Du kannst ein besserer Leser werden
NIEMAND wäre mit einem Auto zufrieden, bei dem nur ein Gang funktionierte. Wenn es nur einen niedrigen Gang hätte, könnte man auf einer ebenen Landstraße nicht schnell fahren. Nur mit einem hohen Gang hingegen würden große Steigungen Schwierigkeiten verursachen. Auch ein guter Leser muß „umschalten“ können.
Sicherlich würdest du die Bibel oder Shakespeare nicht mit derselben Geschwindigkeit lesen wie die Tageszeitung oder ein Comic-Heft. Nun, vielleicht liest du lediglich zur Unterhaltung und machst dir über die Schnelligkeit keine Gedanken. Wenn das zutrifft, könnte man dich mit einem „Sonntagsfahrer“ vergleichen, dem es gleichgültig ist, wohin er fährt oder wann er ankommt.
Solch eine Fahrt ins Blaue kann herrlich sein, aber nicht jeder Tag ist ein Sonntag. Und nicht immer lesen wir zum Zeitvertreib. Vielleicht möchten wir uns weiterbilden, unseren Horizont erweitern, oder das Lesen gehört zu unserer Arbeit. Damit wir keine Zeit verschwenden, müssen wir in der Lage sein „umzuschalten“. Beginnen wir mit einem „hohen Gang“.
Überfliegen — der „hohe Gang“ beim Lesen
Lesestoff zu überfliegen heißt, den Kern des Stoffes zu erfassen, ohne den Text Wort für Wort zu lesen. Man läßt die Augen über eine Seite gleiten und hält hier und da inne, um die Hauptgedanken zu erfassen.
Durch flüchtiges Lesen allein wirst du allerdings nie die Schönheit guter Literatur empfinden sowie das Gefühl und die Stimmung, die der Autor vermitteln möchte. Zuviel geht verloren. Auch wirst du dein Gedächtnis nicht üben, denn du gibst deinem Sinn keine Chance, den Stoff zu verdauen. Das meiste, was geschrieben wurde, gehört allerdings nicht der guten Literatur an, und man muß es sich nicht merken. Ein Geschäftsmann zum Beispiel kann durch flüchtiges Lesen wöchentlich mehrere Stunden Zeit sparen.
Wird dir ein Schnellesekurs helfen, unerläßlichen Lesestoff zu bewältigen? Durch Kurse hat schon mancher seine Lesegeschwindigkeit verdoppelt oder verdreifacht, und einige schaffen angeblich Tausende von Wörtern in der Minute. Sie lernen, nicht Wort für Wort, sondern Wortgruppen und Wendungen zu lesen, und achten kaum auf Wörter wie „es“, „sein“, „der“ und „ein“. Doch wenn jemand behauptet, Tausende von Wörtern in der Minute lesen zu können, überspringt er mehr als einige wenige Einzelheiten.
Das erinnert an die Erfahrung eines Lehrers, der an der Universität Columbia Unterricht im Lesen gibt. In dem Magazin Across the Board wurde darüber berichtet. Er bereitete für eine Gruppe von „Schnellesern“ einen Test vor, der eine Seite umfaßte. Erstaunlicherweise lasen sie den Stoff mit einer Geschwindigkeit von fast 6 000 Wörtern in der Minute. Um sicherzugehen, daß sie verstanden, was sie lasen, forderte er sie auf, den Text wieder und wieder zu lesen. Ihre Geschwindigkeit verlangsamte sich auf die immer noch beeindruckende Zahl von 1 700 Wörtern in der Minute. Darauf rückte der Lehrer mit der Wahrheit heraus: Was sie gelesen hatten, war absolut unsinnig; es handelte sich um wahllos angeordnete Zeilen aus verschiedenen Zeitungsartikeln.
