Su-Lin, der erste lebende Panda in Amerika
Ein Bericht, wie er von Quentin Young erzählt wurde
Ich fing den ersten lebenden Panda, der im Westen gesehen wurde. Später fand ich jedoch etwas von weitaus größerem Wert.
„EINES Tages“, dachte ich, „werde ich auch so etwas oder sogar etwas noch Besseres tun.“ Mein Bruder war gerade von einer Jagd auf Riesenpandas (Bambusbären) im Innern Chinas zurückgekehrt. Er hatte sich einer Expedition angeschlossen, die von den beiden Söhnen des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, Theodore jr. und Kermit, geleitet wurde. Ich war damals 14 Jahre alt und besuchte eine höhere Schule in China. Mein Bruder und ich sind chinesischer Abstammung, aber er wurde in den Vereinigten Staaten geboren. Später, als ich 20 Jahre alt war und an einer Hochschule in Schanghai studierte, kam mein Bruder wieder nach China. „Ich gehe nach Tibet auf Tierfang“, sagte er. „Möchtest du mit mir kommen?“ Aber sicher! Das war im Jahre 1934.
Da er bei der Roosevelt-Expedition dabeigewesen war, konnte er jetzt seine eigene Expedition organisieren, um für Zoos und Museen seltene Tiere zu fangen. Die Expedition war sehr erfolgreich. Im Jahre 1935 traten wir noch eine Expedition an; wir fingen viele lebende Tiere und versuchten, einen Riesenpanda zu erlegen, jedoch ohne Erfolg.
Mein bereits erfüllter Kindheitstraum, „auch so etwas oder sogar etwas noch Besseres zu tun“, sollte eine zusätzliche, größere Erfüllung haben: der erste zu sein, der ein Tier einer bestimmten Art fängt!
Der Schlüssel zum Erfolg war die Reise von Ruth Harkness nach China. Sie war eine New Yorker Modeschöpferin und die Witwe eines sehr bekannten Tierfängers. Er war der erste, der den Komodowaran von Niederländisch-Ostindien im Südpazifik holte. (Niederländisch-Ostindien heißt heute Indonesien.) Er war zuversichtlich, daß er derjenige sein werde, der den ersten lebenden Riesenpanda von China in den Westen bringen würde. Doch er zog sich in China eine Krankheit zu und starb dort.
Nun traf seine Witwe, Ruth Harkness, in China ein, um das zu vollenden, was ihr Mann begonnen hatte — einen lebenden Panda in den Westen zu bringen. Jeder verspottete sie. „Lassen Sie das doch! Sie wissen ja gar nicht, wo die Pandas leben. Schon andere haben versucht, einen lebenden Panda herauszuholen; keinem ist es gelungen. Wieso bilden Sie sich ein, daß Sie es könnten? Madame, Sie sind verrückt!“
Aber sie war fest entschlossen. Sie sprach im amerikanischen Konsulat vor. Dort sagte man ihr: „Wenn Sie in das Land der Pandas gehen wollen, setzen Sie sich am besten mit den Brüdern Young in Verbindung.“
Am nächsten Tag kam Ruth Harkness zu mir. Bei unserem Gespräch faßten wir einen Plan und begannen mit unseren Vorbereitungen. Anfang September 1936 hatten wir uns getroffen, und am 26. desselben Monats brachen wir auf.
Unsere Reise begann auf dem Jangtsekiang. Wir stiegen mehrmals um, von einem 2 000- bis 3 000-Tonnen-Flußschiff auf ein 150-Tonnen-Schiff mit flachem Rumpf, und schließlich benutzten wir sogar Flöße. Zeitweise, etwa 1 600 km im Landesinnern, wurde das Schiff von Kulis am Ufer gezogen. Der aufsehenerregendste Teil der Flußreise waren die berühmten Jangtse-Schluchten. Felsen ragten über 300 Meter schroff in die Höhe.
Bei Tschungking verließen wir den Jangtsekiang und fuhren mit dem Auto nach Tschengtu. Aber von dort aus ging jeder, außer Ruth, zu Fuß nach Kwanhsien. Ich bestand darauf, daß sie sich von Kulis in einer wha-gar, einer Sänfte, tragen ließ. Kwanhsien war der letzte Stützpunkt; von dort aus begannen wir zu klettern. Wir hatten keine Träger mehr. Jeder mußte gehen. Zwei Tage in Richtung Norden nach Wenchwan — der letzte Ort, wo wir Proviant holen konnten — und dann in einem Bogen nach Westen in das Land der Pandas.
