Ist mein Kind hyperkinetisch?
Vom „Awake!“-Korrespondenten in Australien
„VON Geburt an schlief sie nur wenige Stunden und dazu sehr leicht, hatte Alpträume, schrie im Schlaf und schlug mit ihrem Kopf gegen die Wand. Sie konnte nicht stillhalten, und ich konnte sie nicht beruhigen oder es ihr behaglich machen. Sie schrie nachts stundenlang. Der Arzt hatte ihr Schlafmittel verordnet, aber ohne Erfolg.“ Mit diesen Worten klagte die Mutter von Deanne über ihr hyperkinetisches Kind.a
Sie sagte weiter: „Sie hatte sich zwar schon immer deutlich von anderen Kindern unterschieden, aber als sie in die Schule kam, beklagten sich sowohl die Kinder als auch die Lehrer. Sie verursachte Streit, war sehr aggressiv und wurde überängstlich, wenn ihr nur der geringste Fehler unterlief. Sie berührte alles, woran sie vorbeilief, zerriß die Zeichnungen anderer Kinder, brach immer etwas entzwei, machte überall Kratzer und kniff andere. Die Lehrer klagten darüber, daß sie sich nicht länger als ein paar Minuten konzentrieren konnte. Wenn ihr Zustand ganz schlimm war, schien es, als würde sie aus ihrem Innern heraus zum Übermut angetrieben werden, so daß sie sich selbst kratzte und an sich herumzerrte.“
In Kursivschrift sind einige Verhaltensmuster wiedergegeben, die unter dem Syndrom der Hyperkinese erfaßt sind, wie MBD (Minimal Brain Dysfunction [Minimalhirnschaden]), H-LD (Hyperkinesis-Learning Disability [Hyperkinese-Lernstörung]), SLD (Specific Learning Disability [spezifische Lernstörung]), ADD (Attention Deficit Disorder [Aufmerksamkeitsstörung]). Das Wort Hyperkinese stammt von den neu-lateinischen und griechischen Wörtern hyper („über“ oder „übermäßig“) und kinesis („Bewegung“ oder „Antrieb“). Hyperkinese ist unter Schulkindern zu ungefähr 5 Prozent verbreitet, in einigen Gegenden schätzungsweise bis zu 35 Prozent. Folglich fragen sich viele Eltern besorgt: Ist MEIN Kind hyperkinetisch?
Welches sind die Symptome?
Die Kenntnis einiger typischer Symptome von Hyperkinese ist sehr hilfreich, wenn du beurteilen möchtest, ob dein Kind mit diesem Problem zu tun hat. (Siehe Kasten.) Beachte: Ist dein Kind ständig unruhig, stößt es ständig mit dem Kopf nach hinten, oder kann es ihn nicht ruhighalten? Ist es gewöhnlich frustriert, impulsiv oder außergewöhnlich unbeholfen, kann es Gefahren nicht erkennen, oder belästigt es ohne sichtlichen Grund andere Kinder? Hat es Schlafprobleme, fällt es ihm schwer, Zuneigung zu zeigen oder aufgetragene Arbeiten zu erledigen? Kann es sich nur für kurze Zeit konzentrieren? Hat es besondere Lernschwierigkeiten? Ist es überdurchschnittlich intelligent, erzielt aber nur schwache Ergebnisse in der Schule?
Wenn eines oder mehrere dieser Symptome auf dein Kind zutreffen, dann ist es möglicherweise hyperkinetisch. Allerdings sollte man nicht vergessen, daß jedes Kind anders reagiert. Außerdem gibt es verschiedene Formen von Hyperkinese — einige sind schwer zu erkennen, wohingegen andere ernsterer Art sind und deutlich erkennbar auftreten.
Hyperkinetisch? Oder ein Mangel an Erziehung?
Bevor man sein Kind als hyperkinetisch einstuft, ein Wort zur Vorsicht: Eltern sollten sich fragen, ob das ungezogene oder pflichtvergessene Verhalten ihres Kindes nicht darauf zurückzuführen ist, daß sie ihre Pflicht vernachlässigt haben, ihr Kind konsequent, entschlossen und dennoch auf liebevolle Weise zu erziehen. Viele Kinder werden frustriert, unleidlich, trotzig und aggressiv, wenn nicht alles nach ihrem Kopf geht. Eine der größten Autoritäten auf dem Gebiet menschlichen Verhaltens sagte: „Torheit ist an das Herz eines Knaben geknüpft; die Rute der Zucht ist das, was sie von ihm entfernen wird“ (Sprüche 22:15).
