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  • Ich wäre beinahe ein Terrorist geworden
  • Erwachet! 1982
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Erwachet! 1982
g82 22. 3. S. 5-8

Ich wäre beinahe ein Terrorist geworden

ICH wurde katholisch erzogen. Schon in jungen Jahren hatte ich einen starken Gerechtigkeitssinn, der durch den Geschichtsunterricht in der Schule und durch das, was ich über die nationalsozialistischen Konzentrationslager erfuhr, noch gefördert wurde. Anfang der 60er Jahre war die Zivilcourage ein leitender Gedanke, der den Schülern vermittelt werden sollte. Ich war entschlossen, beim Kampf um eine bessere, eine gerechtere Welt Zivilcourage zu zeigen.

In meiner Lehre als Chemiefacharbeiter hatte ich zum erstenmal Kontakt zu politisch gebundenen Jugendlichen. Durch unsere langen und manchmal hitzigen Diskussionen wurde mir klar, daß ich als Christ keine Waffe in die Hand nehmen durfte.

Zu diesem Zeitpunkt schloß ich mich, damals pazifistisch eingestellt, lose einer Gruppe an, die plante, zur Osterzeit 1966 einen gegen die Atomrüstung gerichteten Demonstrationsmarsch durchzuführen. Auf einem Treffen der Wanderleiter der katholischen Jugend sprach mich ein Bischof auf die von mir getragene Plakette der Atomwaffengegner an und sagte: „Laßt euch doch nicht unterwandern.“ Dies führte dann endgültig zum Bruch mit der katholischen Kirche.

Da der Vietnamkrieg, obwohl er viele Unterstützer hatte, für mich nichts anderes war als das Verbrennen von Frauen und Kindern durch Napalm, mußte ich mich dagegen wenden und dies durch einen Protest manifestieren. Im Jahre 1966 nahm ich deshalb an mehreren Protestmärschen teil.

Dann kam das Jahr 1967. Der damalige amerikanische Vizepräsident Hubert Humphrey sollte am 6. April nach Berlin kommen. Einige Tage vorher versammelten sich ungefähr 40 Personen bei der Kommune I, die eine Protestaktion plante. Gleich am Anfang wurde uns gesagt, daß jeder, der bei irgendwelchen Aktionen anläßlich des Humphrey-Besuches mitmache, mit einer Anzeige wegen Landesfriedensbruchs und Beleidigung einer fremden Staatsmacht zu rechnen habe. Darauf gingen die meisten wieder weg. Ich aber blieb.

Nach der Humphrey-Demonstration ermittelte die Polizei gegen mich. Die Kommune I hatte man vorher verhaftet. Aber das war nur das Vorgeplänkel. Bevor mein Fall zur Verhandlung kam, ereignete sich etwas anderes, was sich als eigentliche Grundlage für die Terroristenszene erwies, die sich später in Berlin entwickelte.

Am Freitag, dem 2. Juni 1967, sollte der Schah von Persien nach Berlin kommen. Wir planten eine Demonstration gegen sein Regime, das wir für brutal hielten. Bis dahin waren wir bei Demonstrationen friedlich gewesen — abgesehen vom Werfen von Knallkörpern und Kartoffeln. Doch bei dieser Demonstration schlugen Angehörige des persischen Geheimdienstes mit Holzlatten und Stangen auf Demonstranten ein. Und ein Demonstrant wurde von der Polizei erschossen. Jetzt war etwas zu diesen Demonstrationen hinzugekommen, womit man in Zukunft rechnen mußte — Gewalttat!

Im Juli ging ich ins Ausland, weil die Polizei wegen der Humphrey-Sache noch gegen mich ermittelte. Man stellte das Ermittlungsverfahren gegen mich ein, worauf ich nach Berlin zurückkehrte. Somit war ich wieder in Berlin, als dort am 19. Februar 1968 der „Vietnam-Kongreß“ stattfand und fast 10 000 Personen gegen den Vietnamkrieg protestierten.

Die Berliner Presse verurteilte diese Demonstrationen scharf. Und während sie gegen uns zu Felde zog, wurde die Lage immer gespannter. Am Donnerstag, dem 11. April, war der Höhepunkt erreicht. Auf dem Kurfürstendamm kam es zu Schießereien, und der Studentenführer Rudi Dutschke wurde von einem Attentäter angeschossen. Das löste in verschiedenen Städten Deutschlands Demonstrationen und zum Teil blutige Unruhen aus. Es gab Hunderte von Verletzten, und in München starben zwei Personen an den Folgen ihrer Verletzungen.