Die Lehre? „Konzentriere dich nicht nur auf die Geschwindigkeit.“ Mortimer Adler schrieb: „Große Schnelligkeit beim Lesen ist eine fragwürdige Leistung; sie ist nur von Wert, wenn der Lesestoff es nicht wert ist, gelesen zu werden.“
Sich einen Überblick verschaffen — ein Schlüssel zu gutem Lesen
Es gibt eine Methode, die einem hilft, das Verständnis und die Merkfähigkeit zu verbessern, während man sich der Technik des Überfliegens bedient. Sie besteht darin, daß man sich einen Überblick verschafft.
Jeder Forscher weiß, daß es klug ist, ein Gelände von einem erhabenen Standort aus zu überschauen und Karten zu Rate zu ziehen, bevor man sich auf den Weg in unbekanntes Gebiet macht. Ähnlich wird der Leser, der sich durch Überfliegen eines Textes mit seinem „Gebiet“ vertraut macht, seine Aufmerksamkeit in die richtigen Bahnen lenken, die Höhepunkte erkennen und sich nicht in einem Labyrinth von Wörtern verirren.
Wie kann man das erreichen, wenn der Lesestoff sehr ausführlich ist? Eine Methode wird in dem Kästchen auf dieser Seite umrissen. Das Überschauen sollte nur ein oder zwei Minuten in Anspruch nehmen, aber der Zeiteinsatz lohnt sich.
Wir wollen nun zum richtigen Lesen übergehen, d. h. sozusagen in einen „niedrigeren Gang“ schalten.
Lies aktiv!
„Das sicherste Verfahren, das Gelesene zu behalten, ist, beim Lesen auf den Aufbau zu achten und zu begreifen, wie der Autor seinen Gedankengang methodisch entwickelt“, heißt es in dem Buch The Art of Book Reading. Zweifellos wird es zum besseren Verständnis beitragen, wenn du dem Autor bei der Entwicklung seiner Gedanken folgen kannst. Das Verständnis wird wiederum die Merkfähigkeit verbessern.
Übe dich darin, die Hauptgedanken von den Nebengedanken und Einzelheiten zu unterscheiden. Achte auf Sätze, die das Thema betreffen; sie sind in den meisten Absätzen zu finden. Du wirst bald in der Lage sein, wie ein Leseexperte es ausdrückte, „die wichtigsten Sätze so zu sehen, als ob sie sich wie ein erhabenes Relief von der Seite abheben würden“. Lerne außerdem, zu erahnen, was du als nächstes lesen wirst, und fasse das bereits Gelesene zusammen. Sei, kurz gesagt, ein aktiver Leser!
Sich im Geiste Fragen zu stellen kann einem helfen, zu ahnen, was kommt, und das Verständnis zu verbessern. Wie geht man dabei vor?
Sachbücher sind gewöhnlich durch Kapitelüberschriften und Untertitel in Abschnitte unterteilt. Forme jede neue Überschrift, zu der du gelangst, in eine Frage um. Suche dann beim Lesen nach der Antwort.
Wenn deine Fragen den Kern getroffen haben, werden die meisten Hauptgedanken in deiner Antwort eingeschlossen sein. Und wenn du den Hauptpunkten besondere Aufmerksamkeit schenkst, wirst du Einzelheiten besser behalten, als wenn du alle Sätze als gleich wichtig betrachtest.
Auch der feste Vorsatz, dir das Gelesene zu merken, wird dir helfen, dich im Lesen zu verbessern. Schüler, die damit rechnen müssen, daß der Lesestoff abgefragt wird, merken sich z. B. grundsätzlich mehr als Schüler, die wissen, daß sie nicht geprüft werden. Damit in Übereinstimmung gibt es einen weiteren „Gang“, in den man schalten kann, um den Leseerfolg zu steigern. Er entspricht dem „Rückwärtsgang“ eines Autos.
Unmittelbarer Rückblick als Gedächtnisstütze
Es ist mehr als Verständnis erforderlich, um sich das Gelesene zu merken. Du mußt „rückwärts fahren“ und dich auf die wichtigsten Gedanken konzentrieren, die du gelesen hast. Bedeutet das, den Stoff nochmals zu lesen? Manchmal schon. Aber es gibt eine bessere Methode — den unmittelbaren Rückblick.