Am zweiten Tag von Wenchwan aus kamen wir nach Tsaopo, einem kleinen Dorf, das nur durch einen schwer begehbaren Fußpfad zu erreichen ist. Das erstaunliche an diesen winzigen Dörfern, die versteckt in den Bergen liegen, ist, daß man dort Grundschulen und eine Realschule vorfindet. Einige der Dorfbewohner von Tsaopo behaupteten sogar, daß die Pandas manchmal direkt ins Klassenzimmer spazieren!
In einer alten Burg in Tsaopo richteten wir unser Hauptquartier ein. Von da aus gingen wir noch eine Tagereise weit nach Westen; ich schlug unser Basislager auf und stellte einige Pandafallen. Dort ließ ich Ruth zurück, drang weiter vor und stieg höher hinauf, zu einer Stelle, wo ich Lager 2 errichtete und weitere Fallen legte. Ruth und ich verständigten uns durch Läufer zwischen den beiden Lagern.
Doch Ruth wollte mehr Abenteuer erleben. Sie wollte zu meinem Lager kommen. Es war kein guter Platz für sie, aber als sie darauf bestand, ging ich hinunter, um sie zu holen. Das war gut so, denn sonst hätte sie das große Ereignis unserer Reise verpaßt.
Die Jäger gingen uns voraus, weil es ein sehr schwieriger Pfad war und Ruth nicht Schritt halten konnte. Ich ging hinter ihr her, um sie zu schieben. Ich hatte Anweisung gegeben, auf keinen Panda zu schießen. Es galt in erster Linie, einen lebendig zu fangen. Erst danach würden wir versuchen, einen Panda zu erlegen, um ihn der chinesischen Regierung zu präsentieren. Aber dieser 82jährige Jäger vor uns entdeckte plötzlich einen Panda und war ganz außer sich. Er begann zu schießen. Der Panda wurde verwundet. Es war ein Weibchen. Es flüchtete, und die Jäger rannten hinterher.
Ich kam an eine Waldlichtung und hörte ein Wimmern wie das eines jungen Hundes. Gespannt ging ich dem Geräusch nach, bis ich vor einem großen hohlen Baum stand. Und dort, auf einem Polster aus Bambusblättern, fand ich es. EIN PANDABABY! Hier war also die Höhle des verwundeten Pandaweibchens. Und dort hatte es das Baby zurückgelassen. Nie hätte ich daran gedacht, ein Baby zu finden. Als ich es aufhob, dachte ich: „Was nützt uns das? Es wiegt gerade ein Pfund. Es ist so jung, daß die Augen noch gar nicht geöffnet und die schwarzen Flecken noch nicht völlig zu erkennen sind. Wir haben keine Möglichkeit, es zu füttern. Es würde nicht überleben.“
Ruth Harkness kam schwer keuchend an und wollte wissen, was es mit der Schießerei auf sich habe. „Haben sie einen Panda getötet?“ Ich antwortete nicht, sondern streckte ihr nur das winzige Fellknäuel entgegen, das ich in der hohlen Hand hielt. „Hier ist das, wofür Sie nach China gekommen sind.“
Zuerst konnte sie es gar nicht begreifen. Schließlich stammelte sie zögernd und ungläubig: „Ein Pandababy?“ Sie war völlig außer Fassung. Sie nahm es, herzte es und flüsterte zärtlich: „Oh, Baby, Baby.“ Sie hielt es ganz eng an sich und war überglücklich. Aber mir kam das albern vor — die Art, wie sie es hielt und wie sie mit ihm redete. „Was nützt es uns?“ entfuhr es mir. „Es wird sterben. Es hat keinen Wert. Gehen wir!“
Ich wollte das Pandaweibchen suchen, das verletzt worden war. Aber Ruth war völlig von dem Kleinen eingenommen. „Ach, vergessen Sie es doch“, sagte sie. „Gehen wir zum Lager zurück.“ Und schon machte sie sich auf den Rückweg. Ich konnte ihr nur folgen, mit dem kleinen Panda in meinem Hemd.
Unten im Basislager wühlte sie in ihren Sachen und zog schließlich eine Flasche mit einem Sauger hervor. Ich war sprachlos. Ich wußte nicht, daß sie so etwas mitgebracht hatte. Aber Ruth hatte gehört, wie ich mich in Schanghai mit jemand über das Problem unterhalten hatte, einen 135 Kilo schweren Riesenpanda aus dem Herzen Chinas zu transportieren. Daher war sie auf die Idee gekommen, sich auf die Pflege eines Babys vorzubereiten. Sie rührte die Milch an, goß sie in die Flasche, setzte den Sauger auf und steckte ihn in das Mäulchen des Babys. Wie gierig es trank!
