Die Befreiungstheologie — Nützt sie den Armen?
„Millionen Menschen, die in Holzhütten mit Lehmboden leben, arbeiten unvorstellbar hart, nur um das Lebensnotwendige zu haben. Sie schleppen Wasser; sie legen ihre Wege zu Fuß, zu Pferde oder mit dem Ochsenkarren zurück; sie ernähren sich von Reis, Bohnen und Bananen. Das Land um sie herum ist ertragreich; dennoch wissen sie, daß sie wahrscheinlich immer arm sein werden. Und so wird aus der Armut, aus dem Kampf, aus der schlimmsten Unterdrückung eine neue Form der ‚Urkirche‘ geboren“ (The Christian Century).
„DIE Zukunft der Kirche scheint bei den Armen zu liegen.“ So schreibt das Magazin Newsweek. Manche meinen, daß diese „neue Kirche“, die für die Befreiung der Armen eintritt, möglicherweise „die einzig wahre Hoffnung“ für die Armen ist, die einzige Hoffnung, daß sich in ihrem Land ein friedlicher Wechsel vollziehen wird. Ist sie das wirklich?
Es empfiehlt sich, die Befreiungstheologie zunächst aus der Sicht ihrer Befürworter zu betrachten. Weshalb glauben sie, daß die Armen unter Umständen nur durch bewaffneten Kampf befreit werden können? Unter welchen Voraussetzungen soll die Befreiungstheologie zu rechtfertigen sein?
Armut und Unterdrückung
Zwei Drittel der Weltbevölkerung — überwiegend in Lateinamerika, Afrika und Asien — leben in menschenunwürdiger Armut. Berichte über politische Gewaltmaßnahmen in diesen Teilen der Erde sind an der Tagesordnung. Armut, Leid und Gefangenschaft gehören für „diese gedemütigten Menschen“ von jeher zum Alltag. Vorliegende Berichte sollen dies zeigen:
◻ Der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff sagt, daß in seinem Land „alle 22 Stunden ein Bauer ermordet wird“.
◻ „In Nicaragua versucht man, einen Staat zu errichten, der für die Menschen eintritt, die seit Generationen unterdrückt werden — 80 Prozent der Bevölkerung.“ Doch laut Berichten fließen über 40 Prozent der Staatseinnahmen in die Landesverteidigung.
◻ Gemäß der in Mexiko-City erscheinenden Tageszeitung El Universal leben in Mexiko 40 Millionen Menschen zufolge „sozialer Ungerechtigkeit“ in Armut. Vierzig Prozent der Bevölkerung sollen nur „das Existenzminimum“ erreichen, und lediglich 18 Prozent können sich „ausgewogen ernähren“.
◻ In Guatemala besitzen, wie aus einer Statistik hervorgeht, 2 Prozent der Bevölkerung 80 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Flächen. Einundachtzig Prozent der Kinder unter fünf Jahren leiden an Fehlernährung. In den vergangenen 30 Jahren wurden 100 000 politische Gewaltakte und 38 000 Fälle von Menschenraub registriert.
◻ Auf den Philippinen verfügen 2 Prozent der Bevölkerung über 75 Prozent der materiellen Güter des Landes. „Wenn wir dieses Problem nicht lösen“, so die philippinische Nonne Maria Johanna Mananzan, „lösen wir kein einziges.“
In zahlreichen Ländern leben die Menschen ständig in Angst vor Regierungsbehörden, inoffiziellen Streitkräften und Selbstschutzgruppen. Tausende sind in Nachbarländer geflüchtet.
Damit begründen einige katholische Prälaten, warum sie „Partei ergreifen für die Armen“. „Wir haben viel über Bekenner, Jungfrauen und Propheten gehört“, sagt Leonardo Boff und fragt: „Wie steht es aber mit den Arbeitern und Bauern?“ Doch welches Mittel verordnen die Befreiungstheologen gegen diesen Zustand? Was bedeutet es, sich auf die Seite der Armen zu stellen?
Die Kämpfe in der dritten Welt
„Armut ist ein Unrecht“, verteidigen sich die Befreiungstheologen. Die „vorrangige Entscheidung für die Armen“ ist demnach, „ihnen bei ihrem Trachten nach einem würdigen Leben zu helfen, das ihnen zusteht“. In dem Buch Die historische Macht der Armen schreibt der Peruaner Gustavo Gutiérrez, der als Begründer der Befreiungstheologie gilt: „Mehr denn je haben wir heute an der Seite derer zu stehen, die Widerstand leisten und kämpfen, glauben und hoffen.“ Aber gemäß der Aussage von Befreiungstheologen kann den Armen nur geholfen werden, wenn „durch tiefgreifende Veränderungen der Gesellschaftsstrukturen soziale Gerechtigkeit verwirklicht wird“. Wie geht man in verschiedenen Teilen der Erde dabei vor?
