„Werde ich je wieder laufen können?“
AN JENEM Montagmorgen im September 1983 wollte ich wie gewöhnlich meine Aktentasche in die Hand nehmen. Ich versuchte, den Griff festzuhalten. „Komisch“, dachte ich. Er glitt mir einfach aus den Fingern. Ich hatte keine Kraft in der Hand. Zuerst dachte ich, ich hätte vielleicht auf dieser Hand geschlafen und daher werde es sicher bald wieder weggehen. Aber das war nicht der Fall. Im Verlauf des Tages wurde es nur noch schlimmer.
Am nächsten Morgen waren meine Beine kraftlos. Nur mit der Hilfe Barbaras, meiner Frau, kam ich aus dem Bett. Nun war mir klar, daß ich einen Arzt aufsuchen mußte.
Wir fuhren in das kleine Krankenhaus in Botwood (Neufundland), wo ich von drei Ärzten untersucht wurde. Nach der Untersuchung sagten sie mir, daß sie das Guillain-Barré-Syndrom vermuteten, eine Polyneuritis. Diese Krankheit geht mit Lähmungen einher. Um sicherzugehen, sorgten sie dafür, daß ich in einem anderen Krankenhaus in der größeren Stadt Grand Falls (Neufundland) von einem Neurologen untersucht wurde. Man führte einfache Tests mit mir durch und bestätigte daraufhin die bereits gestellte Diagnose — Guillain-Barré-Syndrom. (Siehe „Was ist das Guillain-Barré-Syndrom?“) Der Neurologe sagte mir, ich müsse damit rechnen, immer schwächer zu werden. Es fiel mir nicht schwer, das zu glauben! Nur meine Socken anzuziehen kostete mich schon zehn Minuten Kampf.
Ich erklärte mich damit einverstanden, mich in einem Krankenhaus in St. John, der größten Stadt Neufundlands, behandeln zu lassen. Barbara fuhr mich die Strecke von fast 500 km dorthin. Ich erinnere mich, daß sie mich während der Fahrt bat, einen anderen Sender im Autoradio einzustellen, doch nicht einmal dazu hatte ich die Kraft. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich nicht mehr gehen. Mich quälten die Fragen: „Werde ich je wieder laufen können? Wird meine Frau damit belastet sein, mich in Zukunft zu pflegen?“
Als wir im Krankenhaus ankamen, war ich nur noch ein bewegungsloses Etwas. Es war frustrierend — und manchmal ein wenig beängstigend. Auch der Leiter der dortigen neurologischen Abteilung sagte: „Es steht fest, Sie haben Polyneuritis.“
An jenem Abend war ich entschlossen, allein zu essen. Aber man hätte mich sehen müssen! Ich hatte Essen auf dem Kopf und sogar hinter den Ohren. Es war mir einfach nicht möglich, meine Hände und meine Arme zu koordinieren. Ich konnte noch sprechen, aber am nächsten Morgen war ich völlig bewegungslos. Schmerzen hatte ich nicht direkt, doch fühlte ich überall ein Kribbeln.
Die Lähmung griff nun auf meine inneren Organe über und wirkte sich auf die Atmung aus. Alle zwei Stunden wurde meine Atemtätigkeit kontrolliert. Schließlich setzten die Schmerzen ein — unerträgliche Schmerzen. In den Knien und in den Schultern klopfte es wie bei fürchterlichen Zahnschmerzen. Diese Phase war für mich am schwersten zu ertragen. Sie dauerte einige Wochen an. Da ich nicht einmal klingeln konnte, mußte ich nach den Krankenschwestern rufen, damit sie mich umdrehten. Die Schwestern legten heiße Kompressen auf, und so ließ der Schmerz für etwa 20 Minuten nach. Die Ärzte ermutigten mich, indem sie mir erklärten, daß der Schmerz zwar nicht leicht zu ertragen, aber ein gutes Zeichen dafür sei, daß die Nerven anfingen, sich zu erholen.
„Ist er schon deprimiert?“
Die beste Hilfe für mich war, daß Barbara mich täglich besuchte und mich erbaute, indem sie mir aus der Bibel und aus biblischen Publikationen vorlas. Sie fütterte mich auch und unterstützte mich bei meiner Bewegungstherapie.
Von Zeit zu Zeit riefen die Krankenschwestern Barbara zu sich und fragten leise: „Ist er schon deprimiert?“ Sie wußten, daß mit dieser Krankheit eine schreckliche emotionale Belastung einhergeht. Und tatsächlich gab es Momente, in denen ich mich mutlos fühlte und voller Furcht dachte: „Vielleicht wirkt sich diese Krankheit so sehr auf mein Leben aus, daß ich den Dienst als reisender Prediger aufgeben muß, der mir doch so viel Freude bereitete.“ Aber Barbaras Ermunterung und die Besuche der Brüder aus den Ortsversammlungen der Zeugen Jehovas bestärkten mich, positiv zu denken.