Um die Wirksamkeit dieser Methode zu demonstrieren, forderte man eine Gruppe von Studenten auf, sich den ihnen zugeteilten Stoff nochmals zu vergegenwärtigen, unmittelbar nachdem sie ihn gelesen hatten. Sieben Tage später konnten sie sich noch an 83 Prozent dessen erinnern, was sie gelernt hatten. Eine andere Gruppe hingegen, die sich das Gelesene erst einen Tag später ins Gedächtnis zurückrief, erinnerte sich nach sieben Tagen nur an 45 Prozent. Die Schlußfolgerung? Ein unmittelbarer Rückblick — sofort nach dem Lesen oder sogar während des Lesens — ist am besten.
Eine Methode, wie sie in dem Kästchen auf dieser Seite umrissen wird, ist dabei am wirksamsten. Das war das Ergebnis einer Untersuchung, die zeigte, daß man sich nach zwei Monaten an mehr Gedanken erinnern kann als ohne Rückblick nach einem Tag. Ein Professor an einem College demonstrierte gemäß einer anderen Studie, daß eine Minute Rückblick die Merkfähigkeit verdoppelt. Eine Minute darauf zu verwenden ist sicherlich nicht zuviel verlangt.
Hier sind eine Reihe weiterer Hinweise: Merke dir Gedanken, nicht Wörter. Mache dir über die Hauptgedanken einige kurze Notizen. Halte von Zeit zu Zeit Rückschau, anstatt alles auf einmal zu lernen.
Du mußt dir natürlich nicht alles, was du liest, merken. Jemand hat treffend gesagt: „Einige Bücher sollte man kosten, andere verschlingen und einige wenige kauen und verdauen.“ Sei wählerisch, damit du den größten Nutzen aus dem Lesen ziehst. Befasse dich nicht nur mit leichtem, unterhaltsamem Lesestoff, sondern entwickle auch Appetit nach tiefgründiger Literatur. Mache besonders die Bibel zu einem wesentlichen Bestandteil deines Leseprogramms.
Auf dem Gebiet des Lesens kannst du viele Fertigkeiten erlangen. Sie zu erlernen wird dich wenig Mühe kosten. Du mußt dich darin üben. Aber eines steht fest: Du kannst ein besserer Leser werden.
[Kasten auf Seite 11]
SICH EINEN ÜBERBLICK VERSCHAFFEN
1. Forme den Titel in einige Fragen um, die stellvertretend für das stehen, was du in einem bestimmten Artikel oder Kapitel erwartest.
2. Lies den ersten oder die ersten beiden Absätze.
3. Lies nun die Untertitel.
4. Lies außerdem den einleitenden Satz jedes Abschnitts. Achte dabei auch auf Sätze mit kursiv oder fettgedruckten Wörtern.
5. Untersuche Abbildungen, Tabellen, Diagramme und andere hervorstechende Merkmale.
6. Frage dich nun: Welche Hauptgedanken legt der Autor dar? Wie ist der Stoff angeordnet?
[Kasten auf Seite 12]
UNMITTELBARER RÜCKBLICK
1. Frage dich nach jedem Abschnitt: Was ist der Hauptgedanke? Gib die Antwort. Sieh nur im Lesestoff nach, wenn du nicht zufriedenstellend antworten kannst.
2. Teste dich zum Schluß selbst, indem du feststellst, was du von einem ganzen Artikel oder Kapitel behalten hast. Nenne Abschnitt für Abschnitt die Hauptgedanken. Sieh nur im Lesestoff nach, wenn du dich nicht erinnern kannst.
[Übersicht auf Seite 12]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
WIEVIEL KANN MAN SICH MERKEN?
WIEVIEL BEHALTEN WURDE
Bei unmittelbarem Rückblick
Bei Rückblick nach einem Tag
Ohne Rückblick
100 %
80 %
60 %
40 %
20 %
0 %
TAGE
1
7
14
21
[Bild auf Seite 10]
Heutzutage gibt es so viel Lesestoff. Wie kannst du ihn bewältigen? Es folgen einige Anregungen.