Jehovas Zeugen und die Verfassung der Vereinigten Staaten
Im Jahre 1987 wurde die Verfassung der Vereinigten Staaten 200 Jahre alt. Durch die Aufmerksamkeit, die dieser Zweihundertjahrfeier geschenkt wird, werden Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt an ihren Kampf erinnert, den sie in diesem Land geführt haben, um ihr Recht, ihre Glaubensansichten verbreiten zu können, zu verteidigen und gesetzlich zu festigen.
VON welcher Bedeutung ist die Verfassung für den einzelnen? Angenommen, du wolltest in deiner Wohngegend auf den Straßen und von Haus zu Haus in gedruckter Form Informationen verbreiten, von denen du denkst, daß sie für die Leute von Bedeutung sind. Was aber, wenn du erführest, daß die Verbreitung solcher Schriften gegen Gesetze verstoßen würde, die den öffentlichen Frieden und die Ordnung wahren sollen? Oder wenn du dir dafür eine Genehmigung beschaffen müßtest, aber Beamte sie dir nicht erteilen würden? Oder wenn du eine behördliche Genehmigung erwerben müßtest, die zu zahlende Steuer aber eine finanzielle Belastung für dich wäre?
In dieser Lage befanden sich Jehovas Zeugen in den 30er und 40er Jahren. Sie wollten Druckschriften über ihre Glaubensansichten verbreiten. Doch in vielen Gemeinden wurden örtliche Gesetze und Verordnungen gebraucht, um sie daran zu hindern. Daher erhoben sie, gestützt auf die Verfassung der Vereinigten Staaten, die Rede- und Pressefreiheit garantiert, Einspruch. Aber um die verfassungsmäßigen Rechte zu erwirken, mußten sie vor Gericht gehen. Betrachten wir nun, wie die Verfassung die Rechte des einzelnen gewährleistet.
Sicherung der Rechte des einzelnen
Ähnlich wie ein Bauplan stellt eine Verfassung einen Entwurf dar, durch den ein Zweck erfüllt werden soll — in diesem Fall, ein Volk zu regieren. Wie es in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten heißt, werden Regierungen eingesetzt zur Sicherung gewisser „unveräußerlicher Rechte“ der Regierten.
In der Präambel der Verfassung der Vereinigten Staaten wird dieses Thema aufgegriffen; es wird darin gesagt, daß die Verfassung verordnet und erlassen wurde, um dem Volk „das Glück der Freiheit“ zu sichern. Der endgültige Verfassungstext wurde am 17. September 1787 in der Unabhängigkeitshalle in Philadelphia (Pennsylvanien) aufgestellt. Diese Verfassung ist außergewöhnlich, weil es sich dabei um die älteste geschriebene Verfassung handelt, die noch in Kraft ist.
Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist dafür bekannt, daß sie übermächtige Regierungsgewalt ablehnt und die Freiheiten des einzelnen über den Einflußbereich der Regierung stellt. Zu den bekanntesten Merkmalen der Verfassung gehört, daß sie freie Religionsausübung sowie Rede- und Pressefreiheit gewährleistet. Diese Freiheiten waren in der Verfassung, so wie sie ursprünglich abgefaßt und ratifiziert worden war, nicht erwähnt. Sie wurden im Jahre 1791 in den ersten von zehn anfänglichen Zusatzartikeln aufgenommen, die allgemein als die Bill of Rights (Grundrechtskatalog) bekannt sind.
Die Freiheiten, die ausdrücklich in diesem Grundrechtskatalog formuliert sind, sind Rechte des einzelnen und sind weder von einer Erlaubnis der Regierung abhängig, noch können sie von der Regierung beschnitten werden. Warum mußten dann Menschen vor Gericht gehen, um für ihre Rechte zu kämpfen? Weil gesetzgebende Körperschaften zuweilen in der Meinung, im Interesse der Mehrheit zu handeln, Gesetze erließen, die diese Rechte einschränkten.
Ein Bundesgericht der Vereinigten Staaten bemerkte dazu: „Die Gewaltherrschaft von Mehrheiten über die Rechte einzelner oder hilfloser Minderheiten wurde schon immer als eine der großen Gefahren einer Regierung durch das Volk erkannt.“ Einer solchen Gewaltherrschaft sahen sich Jehovas Zeugen in den Vereinigten Staaten während der 30er und 40er Jahre gegenüber.