Was mir außerdem half, waren warme Bäder. Man setzte mich in einen speziellen Stuhl, fuhr mich in das Bad hinunter und hob mich dann in ein Becken mit wunderbar warmem Wasser. Das linderte die Gelenkschmerzen. Ich fühlte die Wärme auf der Haut, obgleich ich keine Reflexe hatte. Dort habe ich mich am wohlsten gefühlt; es war der Höhepunkt des Tages.
Auch was die Ärzte uns gesagt hatten, gab mir Kraft — nämlich daß es zwar einige Monate oder sogar ein Jahr dauern könne, doch daß in meinem Fall gute Chancen bestünden, völlig wiederhergestellt zu werden. Das machte mir Mut.
Nach einigen Wochen setzte man mich auf einen Stuhl und verlangte von mir, aufrecht zu sitzen. Die Schmerzen waren furchtbar! Anfangs konnte ich es nur einige Minuten aushalten. Eine Patientin, die dieselbe Krankheit hatte, traf sozusagen den Nagel auf den Kopf, als sie sagte: „Der Schmerz ist so, wie wenn man sich den Musikantenknochen stößt — nur läßt er nicht nach.“
In den folgenden Tagen versuchte ich, für längere Zeit aufrecht zu sitzen. Meine Frau fuhr mich in einem Rollstuhl im Krankenhaus umher, so daß ich die anderen beiden Patienten besuchen konnte, die auch am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt waren. Zwar hatte ich gehört, daß gewöhnlich nur einer von 500 000 davon betroffen wird, doch überraschenderweise waren nach mir diese zwei weiteren Patienten mit dem Guillain-Barré-Syndrom eingeliefert worden.
„Wie weit können Sie allein fahren?“
Nach etwa drei Wochen völliger Lähmung war ich überglücklich, als ich eines Morgens aufwachte und feststellte, daß ich meinen Daumen ein wenig bewegen konnte. Außerdem hatte mir der Arzt Hoffnung gemacht, daß ich vielleicht frühzeitig genesen würde. Allmählich konnte ich auch meine anderen Finger wieder bewegen.
Nach etwa einem Monat Krankenhausaufenthalt setzten mich die Krankenschwestern in einen Rollstuhl, gaben mir einen kleinen Schubs und sagten: „Wie weit können Sie allein fahren?“ Ich war zwar noch nicht allzu kräftig, aber ich versuchte, den Rollstuhl, so gut ich konnte, mit meinen Handflächen weiterzuschieben. Obwohl ich öfter erschöpft anhalten mußte, schaffte ich es doch mit großer Mühe und schweißnasser Stirn, den ganzen Flur entlangzufahren. Ich hatte wirklich das Gefühl, etwas geleistet zu haben.
Als ich das erstemal versuchte aufzustehen, wurde mir angst und bange. Der Schmerz war unbeschreiblich heftig. Einen Moment lang dachte ich, meine Beine würden meinen Körper durchbohren. Aber ich gab mir Mühe, jeden Tag ein paar Schritte mehr zu schaffen. Da ich Fortschritte machte, erhielt ich bald ein Laufgestell, so daß ich mir immer mehr selbst helfen konnte. Ich mußte lernen, geduldig zu sein.
Kurz darauf erlaubte man mir, auf Probe ein Wochenende bei Freunden zu verbringen. Barbara konnte sich dort gut um mich kümmern. Natürlich war es mir nicht angenehm, völlig auf andere angewiesen zu sein, aber ich konnte nichts daran ändern. So lernte ich, demütig zu sein und die liebevolle Fürsorge anderer zu akzeptieren.
Während ich mich langsam wieder erholte und merkte, daß sich mein körperlicher Zustand besserte, dachte ich oft an den Bibeltext, in dem es heißt: „Ich [bin] auf furchteinflößende Weise wunderbar gemacht“ (Psalm 139:14). Durch mein Leiden lernte ich die Funktionen des menschlichen Körpers zu schätzen. Voller Spannung wachte ich jeden Morgen auf und überlegte: „Was werde ich heute wohl tun können, wozu ich gestern noch nicht in der Lage war?“
„Sie haben Verbindung zu einer höheren Macht“
Die Ärzte waren von meiner relativ schnellen Genesung beeindruckt. Bei den meisten dauert es weitaus länger, bis sie wieder auf den Beinen sind. Eine Krankenschwester sagte mir: „Meiner Meinung nach hat die gute, liebevolle Unterstützung Ihrer Versammlung zu Ihrer schnellen Genesung beigetragen.“ Ich zog daraus eine wertvolle Lehre. Mir wurde bewußt, wie wichtig es ist, Kranke und Leidende zu besuchen und zu ermuntern. Meine Frau notierte alle, die mich besuchten. Es waren über 300.
