In meinem jüdischen Erbe fehlte etwas
„JUDEN — geht in eure Synagoge zurück!“ Diese Aufschrift prangte an unseren Spinden, als wir in den Umkleideraum gingen. Während des Basketballspiels gegen eine „christliche“ Mannschaft wurden wir wiederholt getreten, abgedrängt und zu Fall gebracht. Wir wollten nichts weiter als Ball spielen. Doch unsere jüdische Mannschaft wurde zur Zielscheibe von religiösem Fanatismus.
Damals war ich etwa 12 Jahre alt. Ich wußte schon vorher von der Unterdrückung, die meine Eltern und andere Juden in Europa unter der Herrschaft des Zaren Nikolaus II. erfahren hatten. Die Kosaken, die Streitkräfte des Zaren, durchstreiften Städte und Dörfer, um Juden zu plündern, zu vergewaltigen und zu ermorden. Meine Eltern entgingen der Vernichtung, indem sie kurz nach der Jahrhundertwende nach Amerika auswanderten.
Dann hörte ich von dem Massaker an Millionen von Juden während des Dritten Reiches in Deutschland. All das hinterließ bei mir als Kind einen tiefen Eindruck. Oft fragte ich mich: „Warum läßt Gott zu, daß einer Minderheit eine solche Ungerechtigkeit widerfährt?“ Schließlich begann ich Zweifel an der Person Gottes zu hegen. Hat er Gefühle, oder ist er eine abstrakte, unpersönliche Kraft? Billigt er Kriege? Ist ihm die Unmoral, die Gemeinheit und Unehrlichkeit in der Welt zuwider? Das waren Fragen, die mich bewegten.
Obwohl ich mich von den Traditionen und Symbolen des Judaismus angezogen fühlte, beantworteten sie nicht meine Fragen. Es schien eine Lücke in meinem Glauben zu bestehen. In meinem jüdischen Erbe fehlte etwas.
Im Jahre 1956 schloß ich mein Studium an der Universität von Boston ab. Statt irgendeine einheitliche Überzeugung gewonnen zu haben, hatte meine Unsicherheit noch weiter zugenommen durch Fächer, wie zum Beispiel Anthropologie (das Studium der Evolution).
In dieser Zeit fand ich eine Frau, die zu mir hielt und meine beruflichen Bestrebungen unterstützte. Ihre orthodoxe jüdische Erziehung bestärkte mich in meinem Wunsch, zur Synagoge zu gehen. Doch zufolge eines Vorkommnisses während der Festlichkeiten des Rosch ha Schana gaben wir beide den Synagogenbesuch auf.
Wir waren in die Synagoge gegangen, doch da wir uns keine Karten für Sitzplätze kaufen konnten, beschlossen wir, den Gottesdienst im Stehen zu verfolgen. Kaum hatten wir einige Minuten gestanden, kam ein Ordner auf uns zu und sagte uns, daß wir Karten kaufen oder wieder gehen müßten.
„Nun, wenn das die einzige Wahl ist, dann gehen wir“, erwiderte ich. Das taten wir auch. Wie enttäuscht wir darüber waren, daß es im angeblichen Tempel Gottes Diskriminierung gab! Nichtsdestoweniger waren wir stolz auf unser jüdisches Erbe und hielten weiterhin an den Grundlehren des Judaismus fest. Doch es fehlte immer noch etwas — die Fragen, die mich innerlich beunruhigten, waren noch unbeantwortet.
Ein Wendepunkt
Unser erstes Kind war ein Junge. Die typisch jüdische Familie betrachtet das als einen besonderen Segen. Welch ein Schock, als durch einen Unfall sein Leben in Gefahr schwebte! In den Stunden, in denen wir mit einem schlechten Bericht über seinen Zustand rechneten, standen wir Ängste durch. Über meine Lippen kam ein inbrünstiges Gebet an einen unbekannten Gott — wenn unser Sohn überleben würde, dann wüßte ich, daß Gott existiert und er meine Bitte erhört hatte. Unser Sohn wurde wieder gesund.
Gleich am nächsten Morgen sprach ein Zeuge Jehovas in meinem Geschäft vor. Kurze Zeit später begann er, mit meiner Frau und mir die Hebräischen Schriften anhand des massoretischen Textes zu studieren.
Ich habe noch lebhaft einen Vorfall in Erinnerung, der sich eines Abends während unseres Bibelstudiums mit dem Zeugen Jehovas zutrug. Er wies uns darauf hin, daß der Mensch eine direkte Schöpfung Gottes ist (1. Mose 2:7). „Doch der Mensch ist das Endergebnis einer Kette evolutionärer Ereignisse“, erwiderte ich, „und es gibt genügend Beweise dafür, einschließlich der entdeckten Formen des primitiven Menschen.“ Beim Durchblättern meines Universitätslehrbuches Cultural Anthropology von Melville Herskovits fand ich auf Seite 15 eine Reihe von Fotografien, die die Rekonstruktion einiger ausgegrabener Knochen zeigte. „Ist das nicht ein überzeugender Beweis dafür, daß der ,Pithecanthropus erectus‘ eines der fehlenden Bindeglieder ist?“ sagte ich beharrlich.
