Die Sucht bricht den Widerstand
DER Zigarettenmarkt reagiert wie ein Raucher, der nur ungern mit dem Rauchen aufhört, jedoch aus Angst vor gesundheitlichen Schädigungen und der suchterzeugenden Wirkung des Rauchens seinen Verbrauch gelegentlich einschränkt, dann aber mehr raucht als zuvor. Wodurch werden solche Ängste beschwichtigt? Durch Werbung und Krieg, „die beiden wichtigsten Helfershelfer bei der Verbreitung des Zigarettenrauchens“, wie der Historiker Robert Sobel schreibt.
Als sich im Ersten Weltkrieg ‘Nation gegen Nation’ erhob, schnellte der Zigarettenverbrauch in die Höhe (Matthäus 24:7). Warum stieg in den Vereinigten Staaten die Zigarettenproduktion von 18 Milliarden Stück im Jahre 1914 auf 47 Milliarden im Jahre 1918? Man hatte einen Kreuzzug für die Versorgung der Soldaten mit kostenlosen Zigaretten geführt, da Zigaretten wegen ihrer betäubenden Wirkung für ein hilfreiches Mittel zur Bekämpfung der Einsamkeit an der Front gehalten wurden.
„Pack deine Sorgen in deinen alten Seesack, solange du ein Streichholz für deinen Glimmstengel hast“, empfahl ein Lied den britischen Soldaten. Als der Staat und patriotische Bürger für die kämpfenden Truppen Tabakwaren spendeten, verstummte selbst die Kritik der Zigarettengegner.
Die Umklammerung wird enger
Wer während des Krieges mit dem Rauchen angefangen hatte, war nachher ein guter Kunde. Im Jahre 1925 rauchten die US-Bürger im Durchschnitt fast 700 Zigaretten. In Griechenland war nach dem Krieg der Pro-Kopf-Verbrauch von Tabak immerhin eineinhalbmal so hoch wie in den Vereinigten Staaten. Amerikanische Zigaretten wurden international bekannt, aber einige Länder wie Indien, China, Japan, Italien und Polen deckten ihre Inlandsnachfrage mit eigenem Tabak.
Um die Position auf dem amerikanischen Markt zu stärken, visierten die Werbefachleute einen neuen Kundenkreis an — das weibliche Geschlecht. Jerome E. Brooks berichtet: „Gegen Ende der 20er Jahre bezeichnete man die Tabakreklame als ‚verrückt‘.“ Dennoch hielt die Zigarettenwerbung die Kauflust der Amerikaner während und nach der Wirtschaftskrise von 1929 lebendig. Als Alternative zu Süßwaren wurde mit einem riesigen Kostenaufwand (1931 etwa 75 000 000 Dollar) die Zigarette als Schlankheitsmittel angepriesen. Filme, in denen zigarettenrauchende Stars wie Marlene Dietrich glorifiziert wurden, halfen, ein anspruchsvolles Image zu schaffen. So kam es, daß 1939, am Vorabend eines weiteren Weltkrieges, die Amerikanerinnen ihren Männern beim Verbrauch der 180 Milliarden Zigaretten zur Seite standen.
Wieder brach Krieg aus. Und wieder bekamen die Soldaten die Zigaretten gratis, sogar in ihrer Marschverpflegung. „Lucky Strike Green ist in den Krieg gezogen!“ verkündete ein wirksamer Werbetext, mit dem man sich die patriotische Kriegsstimmung zunutze machte. Wer hätte am Ende des Zweiten Weltkrieges bei einem Zigarettenverbrauch der Amerikaner von schätzungsweise 400 Milliarden Stück im Jahr den hohen Stellenwert des Tabaks in der Welt noch anzweifeln können?
Und wer hätte die Bedeutung der Zigarette für das Nachkriegseuropa in Zweifel ziehen können, wo Zigaretten in Stangen auf dem schwarzen Markt vorübergehend sogar als Ersatzwährung dienten? Die in Europa stationierten amerikanischen Soldaten bezahlten ganze fünf Cent für eine Packung subventionierter Zigaretten und konnten sich damit alles kaufen — angefangen von neuen Schuhen bis hin zu Freundinnen. Beim Militär schoß der Verkauf steuerfreier Zigaretten in die Höhe — von pro Kopf 5 400 Stück im Jahre 1945 auf 21 250 zwei Jahre später.
