöffnet werden und wir eins neben dem andern hängen sehen. Da sie nur 250 bis 350 Kilogramm wiegen, können sie mit Motorwinden hochgehoben und herabgelassen werden. Zur Startbahn werden sie von Hand geschoben. Ist man den Lärm und das Treiben auf einem modernen Großstadtflughafen gewohnt, dann erscheint einem dieser Segelflugplatz vielleicht nicht zu eindrucksvoll. Die schmale Startbahn besteht aus Kies, und den Funkturm hat man einfach auf das Dach eines Lieferwagens montiert, der im Bedarfsfall zur Startbahn gefahren wird. Doch das Erlebnis, sich zu den Vögeln in der Luft zu gesellen, ist ebensoschön, wenn nicht schöner, da der Segelflug ohne Lärmentwicklung vor sich geht.
Wenn wir uns so umsehen, entdecken wir Segelflugzeuge verschiedenster Formen. Einige wirken ziemlich plump, wogegen andere schlank und stromlinienförmig sind. Wie lassen sich die Unterschiede erklären? Die Segelflugzeuge mit der schwerfälligen Form sind eigentlich nur Gleitflugzeuge. Die Flügel haben größere Flächen, doch die Gleiter können nach dem Ausklinken des Schleppseils wegen ihrer Form und ihres Gewichts nur zurück zum Boden gleiten. Die schlanken Segelflugzeuge dagegen sind fürs Segeln konstruiert. Sie können also an Höhe gewinnen, indem sie aufwärts strömende warme Luft (Thermik) und auch Winde nutzen, die an Berghängen nach oben gelenkt werden. Segelflugzeuge dieser Art können über große Entfernungen fliegen und stundenlang in der Luft bleiben.
Wodurch ist es diesen von Menschen hergestellten Vögeln möglich, „am Himmel zu schweben“? Die Erklärung liegt in den Grundsätzen des Fliegens.
Segelflugzeuge und Grundsätze des Fliegens
An einem Flugzeug sind während des Fluges vier Kräfte wirksam: 1. Schwerkraft (die nach unten gerichtete Naturkraft, die das Gewicht hervorruft), 2. Auftrieb (wird durch die Formgebung der Flügel oder durch aufwärts strömende Luft bewirkt und ist der Schwerkraft entgegengesetzt), 3. Luftwiderstand (verzögert die Vorwärtsbewegung) und 4. Vortrieb (nach vorn gerichtete Kraft, die den Luftwiderstand überwindet und das Flugzeug vorwärts bewegt). Damit ein Segelflugzeug vom Boden abhebt, muß der erste Vortrieb durch einen Schleppstart vermittelt werden. Man kann es mit einem Auto oder einem Motorflugzeug anschleppen oder mit einer Motorwinde, die am Ende der Startbahn montiert ist. Sobald das Schleppseil ausgeklinkt wird, hält sich das Segelflugzeug durch den Auftrieb und durch die aerodynamische Form, die der Schwerkraft und dem Luftwiderstand entgegenwirken, in der Luft. Der Auftrieb wird 1. durch die gewölbte Oberfläche der Flügel und 2. durch aufwärtsgerichtete Luftströmungen erzeugt.
Dank einer näheren Betrachtung der Formgebung von Vogelflügeln hat der Mensch erkannt, daß Auftrieb durch eine gewölbte Form erzeugt werden kann. Wie ist denn ein Flügel gestaltet? Die Flügelunterseite ist eben, und die Oberseite hat eine Wölbung, die sich der Flügelhinterkante zu verjüngt. Bei einem Segelflugzeug herrscht in Ruhestellung auf der Flügeloberseite der gleiche Druck wie auf der Unterseite. Bewegt es sich jedoch vorwärts, dann bleibt nur der Druck auf der Unterseite unverändert. Jetzt muß die Luft, die über die gewölbte Oberseite strömt, in der gleichen Zeit eine größere Strecke zurücklegen als die Luft, die an der Unterseite vorbeistreicht. Folglich strömt die Luft über dem Flügel schneller und wird dünner, so daß der Druck abfällt. Da unter hohem Druck stehende Luft immer bestrebt ist, niedrigeren Druck auszugleichen, versucht die Luft unter dem Flügel, zu dem Bereich niedrigen Drucks über dem Flügel zu strömen. Allerdings steht dabei der Flügel im Weg, so daß letzten Endes eine Auftriebskraft entsteht, die gegen die Unterseite des Flügels drückt.