In Berlin wurde für jenen Abend in aller Eile ein Protestmarsch organisiert. In unseren Augen war das Springer-Verlagshaus Sinnbild der Presse und all derer, die gegen uns sprachen. Deshalb marschierten wir zu diesem Hochhaus, das nur wenige Meter von der Berliner Mauer entfernt steht. Während mehrere hundert Polizisten verzweifelt versuchten, die Ordnung aufrechtzuerhalten, schritten 2 000 von uns auf das Gebäude zu. Unter den Polizisten, die an jenem Abend im Einsatz waren, befand sich auch einer namens Jürgen. Damals kannte ich ihn noch nicht, aber wenige Jahre später lernte ich ihn kennen.

Wir, d. h. ich und einige andere von uns, versuchten in das Gebäude einzudringen, aber es gelang uns nicht. Darauf hob ich einen schweren Messingstab auf, der von dem zertrümmerten Hauptportal stammte, und wollte damit einen Polizisten, der mir im Wege stand, niederschlagen. Im letzten Augenblick hielt mich einer der Demonstranten, der Rechtsanwalt Horst Mahler, der mit unserer Sache sympathisierte, zurück. Ich frage mich, wo ich heute wäre, hätte er nicht eingegriffen.

Um Mitternacht begann sich die Menge zu zerstreuen. Was zurückblieb, war ein mit Glasscherben und umgestürzten, ausgebrannten Autos übersätes Schlachtfeld. Und auf diesem Schlachtfeld hatte ich gekämpft. Ich, der Idealist, der am Anfang gegen jede Gewaltanwendung protestiert hatte, hatte jetzt selbst Gewalt angewandt. Was war nur mit mir geschehen?

Ende des Jahres bildeten einige von uns eine lose Vereinigung, die wir „Haschrebellen“ nannten. Diese Bezeichnung war zutreffend, denn viele von uns, die wir von der Protestbewegung erfaßt worden waren, hatten angefangen, Drogen zu nehmen.

Unsere Taktik bestand darin, Haß gegen die Obrigkeit zu schüren und die Leute zu zwingen, sozusagen gegen ihren Willen gewalttätig zu werden. Zum Beispiel nahmen einmal etwa 2 000 Personen an einem Protestmarsch teil, den eine Gruppe Ingenieurstudenten organisiert hatte. Mit nur 20 Mann der „Haschrebellen“ wurde diese Demonstration umfunktioniert. Wir griffen aus der Menge friedlicher Demonstranten die Polizei mit Steinen an; diese begann sich zu wehren, traf aber nicht nur uns, sondern auch die vorher „friedlichen Demonstranten“, die nun ihrerseits anfingen, sich gegen die in ihren Augen „brutale Polizei“ zu wehren.

Um mehr Leute für unsere Sache zu aktivieren, führten wir am Abend des 29. November im Auditorium der Technischen Universität Berlin ein Teach-in durch. Etwa 2 500 Personen waren anwesend. Zuerst wurde eine Rede über die „ehrenwerte Kriminalität“ gehalten. Auch machten wir Musik. Eine unserer Bands, bei der ich mitspielte, wurde Vox Dei (lateinisch für „Gottes Stimme“) genannt. Dieser Name war offensichtlich völlig unzutreffend, denn der Hauptzweck der Band bestand darin, die Zuhörer aufzupeitschen, um sie so für unsere Botschaft empfänglicher zu machen.

Danach spielte ich eine Kassette der „Tupamaros West-Berlin“ vor, in der u. a. zum Mord an Richtern aufgerufen wurde. Einige Jahre später wurden der Berliner Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann und der Generalbundesanwalt Siegfried Buback von Terroristen ermordet.

Aufgepeitscht durch die Musik und die Reden, zog eine große Menschenmenge von der Universität zum Ernst-Reuter-Platz und richtete an den dortigen Geschäftshäusern Zerstörungen an, besonders an dem Gebäude einer Firma, die als Symbol des amerikanischen Kapitalismus angesehen wurde.

Inzwischen hatten sich bei mir persönliche Probleme eingestellt. Ich wäre beinah durch Drogen umgekommen — Kreislaufkollaps. Außerdem litt ich unter einem starken Verfolgungswahn. So getraute ich mich nicht, Sandalen zu tragen, sondern trug nur schwere Stiefel, weil ich dachte, ich könnte mich damit besser verteidigen. Ich ging nie unbewaffnet (allerdings führte ich keine Schußwaffe mit). Meine Gesundheit war durch Drogen völlig zerrüttet, auch war ich von bitterem Haß erfüllt und hatte das Gefühl, mein Leben sei sinnlos. Ich erkannte, daß man im Grunde die Welt nicht ändern kann, auch nicht durch Gewalt, außer man fängt bei sich selbst an.

Im März 1970 sprachen zwei Zeugen Jehovas mit dem Buch Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt an meiner Tür vor. Einer der beiden Männer — er war selbst erst seit einigen Monaten Zeuge Jehovas — besuchte mich wieder und begann ein systematisches Bibelstudium mit mir. Am Anfang studierten viele „Typen“, die bei mir ein und aus gingen, mit — manchmal 15 Personen.