Bei einem hyperkinetischen Kind mag sich körperliche Züchtigung nicht als das geeignetste Mittel erweisen, sondern mag vielmehr Wutanfälle hervorrufen, weil es, wie ein Arzt sagte, „sein Verhalten nicht beherrschen kann“. Die Reaktion des Kindes auf Zuchtmaßnahmen könnte einen weiteren Hinweis für seinen Zustand geben. Die Mutter eines solchen Kindes berichtet: „Die Leute beschwerten sich bei mir, indem sie sagten: ‚Ihr Sohn hat dies getan.‘ ‚Ihr Sohn hat das getan.‘ In unserem Bekanntenkreis war man übereinstimmend der Meinung, ihm fehle eine anständige Tracht Prügel. Lächerlich! Das arme kleine Kerlchen hatte so viel Prügel erhalten, daß es ein Wunder ist, daß es überlebte.“
Anscheinend reagieren hyperkinetische Kinder auf Erziehungsmaßnahmen nicht so wie andere, ganz gleich, ob es sich um ein Gespräch, den Entzug einer Annehmlichkeit oder um Schläge handelt. Kurz nach ihrer Bestrafung werden sie dasselbe wieder tun. Jemand, der mehrere Kinder hat und allen die gleiche Erziehung zukommen läßt, wird dies leicht herausfinden. Bei einem hyperkinetischen Kind sind Zuchtmaßnahmen daher nicht unbedingt die Lösung.
Für denjenigen, der nur ein Einzelkind hat und feststellen möchte, ob sein Kind hyperkinetisch ist oder nur eine andere Erziehung benötigt, mag folgender Vorschlag eine Hilfe sein: Bringe dein Kind für einen Tag zu einer guten Bekannten, vielleicht zu einer Mutter, die selbst mehrere Kinder hat, und bitte sie hinterher um ihre ehrliche Meinung. Gelegentlich sind Kinder, die sich zu Hause bei Mutti wie ein Quälgeist aufführen, erstaunlich hilfsbereit und gehorsam, wenn man sie zu einer strengen, aber lieben Bekannten bringt. Falls dein Kind so reagiert, ist es vermutlich nicht hyperkinetisch. Vielmehr mag es einfach eine feste, aber liebevolle Erziehung benötigen.
Spielt die Ernährung eine Rolle?
Sofern sich bei einem Kind nach gewissenhafter Bewertung der Erziehung der Verdacht auf Hyperkinese nicht ausräumen läßt, halten einige Ärzte eine Umstellung der Ernährung für vorteilhaft. Dieser Wechsel in der Ernährung stützt sich auf die von Dr. Ben Feingold aufgestellte Theorie, nach der bei vermutlich 50 Prozent der Hyperkinetiker Hyperkinese durch gewisse Stoffe — natürliche und künstliche — verursacht wird. Kurz gesagt, diese Stoffe sind für bestimmte Personen giftig und stören gewisse Gehirnfunktionen, die das Verhalten steuern.
Gemäß den Forschungen Dr. Feingolds sind die Hyperkinese verursachenden Stoffe in gewissen Früchten und in Gemüse enthalten, in bedrohlichem Maße aber in gefärbten, mit Geschmacksstoffen versehenen Nahrungsmitteln. Deswegen forderte er für Hyperkinetiker eine Diät, bei der keine potentiellen Schadstoffe, die hyperkinetisches Verhalten verursachen könnten, enthalten sind. Berichte weisen darauf hin, daß einige Eltern mit dieser Methode gute Ergebnisse erzielt haben. Dr. Feingold erklärte jedoch, daß die Umstellung der Ernährung nur bei ungefähr 50 Prozent seiner Patienten geholfen habe.
Bei Deanne, von der eingangs erzählt wird, wurde die Ernährung umgestellt. Deannes Mutter berichtete von der Diagnose des Arztes über den hyperkinetischen Zustand ihrer Tochter und sagte anschließend: „Vor ungefähr vier Jahren erfuhren wir von der Feingold-Diät. Sie war nicht leicht einzuhalten, aber wir sahen Fortschritte. Während des letzten Jahres hat sich Deannes Zustand sehr verändert. Sie ist viel ruhiger, kann sich hinsetzen und lesen oder sich etwa eine Stunde lang beschäftigen. Sie spielt auch gut mit anderen Kindern, kann sich konzentrieren und reagiert nicht nachteilig, wenn irgend etwas mißlingt. Sie ist geduldiger.“
Wie wirkt sich Zucker aus?