Doch später, als ich das Buch noch einmal durchsah, bemerkte ich, was auf der vorhergehenden Seite über die Rekonstruktion stand. „Kein anderer Zweig der Anthropologie erfordert eine noch größere wissenschaftliche Vorstellungskraft.“ Ich war verblüfft. Immer wieder las ich es. Beweise? Keineswegs! Phantasie! Theorien von Menschen!
Bald mußten meine Bemühungen, meine Glaubensansichten mit Hilfe von Universitätslehrbüchern zu verteidigen, den überzeugenden Argumenten weichen, die aus der Bibel und der biblischen Literatur stammten, die wir studierten. Besonders überzeugt hat mich die Broschüre Evolution gegen die Neue Welt. Mich beeindruckte, daß die Argumente zugunsten der Schöpfung und eines allmächtigen Schöpfers mit echter Wissenschaft im Einklang sind.
Jesus akzeptieren
Der Name „Jesus“ wurde in unserem Elternhaus nie erwähnt, es sei denn in geringschätziger Weise. Ebenso verhielt es sich in der Familie meiner Frau. Bei einer Gelegenheit mußte sie sogar ihren Mund mit Seife auswaschen, nur weil sie den Namen „Jesus“ ausgesprochen hatte.
„Der Messias ist noch nicht gekommen“, hatten mich meine religiösen Unterweiser gelehrt. „Gott hat keinen Sohn“, sagten meine jüdischen Freunde. „Jesus war ein uneheliches Kind“ war die allgemeine Auffassung meiner Verwandten.
Als wir zum ersten Mal die Prophezeiung über den Messias in Daniel 9:24-27 besprachen, wandte ich ein: „Wie konnte sich das auf Jesus Christus beziehen? Der Messias ist noch nicht gekommen, und der, den man Jesus nannte, ist bereits gekommen und wieder gegangen.“
Doch als wir diese und andere Prophezeiungen studierten, wurde eine Tatsache nach der anderen enthüllt. Eine Prophezeiung in Daniel wies auf das Jahr 29 u. Z. als Ankunft des Messias hin. Genaue Einzelheiten über ihn sind im 53. Kapitel Jesajas aufgeführt. Und die Prophezeiung in 1. Mose 49:10 gibt sogar an, aus welchem Stamm er kommen würde. „Der Messias muß bereits gekommen sein“, folgerte ich. „Wenn er nämlich erst noch kommen würde, könnte man ihn gar nicht identifizieren, da die Geschlechtsregister nicht mehr existieren.“
Daß Gott wirklich einen Sohn hat, war eine überraschende Offenbarung für uns, leuchtete uns aber als unleugbare Tatsache ein, als wir in unseren Hebräischen Schriften in Sprüche 30:4 lasen: „Wer hat all die Enden der Erde aufgerichtet? Was ist sein Name, und was ist der Name seines Sohnes, wenn du es weißt?“ (The Holy Scriptures, Jewish Publication Society of America). Wir erfuhren, daß seine Geburt durch eine Jungfrau legitim war und Gottes Willen entsprach, wie es in Jesaja 7:14 und 9:6, 7 vorausgesagt worden war.
Demzufolge wurden wir durch unser Studium der Hebräischen Schriften davon überzeugt, daß Jesus der Messias oder Christus, der Sohn Gottes, ist. Er entspricht der Beschreibung der Heiligen Schrift.
Was in meinem Erbe fehlte
Im weiteren Verlauf des Studiums wurden die Fragen, die mich schon seit langem bewegten, nach und nach beantwortet. Ich fand das, was in meinem jüdischen Erbe gefehlt hatte.
„Wie steht es mit Kriegen?“ fragte ich den Zeugen. „Sollten nicht alle guten Bürger ihr Land verteidigen?“ Ich stellte diese Fragen nicht, weil ich Kriege für richtig hielt, sondern weil ich wissen wollte, ob Gott sie billige.