Ich lernte vieles über Gott und seine Vorsätze kennen. Bald besuchte ich regelmäßig die christlichen Zusammenkünfte, und mit zunehmender Erkenntnis nahm ich tiefgreifende Änderungen in meinem Leben vor. Am 23. Mai 1971, etwa ein Jahr nachdem ich den beiden Männern, die an meine Tür gekommen waren, gesagt hatte: „Ich kann mir das ja mal anhören, aber eins sage ich gleich: Ein Zeuge Jehovas werde ich nie!“, symbolisierte ich meine Hingabe an Gott durch die Wassertaufe.

Nun war ich doch ein Zeuge geworden! Und wer war der junge Mann, der sich, erst kurz bevor er an meine Tür kam, hatte taufen lassen und der mir so viel half, von der Drogenabhängigkeit und einem Leben der Gewalttat frei zu werden? Unsere Wege hatten sich schon einmal gekreuzt — in einer Aprilnacht des Jahres 1968. Ja, es war Jürgen! Theoretisch hätte der Polizist, den ich drei Jahre zuvor zusammenschlagen wollte, ebensogut Jürgen sein können.

Durch das Bibelstudium lernte ich sehr viel — z. B., daß es schon im ersten Jahrhundert „Friedenskämpfer“ und „Terroristen“ gab, die glaubten, sie könnten die Welt verändern. Es waren Juden, und ihr Ziel war, sich von Rom unabhängig zu machen. Aber es gelang ihnen nicht. Im Gegenteil, ihre Gewaltakte trugen noch dazu bei, daß das römische Heer im Jahre 70 u. Z. die Stadt Jerusalem vollständig zerstörte.

Die Nachfolger Jesu unterstützten die Befreiungsbewegungen jedoch nicht. Sie waren überzeugt, daß Gott durch sein Königreich eine bessere Welt schaffen würde. Sie kannten den Bibeltext: „Setzt euer Vertrauen nicht auf Edle noch auf den Sohn des Erdenmenschen, bei dem es keine Rettung gibt. ... Glücklich ist der, ... dessen Hoffnung auf Jehova, seinen Gott, gerichtet ist“ (Ps. 146:3-7).

Wo wäre ich heute, wäre Jürgen nicht an meine Tür gekommen und hätte er mir nicht geholfen, diesen Bibeltext zu verstehen oder auch den Text aus 2. Petrus 3:13? Er lautet: „Doch gibt es neue Himmel und eine neue Erde, die wir gemäß seiner [Gottes] Verheißung erwarten, und in diesen wird Gerechtigkeit wohnen.“ Eine wirklich gerechte Welt — das ist auch der Wunsch des erhabenen Schöpfers, und er wird sie bestimmt schaffen.

Viele meiner früheren Genossen haben auf ihre Weise für die Veränderung der Welt weiter gekämpft. Einige Mitglieder der „Kommune I“ und der „Haschrebellen“ bildeten später den Kern der Terrorgruppe „Bewegung 2. Juni“. Aus anderen, ähnlichen Gruppen entstanden Terrororganisationen wie die Rote-Armee-Fraktion. So entwickelten sich friedfertige Demonstranten der 1960er Jahre zu den Bankräubern, Entführern und Mördern der 1970er Jahre.

Ich habe den Kampf ebenfalls fortgesetzt, aber ich kämpfe auf friedliche Weise. Ich kämpfe hart, um den gerechten Forderungen Gottes zu entsprechen und so die Aussicht zu haben, in seiner neuen Ordnung ewig zu leben. Ich kämpfe hart, um auch anderen dazu zu verhelfen, zum Beispiel meiner Frau und meinen beiden kleinen Jungen. Bei diesem Kampf handelt es sich um einen geistigen Kampf, der mich froh und glücklich macht und meinem Leben Sinn und Inhalt gibt. Das schönste aber ist, daß dieser Kampf zu etwas führen kann, was ganz sicher realisiert werden wird — eine wirklich bessere Welt. (Eingesandt.)

„Steh ab vom Zorn und laß den Grimm; erhitze dich nicht, nur um übelzutun. Denn die Übeltäter selbst werden weggetilgt werden, die aber auf Jehova hoffen, sind es, die die Erde besitzen werden“ (Ps. 37:8, 9).

[Herausgestellter Text auf Seite 6]

Unsere Taktik bestand darin, Haß gegen die Obrigkeit zu schüren und die Leute zu zwingen, gewalttätig zu werden.

[Herausgestellter Text auf Seite 7]

Ich erkannte, daß man die Welt nicht ändern kann, auch nicht durch Gewalt.

[Herausgestellter Text auf Seite 8]

Friedfertige Demonstranten der 1960er Jahre entwickelten sich zu den Bankräubern, Entführern und Mördern der 1970er Jahre.

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