◻ Auf Haiti soll die katholische Kirche beim Sturz der Duvalier-„Tyrannei“ mitgewirkt haben.
◻ Der Erzbischof von Manila, Jaime Kardinal Sin, hat Berichten zufolge „mehr als jeder andere auf den Philippinen zum Sturz der Diktatur von Ferdinand Marcos“ beigetragen.
◻ Bonganjalo Goba aus Südafrika sagt: „Wir kennen Leute, die mit der Bibel in der einen Hand und mit dem Gewehr in der anderen heranrücken und geloben, Gott eine Kirche zu bauen, falls er ihnen das Land gibt.“
Armut ist jedoch nur eines von zahlreichen Problemen. Analphabetismus, Arbeitslosigkeit, Hunger und Krankheiten sind in vielen Ländern weitere Folgen eines schwachen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Systems. Wegen all dem begehren die Armen und Unterdrückten auf.
Wie stehen Befreiungstheologen wie Gutiérrez und Boff zur Argumentation anhand der Bibel?
Befreiungstheologen und die Bibel
„Befreiung ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Bibel“, erklärte der südkoreanische Priester Augustine Ham Sei Ung. Gutiérrez betonte allerdings, „die [biblische] Geschichte ... müsse aus der Sicht der Armen neuverstanden werden“, um sie erklären zu können.
Die Befreiungstheologen behaupten somit, daß es sich bei bestimmten biblischen Ereignissen wie der „Befreiung Israels“ um politische Aktionen gehandelt habe. „Gott ... offenbart sich durch ... den Armen und den Geringen“, sagte Gutiérrez. Daher meinen viele, daß „die Kirche, wenn sie dem Gott Jesu Christi die Treue halten will, ihr Selbstverständnis von unten aufbauen muß, aus der Sicht der Armen dieser Welt“. „Gottes Liebe zu seinem Volk“, so argumentieren sie, könnte auch heute „politisch zum Ausdruck kommen“.
Wie sehen die Befreiungstheologen das Verhältnis zwischen der Bibel und der Politik? Leonardo Boff erklärte gegenüber Erwachet!, daß „der Bibel nicht die Rolle eines Buches zukommt, das zum Ersinnen politischer Taktiken oder politischer Alternativen inspiriert, sondern daß die Bibel eine Quelle der Inspiration in bezug auf die Suche nach gerechteren menschlichen Beziehungen ist“. Was ist aber durch die Beteiligung der Geistlichkeit an gesellschaftlichen Reformbestrebungen erreicht worden?
Gewalt und Tod gehen oft Hand in Hand. Man darf nicht übersehen, daß Geistliche jahrhundertelang in der Weltpolitik nach Belieben schalten und walten konnten. Sie haben mit den Königen der Erde, mit Diktatoren und mit den herrschenden Klassen, die alle das arme Volk unterdrückt haben, gemeinsame Sache gemacht. Zahllose Todesopfer waren die Folge.
Eine „vorrangige Entscheidung“?
Die modernen „Befreiungsbewegungen“ bilden keine Ausnahme. Auch sie haben dazu beigetragen, daß zahllose Menschen das Leben verloren haben. Gustavo Gutiérrez gibt zu: „Mit der Verschärfung des Hungers und der Ausbeutung ..., aber auch mit der Verhaftung und Verbannung zahlreicher Menschen ... wie auch mit den Folterungen und Ermordungen ... zahlt die Kirche heute den Preis dafür, daß sie in den letzten Jahren gegen eine jahrhundertealte Unterdrückung rebelliert hat.“
Keine von Menschen ersonnene Theologie kann somit die Menschheit von Angst und Sorgen befreien. Solange Habgier und Haß nicht ausgemerzt worden sind, wird man sich nach etwas Besserem sehnen. Gibt es denn eine bessere Entscheidung für die Armen?
[Bild auf Seite 6]
„Mehr denn je haben wir heute an der Seite derer zu stehen, die Widerstand leisten und kämpfen, glauben und hoffen“ (Gustavo Gutiérrez)