Das war ein dramatischer Augenblick hoch oben in den Bergen nahe der Grenze nach Tibet. Ein historischer Augenblick, wie sich herausstellen sollte! Ruth herzte das Baby und beobachtete es beim Füttern. Sie nannte es Su-Lin, was „verheißungsvoll und anmutig“ bedeutet.
Bald danach machte sich Ruth Harkness mit Su-Lin auf die Reise in die Vereinigten Staaten. Sie kamen im Dezember 1936 an. Su-Lin wurde sofort gefeiert. Überall, wohin sie kam, blitzten Kameras auf, erschienen Zeitungsartikel und verbreiteten Nachrichtensprecher ihren Ruhm. Ihr Bild schmückte die Packungen der Quaker-Haferflocken. Su-Lin, der erste lebende Riesenpanda, der in den Westen kam!
Unglücklicherweise dauerte ihre Vorstellung nicht sehr lange. Sie blieb mehrere Monate bei Ruth, bis sie dem Brookfield-Zoo in Chicago überreicht wurde. Aber schon im Alter von eineinhalb Jahren starb sie. Heute kann man sie ausgestopft im Field-Museum in Chicago sehen.
Im darauffolgenden Jahr, 1937, kehrte Ruth nach China zurück, und ich machte mich mit ihr auf den Weg, um wieder einen lebenden Panda zu fangen. Su-Lin lebte damals noch, und Ruth wollte für sie einen Partner haben. Ich fand ein zweites Pandaweibchen — achtzehn Kilo schwer. Es wurde Diana genannt, nach dem Mädchen, das später meine erste Frau wurde. Ruth benannte das Pandababy in Mei Mei um.
Jahre vergingen. Krieg mit Japan. Ich trete der chinesischen Armee bei, ziehe mit meiner Familie nach Indonesien und werde von den Japanern inhaftiert. Nach der Kapitulation der Japaner reorganisiere ich die in Indonesien ansässigen Chinesen und arbeite im chinesischen Konsulat. Aber als Indonesien im Jahre 1949 das kommunistische China anerkennt, müssen wir das Konsulat schließen. Ich trete der nationalistischen Partei bei, leite dort einen Zweig der Chinesen in Übersee und bestärke sie in ihrer Loyalität zu Nationalchina (Republik China). Aufgrund dieser Dienste werde ich 1953 ins Hauptbüro der Partei, jetzt auf Taiwan, zurückgerufen. Man vermittelt mir eine besondere akademische Ausbildung und schickt mich zurück nach Indonesien, wo ich 1958 unter der linksgerichteten Regierung wieder im Gefängnis lande.
Nicht lange nach meiner Freilassung starb meine erste Frau an Krebs. Ich zog meine beiden Kinder auf, bis sie verheiratet waren und auf eigenen Füßen standen, und heiratete meine zweite Frau, Swan, eine in Indonesien geborene Chinesin. Wir kehrten zusammen nach Taiwan zurück. Das war im Jahre 1968.
Nun, nach all meinen Diensten, Opfern und Leiden für die Sache, dachte ich, ich würde auf Taiwan einen guten Platz erhalten. Statt dessen wurde mir gesagt: „Sie werden alt, und wir brauchen junge Leute.“
Swan wollte in die Kirche gehen, um zu beten. „Gut“, sagte ich. „Ich bringe dich zur Kirche. Aber ich weiß, was dort los ist.“ Die protestantische Bewegung war in China sehr stark vertreten gewesen. Ich hatte Verbindung mit den Missionaren gehabt, war Anglikaner, Baptist und Lutheraner gewesen — ich hatte es mit allen versucht. Jetzt hatte ich genug davon.
Als wir am nächsten Tag aufbrechen wollten, klopfte jemand an die Tür. Es war eine Engländerin vom Zweigbüro der Zeugen Jehovas in Taipeh. Sie begann Chinesisch zu sprechen zu meiner chinesischen Frau, die kein Chinesisch verstand — nur Indonesisch, Niederländisch und Englisch. Also unterhielten sie sich in Englisch. In unserer Wohnung wurde ein Bibelstudium begonnen. Als meine Frau anfing, die Zusammenkünfte im Königreichssaal zu besuchen, die in Chinesisch abgehalten wurden, mußte ich mit ihr gehen, um für sie zu dolmetschen.
