Die Befreiungstheologie — Ein Ausweg für die dritte Welt?
Von unserem Korrespondenten in Mexiko
HEUTE sind zahlreiche Dritte-Welt-Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika verarmt und in vieler Hinsicht rückständig. In nicht wenigen dieser Staaten beschuldigt man das Regime und die Geistlichkeit der Unterdrückung. Manche führen die Probleme auf die hohe Auslandsverschuldung zurück. Es ist jedoch ein Phänomen aufgetreten, das einige als Ausweg für die dritte Welt betrachten: die Befreiungstheologie.
Am 8. Dezember 1986 versammelten sich in der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) über 2 000 Personen — meist Katholiken —, um das Thema „Befreiungstheologie in der dritten Welt“ zu diskutieren. Die Redner — Katholiken und Protestanten — gehörten einem Kreis von Theologen an, die in Oaxtepec (Mexiko) zur Vollversammlung der „Ökumenischen Vereinigung der Dritte-Welt-Theologen“ zusammengekommen waren. Das erste Treffen dieser Art fand 1981 in Sri Lanka statt. Der Zweck der bisherigen Begegnungen: Man wollte den Fortschritt und die Zukunft der Befreiungstheologie besprechen.
Welchen Einfluß übt die Befreiungstheologie gegenwärtig in der dritten Welt aus? Werden die angestrebten Ziele erreicht? Hat sie Zukunft? Die Antworten werden verständlicher, wenn zunächst geklärt wird, was die Befreiungstheologie eigentlich ist und welche Absicht man damit verfolgt.
Die Befreiungstheologie
Gemäß der in Mexiko-City erscheinenden Zeitung La Jornada definiert der brasilianische Dominikanerpater Frei Betto die Befreiungstheologie als „kritisches Nachdenken über die Praxis der Befreiung der Armen, die auf der Bibel, der christlichen Tradition und dem kirchlichen Lehramt beruht“. Doch wie glaubt man entsprechend dieser „Praxis“ der Befreiung vorgehen zu müssen?
Für einige Länder sehen Befreiungstheologen übereinstimmend den Ausweg im Gebrauch von Gewalt — buchstäblicher Gewalt. In Nicaragua und auf den Philippinen zum Beispiel billigen die Förderer der Befreiungstheologie Revolutionen gegen die amtierenden Machthaber nicht nur, sondern sie fordern sogar dazu auf. Das ist nichts anderes als aktive Einmischung in die Politik. Der Theologe Frei Betto behauptet: „Es ist unmöglich, nach unserem Glauben zu leben und sich aus der Politik herauszuhalten.“ Worauf stützt sich aber ihre Überzeugung?
Die Befreiungstheologie bezieht ihre „Inspiration“ angeblich aus der Bibel. So ist für den Peruaner Gustavo Gutiérrez, der als „Begründer der Befreiungstheologie“ gilt, „die Befreiung der Israeliten eine politische Aktion, der Ausbruch aus dem ... Elend und der Beginn des Aufbaus einer gerechten und brüderlichen Gesellschaft“.
Doch weit wichtiger sind für die Befreiungstheologen die sogenannten „Basisgemeinschaften“. Das sind Gruppen, in denen die „Seelsorge“ für die Armen mit Erziehung und Anleitung zu politischem Handeln verflochten wird. Allein in Brasilien gehören den etwa 70 000 Basisgemeinschaften über vier Millionen Katholiken an. Ja, die Theologen in der dritten Welt tun etwas, um ihre Ziele zu erreichen.
Die Befreiungstheologie und der Vatikan
Die Befreiungstheologie hat sich allerdings nicht widerspruchslos entwickelt. Am 6. August 1984 gab der Vatikan die Instruktion über einige Aspekte der Theologie der Befreiung heraus. Darin wurde diese Theologie als „Perversion der christlichen Botschaft“ verurteilt. Nach dem Dokument „muß der systematische und planmäßige Gebrauch der blinden Gewalt, von welcher Seite sie auch komme, verurteilt werden“.
Im Jahre 1985 ergriff der Vatikan einschneidende Maßnahmen gegen den brasilianischen Franziskaner Leonardo Boff, „den Befreiungstheologen mit der umstrittensten Haltung“, und auferlegte ihm ein Jahr „Bußschweigen“. Doch nach elf Monaten trat ein Wechsel ein.
Wie es in der Zeitschrift Newsweek hieß, „bezog Rom einen neuen Standpunkt zur Befreiungstheologie“. Der Papst gewährte Leonardo Boff „Amnestie“, und am 22. März 1986 ordnete der Heilige Stuhl die Veröffentlichung der gemäßigteren Instruktion über die christliche Freiheit und Befreiung an. Danach ist es „vollauf berechtigt, daß diejenigen, die an der Unterdrückung durch die Besitzer des Reichtums oder der politischen Macht leiden, sich mit moralisch erlaubten Mitteln dafür einsetzen, Strukturen und Institutionen zu erlangen, in denen ihre Rechte wirklich respektiert werden“. Als erlaubtes Mittel gilt nun auch „der bewaffnete Kampf“. Papst Johannes Paul II. ließ dieser Instruktion einen Brief an die brasilianischen Bischöfe folgen, in dem er schrieb: „Die Befreiungstheologie ist nicht nur zweckmäßig, sondern auch nützlich und notwendig für Lateinamerika.“ Was führte zu diesem Gesinnungswandel?
