Warum sie die „Wolken kratzen“
KENNST du das höchste Gebäude deiner Stadt? Deines Landes? Der ganzen Welt? Wahrscheinlich ist es ein Wolkenkratzer. Wolkenkratzer gehören heute überall in der Welt zum allgemeinen Erscheinungsbild. An Hunderten von beliebten Erholungsstränden ragen Touristenhotels in den Himmel. Städte wetteifern um die Auszeichnung, den höchsten Wolkenkratzer zu haben. Hierin liegt jedoch ein Problem, das einen jeden von uns berührt: Sind Wolkenkratzer unserem Lebensstil wirklich förderlich?
Wo würdest du das höchste Bauwerk der Welt vermuten? In den Vereinigten Staaten von Amerika? Oder vielleicht in Rußland? Die Antwort lautet eigentlich Kanada. Es geht um den Canadian National Tower in Toronto. Mit 555 Metern ist er das höchste freitragende Bauwerk der Welt. Natürlich handelt es sich dabei um einen Turm, nicht um ein Haus im herkömmlichen Sinn des Wortes. Welches ist denn in diesem Sinn das höchste Gebäude oder der höchste Wolkenkratzer der Welt?
Um das herauszufinden, müssen wir uns in die Vereinigten Staaten begeben. Aber in welche Stadt? Nach New York vielleicht? Nein. Nach Chicago, wo der 443 Meter hohe Sears Tower steht. Obwohl seine Höhe die des New Yorker World Trade Centers um mehr als 30 Meter übertrifft, haben beide Giganten die gleiche Anzahl Stockwerke — 110!
Ist dir übrigens aufgefallen, wie viele Menschen von hohen Bauten fasziniert sind, und zwar so sehr, daß man viele der höchsten Gebäude der Welt mit Aufzügen speziell für Touristen ausgestattet hat? Man könnte hier über die Frage nachdenken: Hätten sich Wolkenkratzer als praktisch erwiesen, wenn nicht Elisha Graves Otis 1853 den ersten sicheren Fahrstuhl der Welt erfunden hätte?
Warum errichtet man hohe Gebäude?
Die Faszination hoher Bauten läßt sich in der Geschichte weit zurückverfolgen. Zum Beispiel wird uns in den ältesten noch vorhandenen historischen Aufzeichnungen berichtet, daß sich im dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung Menschen in einer Ebene im Lande Schinear (Mesopotamien) zusammenschlossen und sagten: „Kommt her! Laßt uns eine Stadt und auch einen Turm bauen, dessen Spitze bis in die Himmel reiche, und machen wir uns einen berühmten Namen, damit wir nicht über die ganze Erdoberfläche zerstreut werden“ (1. Mose 11:1-4). Eigentlich wünschten sie sich einen Turm, der bis in den Wolkenhimmel ragte — einen Wolkenkratzer! Das Ergebnis war der berühmte Babylonische Turm oder Turm zu Babel.
Ist dir aufgefallen, aus welchem Beweggrund sie diesen Turm bauten? „Machen wir uns einen berühmten Namen.“ Ja, sie brachten ein hohes Gebäude mit einem großen Namen in Verbindung. In gewisser Hinsicht glich ihre Denkweise derjenigen neuzeitlicher Werbefachleute und Finanzmagnaten. Wieso? Weil man im 20. Jahrhundert dazu neigt zu denken: „Das Größte ist das Beste“ — und wenn man seinen Namen damit in Verbindung bringen kann, um so besser.
Beachte, was Frank W. Woolworth, Besitzer einer internationalen Kaufhauskette, in bezug auf das 1913 erbaute 60stöckige Woolworth Building der Stadt New York sagte. (Mit 238 Metern war es das höchste Gebäude der Welt.) „Ich wollte etwas Größeres bauen als irgendein anderer Kaufmann zuvor. Das Woolworth Building ist das Ergebnis.“ Gleichzeitig machte er sich als Geschäftsmann einen noch größeren Namen. Im Jahre 1930 wurde jedoch sein „Turm“ in der Liga der Wolkenkratzer von dem 77 Stockwerke zählenden Chrysler Building überflügelt, das sich 319 Meter hoch erhob. Sehr bald wurde die Vorrangstellung Chryslers beendet, als 1931 in New York City ein noch höheres Bauwerk, das 381 Meter hohe Empire State Building, vollendet wurde.
Die weltweite sprunghafte Zunahme an Wolkenkratzern wurde hauptsächlich durch zwei Faktoren bewirkt: der Wunsch, begrenzt vorhandene Grundstücke maximal zu nutzen; und in nicht wenigen Fällen das psychologische Bedürfnis der Geldgeber, sich selbst zu verherrlichen. So stellt es auch der Schriftsteller James C. Giblin dar: „Die Gestaltung von Wolkenkratzern in New York wurde auch von den ehrgeizigen Wünschen derer beeinflußt, die die Gebäude finanzierten. Bauherren, Industrielle und Kaufleute wollten ihren Namen mit prachtvoll aussehenden Gebäuden verbunden wissen, die ihren Wohlstand und ihre Macht jedem, der daran hochblickt, kundwerden lassen.“
Wovon wurden die Architekten inspiriert?