Allmählich erkannte ich, daß diese Religion anders war. Man bat uns nicht um Geld. Die Zeugin Jehovas kam selbst bei starkem Regen zum Studium. Sie kam lange Zeit und meldete nie irgendwelche Wünsche an. Im Laufe der Zeit lernte ich vieles aus der Bibel. Während meine Frau weiterstudierte, hatte ich mein eigenes Studium. Es kam auf ungewöhnliche Weise zustande.
Jim Good, ein Zeuge Jehovas, war Präsident der taiwanischen Tochterfirma des RCA-Konzerns. Er trug die Verantwortung für mehr als 7 000 Arbeitnehmer und war damit Präsident der zweitgrößten ausländischen Firma auf Taiwan und kannte natürlich viele hohe Regierungsbeamte und Minister. Seine Frau Hazel, ebenfalls eine Zeugin, wollte Chinesisch lernen. Ich arbeitete in der Personalabteilung von RCA und gab die Firmenzeitschrift heraus. Hazel brachte ich Chinesisch bei. Und was brachte sie mir bei? Die Wahrheiten der Bibel.
Sie hatte es nicht leicht mit mir. Ich stellte viele schwierige Fragen. Immer, wenn sie sie nicht beantworten konnte, sagte sie: „Ich gebe Ihnen eine Antwort, wenn ich das nächste Mal komme.“ Sie beantwortete alle kniffligen Fragen. Einige davon müssen für sie sehr eigenartig gewesen sein. „Warum erwähnt die Bibel nicht die Chinesen?“ „Warum waren nicht die Chinesen anstelle der Juden das auserwählte Volk?“ „Warum wird in der Offenbarung der Drache so schlecht gemacht?“ Bei den Chinesen gilt er als ein Zeichen von Wohlstand. Du kannst also sehen, daß ich es ihr schwermachte.
Nach einem Jahr des Studiums wurde meine Frau getauft. Das war im Jahre 1970. Mein alternder Bruder, inzwischen von seinem Dienst im amerikanischen Militär pensioniert, bat uns, nach den USA auszuwandern, um unseren Lebensabend mit ihm zu verbringen. Dort wurde ich 1974 getauft. Unterschiede in den Glaubensansichten erschwerten es uns, mit meinem Bruder zusammenzuleben. Meine Frau und ich zogen nach Südkalifornien und sind dort jetzt mit einer Versammlung der Zeugen Jehovas verbunden.
Als ich ein 14jähriger Schüler war und mein Bruder an der Expedition der Brüder Roosevelt teilgenommen hatte, dachte ich: „Eines Tages werde ich auch so etwas oder sogar etwas noch Besseres tun.“ Ich freue mich, daß sich dieser Jugendtraum erfüllt hat. Noch viel mehr freue ich mich über etwas anderes: die Hoffnung, für immer auf einer paradiesischen Erde zu leben, für all die Pflanzen und Tiere zu sorgen und mit Menschen zusammen zu leben, die einander Liebe erweisen und in der Anbetung Jehovas, des Schöpfers des Himmels und der Erde, vereint sind.
Ich bete darum, daß ich durch Jehovas unverdiente Güte auch die Erfüllung dieser wunderbarsten aller Hoffnungen erleben möge.
[Herausgestellter Text auf Seite 13]
„Schon andere haben versucht, einen lebenden Panda herauszuholen; keinem ist es gelungen. Wieso bilden Sie sich ein, daß Sie es könnten?“
[Herausgestellter Text auf Seite 14]
Ich antwortete nicht, sondern streckte ihr nur das winzige Fellknäuel entgegen, das ich in der hohlen Hand hielt. „Hier ist das, wofür Sie nach China gekommen sind.“
[Herausgestellter Text auf Seite 15]
Statt dessen wurde mir gesagt: „Sie werden alt, und wir brauchen junge Leute.“
[Herausgestellter Text auf Seite 16]
Ich stellte viele schwierige Fragen. „Warum waren nicht die Chinesen anstelle der Juden das auserwählte Volk?“ „Warum wird in der Offenbarung der Drache so schlecht gemacht?“ Bei den Chinesen gilt er als ein Zeichen von Wohlstand.
[Karten auf Seite 13]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Tschengtu
Kwanhsien
Wenchwan
Weiku
Mowchow
Lifanting
Lager 1
Tsapai
Tal von Tsapo-go
Quentins Lager
Basislager
[Karte]
China
Schanghai
Nanking
Jangtsekiang
Wuhan
Kingchow
Ichang
Jangtsekiang
Wanhsien
Tschungking
Tschengtu
Mowchow
[Bild auf Seite 14]
Su-Lin in China
[Bild auf Seite 15]
Im Zoo in Chicago