„In Kriegszeiten“, antwortete er, „werden Katholiken von Katholiken getötet, Protestanten von Protestanten und Juden von Juden. Wie könnte Gott Kriege oder eine Organisation gutheißen, die billigt, daß ihre Mitglieder sich gegenseitig töten?“
Das leuchtete mir ein. Ich fühlte mich erleichtert, als ich hörte, daß Gott an den Kriegen der Nationen keinen Anteil hat. Es stimmte mich glücklich, festzustellen, daß er einen Maßstab für Sittlichkeit, reine Sprache und Ehrlichkeit festgelegt hat, der sich so sehr von dem unterscheidet, was von religiösen und anderen Leuten akzeptiert wird. Nicht nur das Lesen der Bibel überzeugte uns davon; wir sahen auch noch den lebendigen Beweis bei den Zeugen, die wir kennenlernten und mit denen wir Gemeinschaft hatten. Es beglückte mich, zu erfahren, daß Gott einen Vorsatz in bezug auf sein Volk hat und daß ein aktiver Anteil an diesem Vorsatz zu ewigem Leben in einer vollkommenen Umwelt führen kann (Jes. 25:6-9). Ich dachte bei mir: „Wie könnte denn ein solch liebevoller Gott eine abstrakte oder unpersönliche Kraft sein?“
Widerstand von seiten der Angehörigen
Damals wurden wir zur Zielscheibe extremer Opposition von seiten unserer Angehörigen. Wir wurden nicht nur verspottet und verstoßen, sondern man drohte uns auch damit, uns unseren Sohn wegzunehmen. Man brach den Kontakt ab, der zwischen uns und Marvin, meinem jüngeren Bruder, bestand, der sich an unseren biblischen Gesprächen mit den Zeugen beteiligt hatte.
Eine entscheidende Auseinandersetzung kam nach dem Tode meiner Großmutter. Meine Verwandten vereinbarten ein Treffen mit einem der prominentesten jüdischen Geistlichen im Gebiet von Boston. Sie wollten mich demütigen und dadurch meinen Bruder Marvin davon abbringen, mir Gehör zu schenken. Es erwies sich jedoch, daß statt dessen der Rabbi gedemütigt wurde.
Da gerade meine Großmutter gestorben war, fragte ich den Rabbi: „Würden Sie meiner Familie bitte zeigen, wo man in der Bibel eine Stütze für die jüdische Lehre der Unsterblichkeit der Seele findet?“ Er wich meiner Frage aus und äußerte die Vermutung, ich sei verwirrt, weil ich die hebräische Sprache nicht verstehe. „Es wäre viel überzeugender, wenn Sie einfach die Bibel aufschlagen und uns den Beweis für die Unsterblichkeit der Seele zeigen würden“, erwiderte ich. Aber er ging immer noch nicht auf die Frage ein.
Wir kamen auf die Zehn Gebote zu sprechen. Also fragte ich ihn: „Wo findet man in der Bibel die Zehn Gebote?“ Er wußte es nicht. Er sagte zu meinem Cousin etwas in hebräisch, und nach etwa zehn Minuten Nachforschungen in einem Nachschlagewerk sagte ihm mein Cousin in hebräisch, wo sie zu finden seien. Da ich bemerkte, was vor sich ging, fragte ich den Rabbi: „Wenn Sie sich so viel Mühe gegeben haben, um die Zehn Gebote zu finden, warum zeigen Sie uns dann nicht den biblischen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele?“
Als er sich erneut auf den Talmud (das mündliche Gesetz oder die Überlieferung gemäß dem jüdischen Glauben) und andere Schriften berief, um mir Antwort zu geben, betonte ich die Notwendigkeit, die Bibel als die Wahrheit anzuerkennen, und las die Prophezeiung aus Jeremia 31:31-34 vor.
„Wenn Sie die Wahrheit wollen, dann gibt es überall Wahrheit, auch bei Satan, dem Teufel!“ unterbrach mich der Rabbi und schlug mir die Bibel zu, während ich noch meine Finger darin hatte.
„Wenn Sie ein wahrer Hirte der Herde Gottes sind und ich ein streunendes Schaf bin, warum führen Sie mich nicht zur Hürde zurück, indem Sie meine Fragen aus Gottes geschriebenem Wort beantworten?“ erwiderte ich.
Als ich darauf beharrte, verlor er die Fassung und bezeichnete mich als ungebildet. In diesem Moment wandte sich einer meiner Verwandten zu einem anderen und sagte: „Warum beantwortet er nicht einfach seine Fragen?“ Sie waren enttäuscht darüber, daß er nicht imstande war, mir eine verkehrte Ansicht nachzuweisen. Ein solches Verhalten von seiten eines Mannes, der als eine wichtige Stütze meines jüdischen Erbes zu betrachten war, erschien mir völlig widersprüchlich.
Noch mehr Fragen beantwortet
Die Lehrer der jüdischen Religion konnten viele meiner Fragen nicht beantworten. Wenn die Juden Gottes auserwähltes Volk sind und noch unter dem Gesetz Mose stehen, wo ist dann der heilige Tempel von Jerusalem? Wo ist die Bundeslade? Wo ist die aaronische Priesterschaft? Wo sind die Tieropfer? Wo sind die Geschlechtsregister, die die Stammesherkunft angeben? Wenn der Sabbat gehalten werden soll, wo ist dann das 7. Sabbatjahr und das 50. Sabbatjahr oder Jubeljahr? Auf all diese Fragen erhielt ich von jüdischen Geistlichen entweder ausweichende oder keine Antworten.