Außerdem gibt es noch die natürlichen Aufwinde, auf denen das Segelflugzeug „reiten“ kann. Ein Flugzeug von leichter und gut durchdachter Bauart hat nicht viel Aufwind nötig, um sich in der Luft zu halten. Winde, die an Hügeln oder Bergen nach oben gelenkt werden, geben Auftrieb, ebenso die Luftwelle, die auf der Windschattenseite hoher Berge entsteht. Wenn schwere Kaltluftmassen in eine Warmluftzone geraten, wird die wärmere Luft nach oben verdrängt und kann für den Auftrieb sorgen. Zudem nehmen bestimmte Bodenflächen wie gepflügte Felder oder der Asphalt und Beton der Städte Sonnenwärme auf und bewirken, daß Warmluft aufsteigt. Der Pilot hält nach Vögeln, die segeln, oder nach Haufenwolken Ausschau, da sie oft Anzeichen für Thermik sind. Er gewinnt an Höhe, indem er in der Thermik kreist. Dann „steigt er aus“ und sucht in einer anderen Richtung nach einem Aufwind.
Steuerung des Segelflugzeugs
Wodurch ist es möglich, das Segelflugzeug zu lenken? Wie kann es der Pilot unter Kontrolle halten? Ein Segelflugzeug führt im wesentlichen dreierlei Bewegungen aus: 1. Neigen (Bewegung um die Querachse zwischen den beiden Flügelspitzen), 2. Rollen (Bewegung um die Längsachse von Rumpfnase bis -heck) und 3. Schieben (Bewegung um die Hochachse durch das Zentrum des Rumpfes). Das Neigen wird durch das Höhenruder an der Hinterkante des Höhenleitwerks (waagrechter Teil des Leitwerks am Rumpfende) gesteuert. Rollbewegungen werden durch die Querruder kontrolliert, die an der Hinterkante der Flügel angebracht sind. Soll das Flugzeug nach links rollen, wird das linke Querruder nach oben und das rechte Querruder nach unten bewegt. Beim Rollen nach rechts geht man umgekehrt vor. Schiebebewegungen nach links oder rechts steuert das Seitenruder an der Hinterkante des Seitenleitwerks (senkrechter Teil des Leitwerks).
Vielleicht klingt das kompliziert, aber ein Blick in das Cockpit eines Segelflugzeugs zeigt uns, daß die Bedienung relativ einfach ist. Mit dem Steuerknüppel am Boden kontrolliert man das Neigen und Rollen. Drücke ihn nach vorn, und die Nase senkt sich. Ziehe ihn nach hinten, und das Flugzeug beginnt zu steigen. Bewege ihn nach links, und der linke Flügel neigt sich nach unten. Wenn du den Knüppel nach rechts drückst, wirken die Querruder genau entgegengesetzt, und das Flugzeug beginnt nach rechts zu rollen. Beim Betätigen der beiden Fußpedale schlägt das Seitenruder aus. Tritt man auf das linke Pedal, bewegt sich der „Vogel“ nach links; nach rechts schiebt er, wenn du auf das rechte Pedal drückst. Eine Links- oder Rechtskurve wird ausgeführt, indem du Rollbewegung und Ausschlag des Seitenruders miteinander kombinierst, je nach der Richtung, die du einschlagen möchtest.
Im Cockpit entdecken wir auch einen Knopf zum Ausklinken des Schleppseils und einen Hebel für Landeklappen und Spoiler. Die Landeklappen sind an der Tragflächenhinterkante dicht am Rumpf angebracht und werden nach unten ausgefahren, hauptsächlich um beim Landen die Geschwindigkeit zu verringern. Diesem Zweck dienen die Spoiler auch, doch sie sind in der Mitte der Flügeloberfläche angebracht und klappen nach oben auf. Es gibt relativ wenig Instrumente — einen Fahrtmesser, einen Kompaß, einen Höhenmesser und ein Variometer (ein Gerät, das die Sink- oder Steiggeschwindigkeit anzeigt). Die meisten Segelflugzeuge haben ein kleines Funkgerät.
Wie sicher ist das Segelfliegen?