Jahrzehntelang hielt man jeden Zweifel an der Unbedenklichkeit des Tabakgenusses von der Öffentlichkeit fern — die Bedenken wurden zwar nicht beseitigt, aber durch die sich stark ausbreitende Volksgewohnheit in den Hintergrund gedrängt. Insgeheim blieben jedoch Fragen offen wie: Ist das Rauchen vielleicht doch schädlich? Verunreinigt man dadurch seinen Körper oder nicht?
Im Jahre 1952 gelangte die bis dahin verdrängte Frage nach der Gesundheitsschädlichkeit unverhofft an die Öffentlichkeit. Britische Ärzte publizierten eine Studie, aus der hervorging, daß starke Raucher häufiger an Krebs erkrankten. Reader’s Digest griff das Thema auf und sorgte somit dafür, daß die Gefahr überall bekannt wurde. Im Jahre 1953 schien eine Anti-Zigaretten-Kampagne Erfolg zu haben. Würde die Welt von der Gewohnheit loskommen?
Die gewaltige Zigarettenindustrie
Die Zigarettenindustrie beharrte nach außen hin auf dem Standpunkt, die Einwände gegen das Zigarettenrauchen seien unbewiesen und rein statistisch. Doch überraschenderweise — und geradezu paradox — setzte sie dann ihre Geheimwaffe ein: die Zigarette mit niedrigem „Teer“gehalt (niedrigem Rauchkondensatwert). Verängstigten Rauchern, die sich vom „blauen Dunst“ nicht trennen wollten, vermittelte das neue Produkt ein Gefühl von Sicherheit und die Befriedigung, etwas für die Gesundheit zu tun, wobei die Werbung einmal mehr ihre suggestive Wirkung bewies.
Zigaretten mit niedrigen Rauchkondensatwerten erwiesen sich hauptsächlich für das Gewissen des Rauchers als Balsam, weniger für seine Gesundheit. Wissenschaftler fanden später heraus, daß viele Raucher als Ausgleich den Rauch tiefer inhalierten und ihn länger in der Lunge behielten, um die gleiche Dosis Nikotin wie zuvor aufzunehmen. Doch es sollte ein weiteres Vierteljahrhundert vergehen, bis die Fachleute den Beweis für all das antreten konnten. In der Zwischenzeit schwang sich die Zigarettenindustrie zu einer der gewinnbringendsten Industrien der Welt auf; derzeit erzielt sie einen Jahresumsatz von über 40 Milliarden Dollar.
Wirtschaftlich ist die Zigarettenindustrie so stark wie nie zuvor. Die Kundschaft bleibt treu. Der Konsum steigt — in den Industrieländern jährlich um 1 Prozent und um über 3 Prozent in den Entwicklungsländern der dritten Welt. Zum Beispiel ist die Steigerungsrate in Pakistan und in Brasilien sechs- bis achtmal höher als in den meisten westlichen Ländern. In Thailand wird ein Fünftel des Pro-Kopf-Einkommens für Zigaretten ausgegeben.
Mit dieser „festen Umarmung“ ist für viele Menschen, die etwas weiter denken, das Kapitel der Geschichte über die hundertjährige Liebesaffäre der Welt mit der Zigarette aber noch nicht zu Ende. Könnte es mit dem stark gestiegenen Tabakverbrauch — besonders seit 1914 — und mit der Tatsache, daß so viele ihre Augen davor verschließen, eventuell mehr auf sich haben, als auf den ersten Blick zu erkennen ist? Wie steht es um die selten angeschnittenen Fragen hinsichtlich der moralischen Einstufung der Gewohnheit? Ist das Rauchen moralisch neutral zu bewerten, oder ist es tadelnswert? Der nächste Artikel gibt die Antwort.
[Bild auf Seite 7]
Werbung und Krieg — die beiden wichtigsten Helfershelfer bei der Verbreitung des Zigarettenrauchens