Die süße Gaumenfreude aus Quebec
Vom „Awake!“- Korrespondenten in Kanada
AN EINEM milden, sonnigen Vorfrühlingsmorgen gehen wir einen ehemaligen Holzabfuhrweg entlang. Die Erde ist noch immer leicht gefroren, und hier und da liegt noch Schnee. Auf dem Weg zum cabane à sucre („Zuckerhaus“) sehen wir an den grauen Stämmen der stattlichen Bäume zahlreiche mit Ahornsaft gefüllte Blecheimer hängen, in denen sich die Sonne spiegelt. Dann bemerken wir auch, daß durch die kahlen Äste Rauch und Dampf zum Himmel steigen. Die Luft ist erfüllt mit dem unvergeßlichen Aroma von Ahornsirup und dem Geruch brennenden Holzes. Uns läuft das Wasser im Mund zusammen.
Als wir uns dem „Zuckerhaus“ nähern, begrüßt uns Henri mit einem strahlenden Lächeln. „Ihr kommt genau richtig“, sagt er. „Ihr könnt gleich mitkommen, denn ich muß neuen Ahornsaft holen. Dann könnt ihr einmal ganz frischen Ahornsirup und andere süße Spezialitäten probieren.“
Wie der Saft gewonnen wird
Der Weg führt uns noch tiefer in den Wald. Obwohl die stattlichen Ahornbäume noch kahl sind, beeindrucken sie uns sehr. Einige sind bis zu 40 m hoch und haben einen Durchmesser von 1,5 m! Henri bemerkt, daß wir über die Bäume staunen, und erklärt: „In Nordamerika, China und Japan wachsen zwar über 100 verschiedene Ahornarten, aber Ahornsirup wird fast ausschließlich im Osten der Vereinigten Staaten und in Kanada hergestellt. Von den 13 Arten, die es in Nordamerika gibt, liefern nur 3 Saft für einen Sirup von hoher Qualität.“
Uns fällt auf, daß an einigen Ahornbäumen mehrere Eimer hängen, an anderen dagegen überhaupt keiner. Wir fragen Henri nach dem Grund. „Je 20 cm Baumdurchmesser wird ein Spundloch gebohrt“, sagt er und lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Größe der Bäume. „Auf dieser Farm werden Bäume mit weniger als 20 cm Durchmesser nicht angezapft.“
„Um an den Saft zu kommen“, fährt er fort, „bohre ich etwa einen Meter über der Erde 3 bis 5 cm tiefe Löcher in den Baumstamm. Dann führe ich ein Plastikrohr in die Löcher ein, damit der Saft in die Eimer fließt.“
„Schädigen denn die Bohrlöcher die Bäume nicht?“ fragen wir. „Nicht, wenn sie richtig angelegt werden“, antwortet er sofort. „Die meisten Zuckerhersteller sind sehr gewissenhaft und um ihre Gehölze besorgt, weil es etwa 30 bis 40 Jahre dauert, bis man den Ahorn anzapfen kann. Bei richtiger Pflege kann ein Baum dann über 100 Jahre lang Saft liefern.“
Als wir einen Bach erreichen, gibt uns Henri große Eimer und Schneeschuhe und bittet uns: „Helft mir, den Saft in den Eimern, die an den Bäumen hängen, in die großen Behälter auf dem Schlitten hinter meinem Traktor zu füllen.“
Wir können nur staunen! Schnell und leise bewegt sich Henri auf dem weichen Frühjahrsschnee und sammelt den Saft. Wir versuchen, es ihm gleichzutun, doch wir stolpern nur geräuschvoll umher und haben Mühe, nicht hinzufallen. Es ist eben nicht leicht, mit so komischen „Dingern“ an den Füßen zu laufen, die wie Tennisschläger aussehen.