In den letzten Jahren hat die Begeisterung für Segelflugzeuge, vor allem für die relativ preiswerten Hängegleiter, zunehmende Ausmaße erreicht. Einige der Segelflieger, mit denen wir uns unterhielten, wiesen gleich darauf hin, welcher Unterschied zwischen Segelflugzeugen und Hängegleitern besteht. Ein Pilot mit über 30 Jahren Erfahrung bemerkte, daß er die Hängegleiter wegen der damit verbundenen Gefahr nicht empfehlen könne. Wie er erklärte, ist es schwierig, das Fluggerät wieder unter Kontrolle zu bekommen, nachdem man sie einmal verloren hat, weil es zuwenig Flugstabilität hat und durch die Körperbewegung des Fliegers gesteuert wird. Plötzlich auftretende Windstöße sowie Unfähigkeit oder Unerfahrenheit des Fliegers wirken sich also auf den Hängegleiter ungünstig aus. Zweifellos werden deshalb bei Hängegleiterunfällen immer wieder Todesopfer zu beklagen sein.
Wie steht es mit den Segelflugzeugen? Wie sicher sind sie? Die Sicherheit von Segelflugzeugen ergibt sich aus ihrer Bauart und Steuerbarkeit. Bei einem kostenlosen eintägigen Segelflugkurs, der von der Shizuoka Prefecture Aeronautic Association (Japan) veranstaltet wurde, erklärte man uns, daß wir, sollten wir einmal die Kontrolle über das Flugzeug verlieren, am besten den Steuerknüppel auslassen sollten, denn das Flugzeug würde sich schon von selbst wieder fangen, weil es ja dazu konstruiert wäre. Der Präsident der Gesellschaft erwähnte, daß er sich beim Segelfliegen sicherer fühlt als bei der Fahrt zum Segelflugplatz mit seinem Auto. Manche halten Segelflugzeuge für sicherer als Motorflugzeuge, weil sie nicht von einem Motor abhängig sind, der versagen kann. Wenn sich allerdings der Pilot mit seinem Segelflugzeug zu weit vom Flugplatz entfernt und keine Aufwinde mehr findet, muß er nach einer offenen Ebene Ausschau halten, auf der er landen kann. Nach einer Faustregel kann der Pilot auf dem Flugplatz noch landen, wenn er innerhalb des Bereichs der Gleitzahl 1:30 liegt. Die Gleitzahl ist das Verhältnis zwischen der Höhe, die das Flugzeug verliert, und der Strecke, die es dabei zurücklegt. Viele Segelflugzeuge kommen bei einem Meter Höhenverlust 30 Meter vorwärts. Einige Segelflugzeuge haben eine Gleitzahl, die sogar besser als 1:50 ist, wogegen sie bei manchen Motorflugzeugen 1:10 beträgt.
Segelflieger müssen, bevor sie allein fliegen dürfen, geschult werden und eine Flugerlaubnis erwerben. Dazu sind annähernd 50 Flugstunden nötig. Ein gutes Urteilsvermögen trägt ebenfalls zur Sicherheit des Segelflugs bei. Während unseres Besuchs auf dem Flugplatz kam ein Taifun auf, und als die Windstärke merklich zunahm, wurde für den Rest des Tages der Flugbetrieb abgebrochen. Obwohl das Segelfliegen relativ sicher ist, gibt es wie bei jeder Art des Fliegens natürlich auch Risiken. Die Möglichkeit, daß ein Schaden am Flugzeug, ein unvorhergesehener Umstand oder menschliches Versagen eintritt, ist immer gegeben. Man muß eben diese Faktoren einkalkulieren, wenn man mit dem Segelfliegen liebäugelt.
Rückblick auf unseren Besuch
Es hat uns Spaß gemacht, den Vögeln aus Glasfiber und Metall zuzusehen, deren Schatten eindrucksvoll über den Boden huschten. Interessant ist es auch, festzustellen, daß der Mensch selbst nach 70 Jahren Fortschritt in der Luftfahrt noch am einfachen antriebslosen Flug der Pionierzeit Gefallen hat.
Zu sehen, wie der Mensch von den Vögeln lernen kann, lehrt uns auch, demütig zu sein. Die Formgebung der Tragflächen eines Segelflugzeugs ist weiter nichts als eine Nachahmung der charakteristischen Form großer Raubvogelschwingen. Während wir so beobachten, wie ein Segelflugzeug und fünf Bussarde in der gleichen Thermik nach oben kreisen, haben wir zweifellos das Empfinden, daß der Mensch bei der Nachahmung des Vogelflugs noch viel dazulernen muß.
[Diagramm auf Seite 19]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
ROLLEN
Durch Querruder gesteuert
SCHIEBEN
Durch Seitenruder gesteuert
NEIGEN
Durch Höhenruder gesteuert
Seitenruder
Landeklappe
Höhenruder
Spoiler
Querruder
COCKPIT
Instrumente