Woher bezogen die modernen Architekten ihre Inspiration? James C. Giblin fährt fort: „Sie glaubten, ihre Kunden am besten zufriedenstellen zu können, wenn sie die Ideen für die Gestaltung ihrer Wolkenkratzer den Tempeln der Griechen und Römer des Altertums sowie den bedeutenden gotischen Kathedralen Westeuropas entlehnen würden. Wurden damals solche Bauwerke als Denkmäler für Eroberer und Götter errichtet, warum sollte man sie nicht als Vorbilder für monumentale Wolkenkratzer der Millionäre des 20. Jahrhunderts gebrauchen?“
Seltsamerweise sind einige moderne Wolkenkratzer „Kathedralen“ genannt worden. Zum Beispiel wurde das Woolworth Building, ein herausragendes Beispiel gotischer Architektur, von einem Geistlichen als die „Kathedrale des Handels“ bezeichnet. Der Wolkenkratzer der Universität von Pittsburgh, auch gotischen Stils, ist als „Kathedrale des Lernens“ bekannt. Der Autor Giblin spielt darauf an, daß der 36stöckige Wolkenkratzer der Zeitung Chicago Tribune zu Recht die „Kathedrale des Journalismus“ genannt werden könnte.
Wo entstand der erste moderne Wolkenkratzer?
Wo und wann wurde der erste moderne Wolkenkratzer gebaut? Da Manhattans Wolkenkratzersilhouette die berühmteste ist, wäre der Gedanke, New York hätte als erste Stadt einen Wolkenkratzer gehabt, nur natürlich. Es ringen jedoch drei nordamerikanische Städte um diese „Ehre“ — New York, Chicago und Minneapolis. Welche kann die „Ehre“ zu Recht in Anspruch nehmen?
Wenn ein Gebäude mit mehr als zehn Geschossen als Wolkenkratzer gelten würde, dann wäre New York der Gewinner, und zwar mit dem von 1868 bis 1870 erbauten Equitable Life Assurance Society Building. Aus der Sicht von Architekten und Ingenieuren ist aber ein Wolkenkratzer nicht einfach ein Gebäude, das die „Wolken kratzt“. Der echte Wolkenkratzer besteht grundlegend aus einem Eisen- oder Stahlskelettbau, der als revolutionierende Neuerung im Bauwesen des 19. Jahrhunderts gilt. Erst dadurch war es möglich, Gebäude zu bauen, die der Belastung überaus großer Höhen und Gewichte standzuhalten vermögen. Welche Stadt gewinnt nun die Auszeichnung?
Der Schweizer Kunsthistoriker Sigfried Giedion gibt die entscheidende Antwort in dem Werk Space, Time and Architecture: „Es ist allgemein bekannt, daß der erste Wolkenkratzer, der wirklich ... nach modernen Konstruktionsprinzipien gebaut wurde, das 10stöckige Gebäude der Home Insurance Company of Chicago (1883—85) war.“ Ja, Chicago war die erste Stadt mit einem echten Wolkenkratzer.
Nun scheinen sich Chicago und New York wegen der Frage, wer das höchste Gebäude der Welt haben wird, zu befehden. Lange Zeit trug New York die Auszeichnung. Dann ging sie 1974 an den Sears Tower von Chicago über. Aber für wie lange? Wird jemand die Errichtung eines noch höheren Gebäudes finanzieren? Wenn ja, was wird das Motiv sein? Wird ein weiterer Wolkenkratzer für New York wirklich von Vorteil sein?
Sind Wolkenkratzer dem Menschen nützlich?
Dies führt zu noch weitreichenderen Fragen. Kommen Wolkenkratzer und Hochhäuser „dem Mann auf der Straße“ zugute? Ist es guten zwischenmenschlichen Beziehungen dienlich, wenn so viele Menschen auf solch begrenztem Raum leben? Wie steht es um die Überlastung des öffentlichen Transportsystems und der sanitären Einrichtungen der Stadt? Ein anderer Faktor, der in Betracht gezogen werden muß, ist die Feuergefahr.
Über die Gesamtauswirkungen der Wolkenkratzer werden ernste Bedenken geäußert, besonders von Personen, die sich mit der Bedrohung der Umwelt und mit der Ökologie befassen. Lewis Mumford drückt es so aus: „In Wirklichkeit ist der Wolkenkratzer von Anfang bis Ende großenteils eine Behinderung für verständnisvolle Stadtplanung und architektonischen Fortschritt gewesen. Hauptsächlich wurde er gebraucht, um wegen privater finanzieller Vorteile Grund und Boden ohne Rücksicht auf die Kosten der Stadt zu übervölkern und um ein kostspieliges Mittel für Publicity und Werbung bereitzustellen.“ Somit ist die Frage berechtigt: Warum denn gleich die „Wolken kratzen“?
[Bild auf Seite 26]
Zwei ehemalige Welttitelträger — das 60stöckige Woolworth Building (1913) und das 110stöckige World Trade Center (1970) in New York City