Die Eimer sind bis zum Rand mit einer Flüssigkeit gefüllt, die klar wie Wasser ist. Gespannt probieren wir, wie süß sie ist. Zu unserer Überraschung ist sie fast geschmacklos. Als Henri unsere Enttäuschung bemerkt, lacht er in sich hinein: „Der Saft besteht zu 97,5 Prozent aus Wasser. Nur 2,5 Prozent sind Zucker und Mineralien.“
„Was bringt den Saft eigentlich zum Fließen?“
„Das Wetter“, antwortet Henri. „Damit er zu fließen beginnt, muß es nachts frieren und tagsüber sonnig sein, und die Temperaturen müssen bei 4 bis 7 °C liegen. Diese besonderen Bedingungen stellen sich irgendwann zwischen der letzten Februarwoche und Mitte bis Ende April ein. Auch Stürme, die Richtung und die Temperatur des Windes sowie Bodenfrost haben einen wesentlichen Einfluß auf den Ertrag.“
Die Geschichte der Sirupherstellung
Als wir uns im warmen Sonnenschein ausruhen, fällt uns auf, daß die Vögel schon wieder zwitschern. Wir fragen Henri, wie und wann mit der Herstellung von Ahornsirup begonnen wurde. „Schon die amerikanischen Indianer kannten den Ahornsirup, und wie man weiß, waren ihnen ja auch die Süßkartoffel und der Mais bekannt,“ erzählt er uns.
Jetzt erteilt er uns ein wenig Geschichtsunterricht. „Die ersten französischen und englischen Forscher beschrieben bereits das ,süße Wasser‘, das die Indianer von den Bäumen abzapften und dann erhitzten, um daraus Sirup zu machen. Die Indianer schlugen mit einem Tomahawk ein ,V‘ in die Rinde des Ahorns“, erklärt er, während er mit seiner Hand eine entsprechende Geste macht, „und sammelten den Saft in Behältern aus Rinde oder Holz. Sie kochten ihn dann in Tontöpfen. Dieses Verfahren ist zwar primitiv, gemessen an heutigen Maßstäben, aber im Prinzip hat es sich bis heute nicht wesentlich verändert.“
Henri macht jetzt mehr den Eindruck eines Geschichtsprofessors als eines Zuckerherstellers und fährt fort: „Die Zuckerindustrie in Quebec geht bis in das Jahr 1705 zurück. Damals gab es hier den ersten offiziellen Zuckerhersteller. Heute ist sie ein wichtiger Wirtschaftszweig, der den 9 000 Herstellern in Quebec jährlich zwischen 30 und 37 Millionen kanadische Dollar einbringt.“
Unsere Neugier ist geweckt, und wir fragen: „Wie groß ist der Anteil des in Quebec hergestellten Ahornzuckers an der Weltproduktion?“
Henri denkt nach, ehe er antwortet: „Aus Quebec kommen etwa 90 Prozent der kanadischen Gesamtproduktion, das sind mehr als 70 Prozent der Weltproduktion. Den Rest steuern die nordöstlichen Staaten der USA bei, insbesondere Vermont.“
Im „Zuckerhaus“
Es ist jetzt Zeit, zum „Zuckerhaus“ zurückzukehren. Dort wird der Saft, den wir gesammelt haben, in große Metalltanks umgefüllt. Wir wollen nun Zeugen des wichtigsten Teils der Zuckerherstellung sein — wenn der Saft zu Sirup gekocht wird.
In der Hütte sehen wir eine rechteckige, flache Pfanne, Verdampfer genannt. Sie nimmt den größten Teil des Raumes ein und steht auf einem Ofen, dessen prasselndes Holzfeuer von einem der Gehilfen geschürt wird. Der Saft wird nun in den Verdampfer geleitet, und während er diese Pfanne durchfließt, verdampft nach und nach das Wasser, und der Zucker wird konzentriert.
„Wieviel Saft man wohl braucht, um einen Liter Sirup zu erhalten?“ fragen wir.
Henris Antwort überrascht uns. „Aus über 150 Liter Saft erhält man ungefähr 4 Liter Sirup!“
„Auf wieviel Grad muß der Saft eigentlich erhitzt werden?“ ist unsere nächste Frage.