Die katholische Kirche erklärte, daß sie den festen Willen hatte, mit der zweiten Instruktion „auf die Sorgen des Menschen von heute zu antworten, der harten Unterdrückungen ausgesetzt ist und nach Freiheit verlangt“.
Andere meinen dagegen, die Kirche habe sich über den Schwung der Befreiungstheologie getäuscht und sei überrumpelt worden. Nach der Bestrafung Leonardo Boffs reisten zwei Kardinäle und vier Bischöfe nach Rom, um sich für ihn zu verwenden. Zehn Bischöfe unterzeichneten einen Brief, in dem sie seine Bestrafung als Schlag gegen die Menschenrechte tadelten. Darüber hinaus scheinen die katholischen Geistlichen in der gesamten dritten Welt von der „Befreiungsarbeit“ durchdrungen zu sein.
Wer ist im Recht — die Kirche oder ihre Theologen?
Die Kirche versucht offenbar angesichts der entzweienden Elemente in ihren Reihen, ihre Autorität mit aller Macht zu behaupten. Leonardo Boff und andere kämpfen verbissen darum, der Kirche die Form zu geben, die ihnen vorschwebt.
Versagt haben jedoch beide Seiten. Inwiefern? Gustavo Gutiérrez zum Beispiel antwortete Erwachet! auf die Frage, woran die Wahrhaftigkeit der Tradition und der Kirchenlehre gemessen werde: Wahrheit „ist ein Verständnis dessen, was eine christliche Gemeinschaft anzunehmen bereit ist“. Ja, die vorherrschende Meinung und menschliche Weisheit sind die Grundlage ihrer Argumentation, während die Bibel nur ein Schattendasein fristet. So weit hätte man es nie kommen lassen dürfen. Warum nicht?
Die Befreiungstheologie und die Bibel
Die Bibel und kein anderes Buch „ist von Gott inspiriert“ und sollte „gebraucht werden zum Lehren, zur Widerlegung von Irrtum, als Anleitung für das Leben der Menschen und um sie zu lehren, heilig zu sein“ (2. Timotheus 3:16, The Jerusalem Bible). Sie macht auch darauf aufmerksam, daß ‘die Weisheit dieser Welt Torheit bei Gott ist’ (1. Korinther 3:19). Was hat Gottes Wort zu dem Thema Befreiungstheologie zu sagen?
In der Bibel kommt der Begriff „Befreiungstheologie“ als solcher zwar nicht vor, sie spricht aber von Befreiung. Das ist sogar eine ihrer dringlichsten Botschaften an die Menschheit (Römer 8:12-21). Die Befreiung der Israeliten aus Ägypten — und das darf nicht übersehen werden — erfolgte jedoch durch göttliches Eingreifen. Wenn die Israeliten aber unabhängig von Gott handelten, wurden sie von ihm verurteilt und mußten leiden.
Heutzutage mündet die aktive religiöse Beteiligung an sozialen Bewegungen oft in Gewalt. Doch Jesus Christus dachte nicht daran, Religion und Politik miteinander zu verquicken. Als der Apostel Petrus den Sohn Gottes verteidigen wollte und den einzigen Ausweg darin sah, „zum Schwert“ zu greifen, wies ihn Jesus mit den Worten zurecht: „Stecke dein Schwert wieder an seinen Platz, denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen“ (Matthäus 26:52). Das bedeutet aber keineswegs, daß uns jede Aussicht auf eine Wiederherstellung der Gerechtigkeit auf der Erde versperrt ist.
Echte Befreiung
In Erfüllung der biblischen Verheißung wird Gott zur bestimmten Zeit in die Angelegenheiten der Menschen eingreifen. ‘Die Bösen werden von der Erde weggetilgt; und die Treulosen, sie werden davon weggerissen’ (Sprüche 2:22). Was wird aus den Menschen werden, die sich nach einem Ende der Armut und nach Gerechtigkeit sehnen? „Die Sanftmütigen ... werden die Erde besitzen, und sie werden wirklich ihre Wonne haben an der Fülle des Friedens. Die Gerechten selbst werden die Erde besitzen, und sie werden immerdar darauf wohnen“ (Psalm 37:11, 29).
Wärst du gern am Leben, wenn auf der Erde solch wunderbare Verhältnisse herrschen? Stelle dir einmal vor, wie die Welt aussähe ohne Armut, ohne internationale Zwistigkeiten, ohne Rassendiskriminierung und ohne Bedrückung. Doch das ist noch nicht alles. Gott garantiert in seinem Wort, daß er auch Krankheit, Schmerz und Sorgen beseitigen wird. Selbst der Tod wird der Vergangenheit angehören. Könnte es eine noch größere Befreiung geben? (Offenbarung 21:4).
[Herausgestellter Text auf Seite 19]
„Die Befreiungstheologie ist ... nützlich und notwendig für Lateinamerika“ (Papst Johannes Paul II.)
[Herausgestellter Text auf Seite 20]
Jesus Christus dachte nicht daran, Religion und Politik miteinander zu verquicken
[Bilder auf Seite 18]
„Es ist unmöglich, nach unserem Glauben zu leben und sich aus der Politik herauszuhalten“ (Frei Betto)
Leonardo Boff, der Befreiungstheologe mit der umstrittensten Haltung, mußte sich elf Monate an ein vom Papst auferlegtes Bußschweigen halten