Verkehrsprobleme auf dem Ärmelkanal
VOM „AWAKE!“-KORRESPONDENTEN IN GROSSBRITANNIEN
LANGSAM kriecht im Morgennebel eine Autoschlange über die Landebrücke zur Anlegestelle. Die Reisenden möchten mit der Fähre die Straße von Dover überqueren, um nach Frankreich zu gelangen.
Es ist ein schönes Erlebnis, an Deck zu stehen und zu beobachten, wie die weißen Felsen von Dover allmählich in der Ferne verschwinden. Hier und da tauchen Nebelschwaden auf, aber die See scheint ruhig und unbefahren zu sein. Plötzlich taucht ein Supertanker aus einer Nebelschwade auf, die gerade groß genug war, um ihn zu verdecken. Offensichtlich ist unser Schiff nicht das einzige hier, aber dank der Radaranlage konnte unser Kapitän bereits ein Ausweichmanöver einleiten.
Gefahren im dichten Verkehr
In diesem 34 Kilometer breiten Engpaß am Ostende des Ärmelkanals verkehren im Durchschnitt täglich 300 Schiffe. Die großen „Verkehrsteilnehmer“ sind Supertanker, Frachter und Kriegsschiffe, deren Fahrtrouten ständig von Fischerbooten und Privatjachten gekreuzt werden.
Vor einigen Jahren sammelte einmal eine britische Nachrichtenagentur Radaraufzeichnungen von einem einzigen Tag im Schiffsverkehr der Straße von Dover. Die Aufnahmen wurden zu einem Fernsehfilm verarbeitet, der den gesamten Verkehrsstrom in weniger als einer Minute abrollen ließ. Das vermittelte den Eindruck eines Schwarmes aufgescheuchter Bienen, die panikartig ohne Ziel umherflitzten. Zugegeben, die Situation hat sich inzwischen gebessert. Tanker, die in Richtung Süden fahren, verkehren jetzt auf der englischen Seite, während sich der Verkehr in Richtung Norden auf der französischen Seite abwickelt. Dennoch bleiben die Gefahren bestehen, solange sich die Wege der Schiffe in planloser Weise kreuzen.
Im Ärmelkanal ereignen sich immer noch schwere Schiffsunfälle mit großen Ölverlusten und den tragischen Nachwirkungen für das Meeresleben und die Küste. Häufig können Zusammenstöße gerade noch im letzten Moment durch das Geschick und die Wachsamkeit der Schiffsführer abgewendet werden.
Im Februar 1979 ereignete sich ein großes Unglück, das auch Menschenleben forderte. Eine Fähre stieß mit einem großen Tanker zusammen. Die Zahl der Todesopfer wurde als verhältnismäßig niedrig angesehen. Aber der Vorfall wird allen immer unvergeßlich bleiben, die ständig befürchten, daß beim nächsten Zusammenstoß vielleicht Tausende von Passagieren einer vollbesetzten Fähre ums Leben kommen.
Zugegeben, es gibt eine verhältnismäßig sichere Alternative: der Luftweg. Er hat sich als äußerst sicher erwiesen. Doch nicht jeder kann sich die hohen Flugpreise leisten; und viele andere würden auf keinen Fall fliegen, selbst wenn es kostenlos wäre.
Das Tunnelprojekt
1964 beschlossen nach langen Verhandlungen die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs, gemeinsam einen Tunnel zu bauen. 1973 wurde die erste Phase mit einem Kostenpaket von 4,85 Millionen Pfund abgeschlossen. Doch bei der zweiten Phase traten Schwierigkeiten auf. 1974 wurde beim britischen Parlament das Tunnelprojekt wegen einer Wahl verschoben, und im darauffolgenden Jahr wurde das gesamte Projekt gestrichen.
Es tat sich nichts mehr, bis 1978 die britische Eisenbahngesellschaft eine andere Lösung ins Gespräch brachte. Sie schlug vor, den Tunnel mit der Unterstützung von Privatunternehmen vollenden zu lassen und dann darin nur ein einziges Gleis zu verlegen, um eine Verbindung London-Paris-Brüssel zu schaffen. Der Vorschlag sagte der Regierung zu und wurde im wesentlichen angenommen. Das Geld würde von privaten Geldinstituten der EG-Länder aufgebracht werden.
Eine Kanalbrücke?
Der Ingenieur Ronald Taylor schlägt den Bau einer 40 Kilometer langen röhrenförmigen Stahlbrücke vor, die die See zwischen Hythe an der Küste von Kent und Cap-Gris-Nez in Frankreich überspannen soll. Die Brücke würde sich 76 Meter über dem Fahrwasser erheben, so daß selbst die größten Tanker ohne Schwierigkeiten unter den 24 Brückenbogen passieren könnten. Sie wäre für Eisenbahn, Kraftfahrzeug und Fußgängerverkehr ausgelegt, und in bestimmten Abständen würden Erfrischungsstationen eingerichtet werden.
Doch die Verantwortlichen haben noch einige Bedenken: Wäre ein Tunnel absolut sicher vor einem Feuerausbruch, der ihn in einen 51 Kilometer langen Sarg verwandeln könnte? Wäre der Verkehr auf einer Brücke völlig sicher vor den heftigen Winden, die unvermittelt über die Straße von Dover von beiden Enden fegen? Würden die Brückenpfeiler dem Aufprall eines Supertankers (bei dichtem Nebel) standhalten?
Es könnte sein, daß eines Tages jemand ein kalkulierbares Risiko eingehen und die Initiative ergreifen wird. Bis dahin ist auf dem überfülltesten Wasserweg der Welt immer noch große Vorsicht geboten.