„Der Ahornsaft wird bei einer Temperatur von 104 °C zu Sirup mit einem Zuckergehalt von 66 Prozent. Der Ahornsirup wird dann gefiltert und noch heiß in Dosen abgefüllt.“
Bedächtig fährt er fort: „Der Sirup muß bei der genau richtigen Temperatur abgefüllt werden. Ist er nicht heiß genug, so verdirbt er; ist er zu heiß, so kristallisiert er sich. Das fertige Produkt ist dann jahrelang haltbar. Sobald ein Behälter allerdings geöffnet ist, muß man den Sirup kühlen, um zu verhindern, daß er verdirbt.“
Eine weitere Frage taucht auf: „Welche Sirupsorte ist die beste?“
„Zwar bevorzugen viele den dunklen Sirup wegen seines kräftigen Geschmacks, aber die helleren Sorten gelten als die beste Qualität. Diese wohlschmeckenden Sorten haben die Bezeichnung ‚fein‘ oder ‚extra klar‘. Je dunkler die Farbe ist, desto geringer ist die Qualität. Daher wird der dunkle ,Commercial‘-Sirup hauptsächlich für die Herstellung von Zucker und Süßigkeiten verwendet.“
Wir sind verwirrt. Warum unterschiedliche Färbungen? „Dazu tragen verschiedene Faktoren bei“, erklärt Henri geduldig. „Den besten Saft erhält man im Frühjahr, wenn er zu fließen beginnt. Wenn der Sirup zu lange im Verdampfer bleibt, wird er dunkel; daher spielt auch die Schnelligkeit, die Geschicklichkeit und die Technik des Zuckerherstellers eine Rolle. Manchmal erhält der Sirup auch durch Bakterien, die beim Kochen abgetötet werden, eine dunkle Farbe.“
Das Kosten des köstlichen Sirups
Jetzt kommen wir zum angenehmsten Teil der Zuckerherstellung — zum Kosten! Henri erwärmt Sirup auf 116 °C. Dann schüttet er ihn auf sauberen, harten Schnee. Fast augenblicklich wird der Sirup fest wie ein Sahnebonbon. „Wenn ihr etwas davon auf die Holzspachtel nehmt, könnt ihr daran lecken“, fordert uns Henri auf. Auch cremige Ahornbutter und weichen Ahornzucker, die bei einer etwas niedrigeren Temperatur hergestellt werden, kosten wir.
Wir versuchen uns vorzustellen, wie man Ahornsirup sonst noch genießen könnte. Er schmeckt köstlich auf Crêpes, Waffeln und Pfannkuchen. Man kann ihn auch auf Früchten, Joghurt, Eiscreme, gebackenen Bohnen und als Glasur auf Schinken und Huhn verwenden. Viele mögen in Ahornsirup pochierte Eier. „Die meisten Zuckerfarmer streichen den Sirup auf fast alles“, sagt Henri. „Und wenn der Ahornsaft zu fließen beginnt, feiert man besondere Feste, auf denen zu Geigen- und Akkordeonmusik getanzt, getrunken und nebenbei auch noch Saft gesammelt wird.
Selbst nach den vielen Jahren, in denen ich jetzt schon Sirup herstelle, bin ich immer noch davon beeindruckt, wie wunderbar Gott den Ahornbaum geschaffen hat“, sagt Henri. „Für mich ist die Nützlichkeit des Ahorns ein Beweis der Weisheit und Großzügigkeit Jehovas, denn der Baum bietet uns im Sommer Schatten, liefert hochwertiges Holz und bereitet uns dazu noch diese herrlich süße Gaumenfreude.“
[Herausgestellter Text auf Seite 23]
„Schon die amerikanischen Indianer kannten den Ahornsirup, und wie man weiß, waren ihnen ja auch die Süßkartoffel und der Mais bekannt“
[Herausgestellter Text auf Seite 24]
„Aus über 150 Liter Saft erhält man ungefähr 4 Liter Sirup!“