Im Zusammenhang mit der Ernährung hat man herausgefunden, daß Kinder, die Symptome von Hyperkinese aufweisen, wie zum Beispiel Abgespanntheit, Unruhe, Nervosität, Erschöpfung, Reizbarkeit, Gefühlsausbrüche und unbeherrschtes Verhalten, an Hypoglykämie oder vermindertem Zuckergehalt des Blutes leiden könnten, wenn auch nur geringfügig.b Ein zu niedriger Blutzuckerspiegel ist gewöhnlich die Folge eines Insulinüberschusses, wodurch die Glucose im Blut schneller abgebaut wird, als sie ersetzt werden kann. Die Gehirntätigkeit hängt von einer konstanten Versorgung mit Glucose aus dem Blut ab. Hypoglykämie beeinträchtigt die Funktion des Gehirns, was Verhaltensstörungen zur Folge hat. Ein Heißhunger auf stärkehaltige, süße Speisen könnte einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel andeuten.
Bei einer Diät für Hypoglykämiker werden nicht nur künstliche Farb- oder Aromastoffe, sondern auch die meisten Zucker gemieden, insbesondere Rohrzucker. Zucker ist für Hypoglykämiker insofern gefährlich, als er einen plötzlichen Anstieg des Blutzuckerspiegels verursacht, der als Gegenreaktion eine zu hohe Abgabe an Insulin auslöst. In einem Artikel, betitelt „Treatment of Learning Disabilities“ (Behandlung von Lernstörungen) schreibt Dr. Allan Cott diesbezüglich: „Forscher, die sich mit dem Ernährungszustand von solchen Kindern befassen, haben übereinstimmend festgestellt, daß zu ihrer Nahrung sehr viel Zucker, Bonbons, Süßigkeiten und andere zuckerhaltige Kost gehören. Wird solche Nahrung weggelassen, ist eine auffallende Abnahme an Hyperkinese die Folge.“ Daher raten einige Mediziner davon ab, hyperkinetischen Kindern zuckerhaltige Speisen oder Getränke zu geben.
Nehmen wir den Fall der vierjährigen Beky. Sie war ungeduldig, reizbar und frustriert, besonders gegen Abend. Ihre Mutter, der man zu einer zuckerfreien Diät für Beky riet, berichtet: „Es kostet die Eltern mehr Beherrschung als das Kind. Eine glückliche, ruhige Tochter zu haben ist die Anstrengung wert. Die ganze Familie hat einen Nutzen davon. Allein durch den Verzicht auf Zucker änderte sich das Verhalten meiner Tochter.“
Umweltverschmutzung — eine weitere Ursache?
In der britischen Ärztezeitschrift The Lancet wird gesagt: „Die Schlußfolgerung scheint vernünftig zu sein ..., daß erhöhte Bleikonzentrationen im Blut (nicht notwendigerweise im toxischen Bereich), die über einen längeren Zeitraum bestehen, für den Minimalhirnschaden verantwortlich sind, der unter dem Syndrom der Hyperkinese mit auftritt.“ Spätere Untersuchungsergebnisse bestätigen dies auch.
Folglich könnte durch die Umweltverschmutzung, insbesondere durch den hohen Bleianteil, der in erster Linie durch die Abgase von Kraftfahrzeugen in die Atmosphäre gelangt, die Zunahme an hyperkinetischen Kindern in unseren Städten verursacht werden.
Hyperkinese durch Ereignisse vor oder bei der Geburt?
Es gibt Kinder, bei denen die Diät keine Wirkung zeigt. Es muß nach einer anderen Ursache als den zuvor besprochenen gesucht werden. Ashley Montagu, Autor des Buches Life Before Birth (Leben vor der Geburt), bezieht sich auf das entscheidende Entwicklungsstadium eines Menschen, wenn er sagt: „Das Leben beginnt nicht bei der Geburt, sondern bei der Empfängnis. Das bedeutet, daß ein sich entwickelndes Kind nicht nur in dem Sinn lebendig ist, daß es aus lebendem Gewebe besteht, sondern auch in dem Sinn, daß es vom Augenblick der Empfängnis an Geschehnissen unterworfen ist. ... Ereignisse vor der Geburt und seine Reaktionen darauf werden es für den Rest seines Lebens beeinflussen.“ In den ersten drei Monaten nach der Empfängnis, dem Stadium, in dem sich die größeren Organe bilden, können die Gefühle der Mutter wie Furcht oder ungewöhnlicher Streß und Angst die körperliche Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.
Die Ereignisse, die vor und kurz nach der Geburt eines Kindes eintreten, gelten als bedeutende Faktoren für die Entstehung von Hyperkinese. Ein Wissenschaftler schrieb: „Die Risiken, die auf einen Fetus zukommen, erreichen während der Zeit der Wehen einen Höhepunkt. Die Geburt ist für die meisten Menschen eines der gefährlichsten Ereignisse, denen sie je ausgesetzt sein mögen.“ Eine komplizierte und risikoreiche Geburt, verbunden mit Hypoxämie, einer unzureichenden Sauerstoffversorgung, macht man für die sich unbemerkt entwickelnden neurologischen Effekte verantwortlich, die in späteren Lebensjahren bei Streßsituationen sichtbar werden.