Die fünfte Woche meines Krankenhausaufenthalts war zu Ende, und ich wartete gespannt auf das Gutachten des Arztes. Schließlich kam er und sagte, ich könne nach Hause gehen. Ich mußte jedoch regelmäßig zur Physiotherapie und zur Untersuchung erscheinen. Zehn Tage nach meiner Entlassung nahm ich das Laufgestell mit ins Krankenhaus und erklärte, daß ich entschlossen sei, ohne diese Hilfe zu laufen. Ich dankte dem Arzt für seine Behandlung. Er aber sagte: „Danken Sie nicht mir. Sie haben Verbindung zu einer höheren Macht.“
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich wieder Kraft in den Händen hatte. Tatsächlich konnte ich erst im Februar in begrenztem Maße meine normale Tätigkeit als reisender Prediger der Zeugen Jehovas im Osten Kanadas wiederaufnehmen. Fünf Monate waren seit jenem Montag im September vergangen, als mir die Aktentasche aus den Fingern geglitten war. Ich war gelähmt — aber jetzt kann ich wieder laufen! (Von Winston Peacock erzählt.)
[Kasten auf Seite 16]
Was ist das Guillain-Barré-Syndrom?
Das Guillain-Barré-Syndrom (benannt nach dem französischen Neurologen, der es als erster entdeckte) stellt die Wissenschaftler vor ein Rätsel. Die genaue Ursache ist immer noch unbekannt, doch scheint die Erkrankung auf einige kleinere Virusinfektionen zu folgen. Gewöhnlich erholen sich die Patienten von selbst. Doch wenn die Lähmung auf die Atmungsorgane übergreift, kann die Krankheit tödlich verlaufen. Daher heißt es im Journal of Neurosurgical Nursing: „Die einzige Hoffnung für diese Patienten ist eine umfassende und exakte Krankenpflege.“
Man glaubt, daß der Körper beim Guillain-Barré-Syndrom nach einer Infektion Antikörper bildet, die das Myelin, eine die Nervenbahnen umhüllende Substanz, angreifen. Die so freigelegten Nerven können nun die Bewegungsimpulse, die für die Muskeltätigkeit verantwortlich sind, nicht weiterleiten. Dies wiederum führt zu Schwäche und Lähmungen. Die Genesung setzt ein, wenn die Nervenbahnen wieder umhüllt sind. Das kann 18 Monate dauern. In weniger als einem Drittel der Fälle entstehen schlimme Schmerzen.
Die Krankenschwester Laura Barry beobachtete die Stadien, die die meisten am Guillain-Barré-Syndrom erkrankten Patienten durchlaufen. Sie schrieb in The Canadian Nurse: „Der Patient leugnet die Tatsache, daß er an dieser Krankheit leidet, wird aber immer schwächer und schwächer. ... Er gerät in Wut: ‚Warum ich!?‘ ... Dann kommt der Punkt, wo er erkennt, daß er seiner Krankheit nicht mehr Herr werden kann ..., worauf häufig Depressionen folgen, die im Fall des am Guillain-Barré-Syndrom erkrankten Patienten extrem stark sein können.“
Laura Barry erklärte, daß die Hilfe von Krankenschwestern sowie von lieben Angehörigen und Freunden notwendig ist, um eine Heilung zu gewährleisten. Mit ihrer Unterstützung kann der Patient lernen, seine Krankheit zu akzeptieren, und „es ist zu hoffen, daß die Krankheit dann an ihrem Höhepunkt angelangt ist und nicht mehr weiter fortschreitet“.
[Kasten auf Seite 19]
Denk an den Patienten!
Was man bei Krankenhausbesuchen beachten sollte:
• Bleib nicht allzu lange, damit der Patient nicht überanstrengt wird.
• Wenn mehrere kommen, sollten nur zwei gleichzeitig das Krankenzimmer betreten; mehr Besucher strengen zu sehr an.
• Sprich leise; lautes Reden kann andere Patienten stören.
• Führe ein positives und erbauliches Gespräch.
• Versuche herauszufinden, was der Patient benötigt. Biete den Angehörigen an, für sie Besorgungen zu erledigen, damit sie den Patienten so oft wie möglich besuchen können.
• Stelle dich, wenn nötig, als Fahrer zur Verfügung.
• Wenn der Patient schläft oder gerade behandelt wird, laß eine kurze Notiz zurück.
• Ein leichter Händedruck kann den Patienten beruhigen.
[Bild auf Seite 17]
Ich war gelähmt, aber jetzt kann ich wieder laufen — und meine Aktentasche halten!