„Aus meinem Studium der Bibel habe ich die Schlußfolgerung gezogen, daß der Messias bereits gekommen ist“, sagte ich zu einem Rabbiner.
„Das ist unmöglich“, sagte er.
„Nun, wie könnten Sie ihn dann identifizieren, da 1. Mose 49:10 zeigt, daß der Messias aus dem Stamme Juda kommen würde?“ fragte ich.
„Ich bin da im Nachteil“, gestand der Rabbiner. „Meine Schulung hat sich auf den Talmud konzentriert. Um diese Frage mit Ihnen besprechen zu können, müßte ich die Bibel studieren.“
Bei einer anderen Gelegenheit veranlaßte mein Vater einen Rabbiner, bei uns zu Hause anzurufen. „Wenn Sie darauf vorbereitet sind, mir biblisch zu beweisen, daß Jesus nicht der Messias ist, daß der Messias noch kommen muß und daß all die jüdischen Traditionen auf der Bibel beruhen, dann lassen Sie mich auf jeden Fall wissen, wann Sie zu mir kommen möchten, um darüber zu sprechen.“
„Nun, ich werde Sie anrufen“, sagte er. Er rief aber nie an.
Die Zeugen halfen uns, bei unserem Heimbibelstudium viele Nachforschungen anzustellen. Uns wurde bewußt, daß die Hebräischen Schriften in all diesen religiösen Angelegenheiten klare Auskunft geben und den wahren Grund für das Verschwinden des ursprünglichen jüdischen Systems offenbaren.
Das Priestertum und die Regierung, die von Gott ins Dasein gerufen worden und den Israeliten gegeben worden waren, wurden von ihm nur so lange gesegnet, wie diese ihn ehrten und seine Gesetze hielten. Aber durch ihre von Menschen ersonnenen Traditionen machten sie diese Gebote ungültig und unterstützten offenkundig ein ungerechtes System, das im Jahre 70 u. Z. von den Römern zerstört wurde. Die Geschlechtsregister, die die priesterliche Herkunft und die Stammeszugehörigkeit erkennen ließen, wurden mit dem Tempel vernichtet. An dessen Stelle steht heute ein islamisches Heiligtum, der Felsendom.
Doch wie wir lernten, hielt das denjenigen, der die Zeit geschaffen und die Ereignisse gelenkt hat, nicht davon ab, eine neue Vorkehrung ins Dasein zu rufen, durch die er nicht nur eine Nation, sondern Menschen aus jeder Nation segnen würde (1. Mose 22:18). Seit dem ersten Jahrhundert blüht eine von Gott geleitete internationale Organisation. Gott hat durch seinen heiligen Geist dafür gesorgt, daß Menschen aller Arten in seinem Wort, der Bibel, unterwiesen werden (Jes. 54:13). Wie froh wir waren, die Antworten auf unsere Fragen zu erhalten!
Seit jenem Tag im Jahre 1956, als Lorrie und ich der Wahrheit aus Gottes Wort unser Herz und unseren Sinn öffneten, hat unsere Liebe zu demjenigen, der uns gegenüber ein solches Mitgefühl, eine solche Fürsorge bekundet hat, zugenommen. Ja, wir und unsere drei Kinder — Joel, Julie und Mark mit seiner Frau Marjorie — haben glücklicherweise Jehova, den Urheber des Lebens und der Hoffnung, kennengelernt.
Seit ein paar Jahren ist es mir vergönnt, wieder mit meinem Bruder Marvin vereint zu sein, der mir 18 Jahre lang entfremdet war. Ich bin glücklich, sagen zu können, daß er und seine Familie jetzt ebenfalls Zeugen Jehovas geworden sind.
Ja, ich kann wirklich behaupten, daß ich das gefunden habe, was in meinem jüdischen Erbe fehlte — die Anbetung des wahren Gottes, Jehovas. Ich habe auch eine liebevolle Familie gefunden, die in der wahren Anbetung und der engen Gemeinschaft derjenigen vereint ist, die den Gesetzen und Grundsätzen der Heiligen Schrift treu sind. Bei ihnen — Männer und Frauen aus allen Lebensbereichen, junge und alte Menschen — habe ich einen tiefen Respekt vor dem hohen Sittenmaßstab der Bibel, eine saubere und erbauliche Sprache und eine Atmosphäre der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit gefunden. (Eingesandt.)
[Bild auf Seite 17]
Unsere Familie hat das gefunden, was wahres Glück bringt