Ist denn bei einem Minimalhirnschaden, der mit Streß während der Schwangerschaft oder mit Sauerstoffunterversorgung bei der Geburt in Verbindung gebracht werden kann, eine medikamentöse Behandlung angezeigt? Ja, ernste Fälle von Hyperkinese werden mit Stimulanzien beherrscht. In bezug auf die Verwendung von Medikamenten gegen Hyperkinese stimmte ein US-Beratergremium aus 15 Experten „darin überein, daß die Verabreichung von Medikamenten die Krankheit nicht ‚heilt‘, sondern das Kind für erzieherische und beratende Maßnahmen zugänglicher macht“. Man kam jedoch auch zu dem Schluß, „daß die Verabreichung von Stimulanzien in nur ungefähr der Hälfte bis zwei Drittel der Fälle nützt, für die man den Einsatz von Medikamenten als gerechtfertigt erachtet“. Auf der anderen Seite macht der Psychologe James Swanson warnend darauf aufmerksam, daß 40 Prozent der Hyperkinetiker überhaupt keine Medikamente erhalten sollen. Eltern sollten daher nicht voreilig einer medikamentösen Behandlung zustimmen, die in Wirklichkeit nicht gegen Hyperkinese gerichtet ist. Ein Vater, dessen Sohn sechs Monate lang mit Medikamenten behandelt worden war, dann aber anstelle dessen eine Diät einhielt, sagte: „Wir erkennen jetzt, daß Medikamente kein Zaubermittel sind, die Richards Lernfähigkeit verbessern. Um ihm zu helfen, war ein persönliches Opfer an Zeit erforderlich.“
Hyperkinetischen Kindern mag eine Verhaltenstherapie, bei der nach dem Erreichen vernünftiger Ziele auf Ermutigung, Anerkennung und Belohnung Wert gelegt wird, zwar langsamer, aber dafür wirkungsvoller und nachhaltiger helfen. Eine förderliche Atmosphäre in der Familie und konsequentes Verhalten der Eltern ist ein Muß. Genauso wichtig ist eine tiefe Liebe zu dem kranken Kind, da sonst jegliche Therapie fehlschlagen wird.
Wie lautet die abschließende Antwort? Ist dein Kind hyperkinetisch? Es mag sein. Vergewissere dich jedoch zuerst, ob die vermutete Hyperkinese nicht auf einen Mangel an Erziehung zurückzuführen ist. Strebe eine feste, konsequente Erziehung in einer liebevollen vereinten Familie an. Achte ferner darauf, daß dein Kind nicht hauptsächlich wertlose Nahrung zu sich nimmt, wie zum Beispiel gefärbte, mit Geschmacksstoffen versehene, hoch zuckerhaltige Süßigkeiten. Falls diese Methoden versagen, sind weitere medizinische Untersuchungen erforderlich, damit die genaue Ursache für die Hyperkinese deines Kindes ermittelt werden kann.
[Fußnoten]
a Eine eingehendere Betrachtung der Hyperkinese und Lernbehinderung ist in Erwachet! vom 8. August 1983, Seite 3—13 erschienen.
b Weitere Einzelheiten über Hypoglykämie siehe Erwachet!, 8. November 1978, Seite 5—8.
[Herausgestellter Text auf Seite 24]
Ist dein Kind hyperkinetisch, oder benötigt es Zucht?
[Kasten auf Seite 26]
EINIGE SYMPTOME VON HYPERKINESE
1. Ständiger Bewegungsdrang und nervöse Unruhe; im Kindesalter: Schaukelbewegungen im Kinderbett, wobei das Kind mutwillig mit dem Hinterkopf gegen die Rückwand schlägt
2. Unberechenbares Verhalten; schnell frustriert; sehr anspruchsvoll
3. Einschlafstörungen; leichter Schlaf; Alpträume
4. Zeitlich begrenzte Konzentrationsfähigkeit unabhängig von der Art der Tätigkeit
5. Neigt zu Aggressivität und stört andere; möchte alle Gegenstände und alle Personen berühren
6. Eigensinnig, selbst wenn es darum geht, sich Verletzungen am eigenen Körper zuzufügen; sogar nach Zuchtmaßnahmen mag die Handlungsweise fortgesetzt werden
7. Kaut an den Fingernägeln; verletzt die Haut und reißt sie ab; kratzt sich selbst
8. Asoziale Neigungen — lügen, stehlen, sich mit anderen schlagen; ungehorsam sein, sich zurückziehen, beleidigend sein
9. Unfähig, die eigene Verhaltensweise zu beherrschen
(Gestützt auf The Feingold Handbook)
[Bild auf Seite 25]
Streßsituationen während der Schwangerschaft und Geburt können beim Kind Hyperkinese auslösen