Das Leben in der Zweitfamilie
Ein Interview mit der Direktorin der Stepfamily-Stiftung
Jeannette Lofas, Direktorin der Stepfamily-Stiftung und Koautorin des Buches Living in Step (Das Leben in der Zweitfamilie), hat die beispiellosen Anforderungen untersucht, die an eine Zweitfamilie gestellt werden. Folgendes Interview, das sie Erwachet! gab, zeigt, wie man diesen gerecht werden kann.
Frage: Frau Lofas, was macht das Leben in einer Zweitfamilie so schwer?
Antwort: Einer Stiefmutter haftet von Anfang an nicht der beste Ruf an, später bringt sie sich aber oft selbst in Mißkredit. Die zweite Mutter oder der zweite Vater hofft meist, die gleiche Anerkennung zu finden wie die leibliche Mutter oder der leibliche Vater. In der Regel gelingt dem Stiefelternteil das nicht. Bewußt oder unbewußt versucht er fast immer, sich zu bewähren. Stiefkinder wehren sich zumeist gegen diese elterliche Fürsorge, um gegenüber dem leiblichen Elternteil, der von ihnen getrennt lebt, nicht illoyal zu sein. Der biologische Elternteil nimmt eine geheiligte Stellung ein. Anfangs wird eine Stiefmutter oder ein Stiefvater gegen eine Wand reden. Es muß also nicht immer so ausgehen: „Wenn du mich liebst, wirst du auch meine Kinder lieben.“
Frage: Warum sind Stiefkinder oft so feindselig eingestellt?
Antwort: Ein Kind wird von einer Scheidung wirklich hart betroffen. Es ist deprimiert, weil es entweder von Mutti verlassen worden ist oder weil Vati nicht mehr da ist und ihm nicht mehr genügend Aufmerksamkeit schenkt. Kinder schreiben den Grund für dieses Mißempfinden oft dem neuen Elternteil zu. Man nennt das Verschiebung. Somit laden Kinder den Stiefeltern wie Sündenböcken die Schuld für ihr Mißempfinden auf und sind ihnen gegenüber ganz plötzlich widerspenstig und kratzbürstig.
Frage: Wie kann man einem Kind helfen, mit diesem „Mißempfinden“ fertig zu werden?
Antwort: Vor allem müssen sowohl der betroffene Elternteil als auch die Kinder anerkennen, daß derartige Gefühle ein normaler Teil des Verhaltensmusters einer Zweitfamilie sind. Würde man sie auf das Kind oder den Stiefelternteil statt auf das Verhaltensmuster zurückführen, könnte man in große Schwierigkeiten geraten. Das Kind muß verstehen lernen, daß es normal ist, zunächst verwirrt, zornig und frustriert zu sein. Meist ist es für das Kind eine große Hilfe, wenn man ihm erklärt, warum es so empfindet, und Mitgefühl zeigt. Der leibliche Elternteil sollte dem Kind beruhigend versichern, er werde immer eine Sonderstellung einnehmen und das Kind habe daher keinen Grund, den Stiefelternteil als jemand zu fürchten, der widerrechtlich „die Macht ergreift“.
Frage: Kann es dem Stiefelternteil wirklich gelingen, Stiefkinder zu erziehen?
Antwort: Ja, indem von Anfang an „Hausregeln“ aufgestellt werden. Liebe bedeutet, den Kindern Grenzen zu setzen, und nicht, ihnen freien Lauf zu lassen. Zucht und Liebe müssen gegeneinander abgewogen werden — in „normalen“ wie in Zweitfamilien. In Zweitfamilien ist aber die Liebe meist nicht so deutlich zu verspüren. Die biologische Verbundenheit und die gemeinsame Vergangenheit fehlen, was die Ursache dafür sein kann, daß der Stiefelternteil zu heftig reagiert oder das Stiefkind sich gegenüber der Erziehung durch einen „Fremden“ reserviert verhält. Ein Stiefvater sollte seiner Autorität eher durch ein gutes Beispiel als durch das Erteilen von Befehlen Ausdruck verleihen.
Frage: Was bereitet bei Zuchtmaßnahmen ernste Probleme?
Antwort: Wenn Vater und Mutter sich in Gegenwart der Kinder uneins sind. Für Kinder ist es das schlimmste, wenn sich die zwei Erwachsenen, die in ihrem Leben eine bedeutende Rolle spielen, uneins sind. Das Kind weiß dann nicht, wohin es sich wenden soll. Für eine Zweitfamilie wäre es der Untergang, keine „Hausordnung“ zu haben. Es ist äußerst wichtig, daß Eltern die Regeln, die in der Familie gelten sollen, unter sich festlegen und sich auch darüber einig sind, wie Mißachtungen zu ahnden sind. Dann müssen sie das dem Kind klarmachen. Ein Stiefvater kleidete es in die Worte: „Es ist eine wunderbare Sache, wenn die Mutter sagt: ‚Das ist mein Mann, dein Stiefvater. Erzogen wirst du von uns beiden.‘“
Frage: Wie wichtig ist die Beziehung zwischen den Ehepartnern?
Antwort: Dies ist die vorrangige Beziehung, und sie muß gefestigt sein, da alles andere sonst nicht funktionieren würde. Es ist nötig, etwas aufzubauen, was wir die Stärke des Ehepaares nennen. Das schafft einen festen Familienzusammenhalt. Ohne diese Stärke geraten die Kinder nicht nur in Verwirrung, sondern sie werden auch einen Keil zwischen Mutter und Vater treiben. Eltern sollten vor ihnen als Ehepaar auftreten. Sie tun gut daran, sich gemeinsam der Kinder zu erfreuen und nicht einen Partner die Last tragen zu lassen.
Frage: Sind religiöse Wertvorstellungen eine Hilfe?
Antwort: Ja, sogar sehr. Sie versetzen Ehepartner in die Lage, über unbedeutende Fehler erhaben zu sein. Ein Ehemann könnte zum Beispiel bei einer Gelegenheit sein leibliches Kind unrichtigerweise begünstigen. Die Frau könnte darüber erzürnt sein. Wird sie über die Belanglosigkeit dieses Streitpunktes erhaben sein und sich mit dem Vorfall nicht weiter beschäftigen? Richtig, er hat sich verkehrt verhalten. Was nun? Es ist passiert. Wie soll es weitergehen? Ihre religiösen Wertvorstellungen sind ihr eine Hilfe, da sie sich dadurch veranlaßt fühlt zu denken: „Was würde Gott von mir erwarten? Daß wir die Familie funktionstüchtig erhalten. Wie müssen wir also jetzt vorgehen, damit das geschieht? Dadurch, daß wir versuchen, dem Willen Gottes zu entsprechen, können wir das System funktionstüchtig erhalten.“