Prediger oder Hausierer?
Als der Zweite Weltkrieg nahte, stand das öffentliche Predigtwerk der Zeugen Jehovas im Brennpunkt großer Gegnerschaft. Kommunale Verordnungen, die von Werbern und Hausierern verlangten, sich eine Genehmigung zu beschaffen, wurden fälschlicherweise auf das Predigtwerk der Zeugen angewandt. Jehovas Zeugen, die sich darüber im klaren waren, daß diese Anwendung der Gesetze ihre verfassungsmäßigen Rechte verletzte, widersetzten sich diesen Verordnungen und verrichteten ihr Predigtwerk, ohne sich zuvor eine Genehmigung zu beschaffen (Markus 13:10; Apostelgeschichte 4:19, 20). Daraufhin wurden viele Zeugen verhaftet.
Wenn die unteren Gerichtsinstanzen zuungunsten der Zeugen entschieden, bezahlten diese nicht die Geldstrafen, sondern gingen statt dessen ins Gefängnis. Sie brachten die Fälle vor möglichst hohe Gerichte, um gegen die verfassungswidrige Behinderung ihres Werkes gleichsam ein Bollwerk günstiger Entscheidungen zu errichten. Im Laufe der Zeit stieß das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten wiederholt diese Verordnungen um, und zwar als in sich selbst verfassungswidrig oder als verfassungswidrig angewandt, und die Urteile gegen Zeugen Jehovas wurden aufgehoben.
Neben den Verordnungen für Genehmigungen wurden Gesetze über Steuern für diese Genehmigungen eingesetzt, um das Predigtwerk der Zeugen Jehovas zu behindern. Da Jehovas Zeugen die Zahlung solcher Steuern als eine von weltlicher Macht ausgeübte Einschränkung der ihnen von Gott aufgetragenen Predigttätigkeit betrachteten, lehnten sie es ab, sie zu entrichten. Wieder wurden viele Zeugen verhaftet, und wieder entschied das Oberste Bundesgericht zugunsten der Redefreiheit und der freien Religionsausübung.
Das Gericht erklärte, daß das Recht auf ungehinderte Verbreitung religiöser Lehren durch Druckschriften „unabhängig von staatlichen Machtbefugnissen besteht. Es wird dem Volk durch die Bundesverfassung garantiert.“ Einfach ausgedrückt: Der Staat konnte nicht etwas untersagen, was die Verfassung bereits gewährte.
Der Fahnengruß
Jehovas Zeugen sind stets gesetzestreue Bürger gewesen. Mit ihrer Weigerung, die Fahne irgendeines Landes zu grüßen, beabsichtigen sie nicht, respektlos zu sein. Sie glauben, daß sie in erster Linie ihrem Gott und Schöpfer, Jehova, verpflichtet sind und daß ihre Ergebenheit ihm gebührt (Lukas 4:8). Irgendeiner irdischen Autorität völlige Ergebenheit zu geloben hieße, weltlichen Interessen den Vorrang vor geistigen Interessen zu geben (Apostelgeschichte 5:29). Trotz dieses aufrichtigen Beweggrundes wurde die Weigerung der Zeugen, die Fahne zu grüßen, oft mißverstanden, und aus diesem Grund wurden sie verfolgt.
Als es auf den Zweiten Weltkrieg zuging, befürworteten örtliche Schulbehörden und die Gesetzgebung in einzelnen Staaten der Vereinigten Staaten obligatorische Fahnengrußzeremonien, um die nationale Einheit und Sicherheit zu fördern. Obwohl die öffentliche Meinung die Fahnengrußforderungen unterstützte, lehnten es Jehovas Zeugen standhaft ab, ihre biblisch begründeten Prinzipien durch Kompromisse zu verwässern.
Bei einer Überprüfung des Tatbestandes erkannte das Oberste Bundesgericht der Vereinigten Staaten an, daß Schulbehörden zwar ohne Zweifel wichtige Funktionen und große Handlungsfreiheit besäßen, daß sie ihre Funktionen aber erfüllen müßten, ohne die Grenzen der Verfassung zu überschreiten. Eine Schulbehörde habe nicht die Freiheit, in die fundamentalen verfassungsmäßigen Rechte einzugreifen, die dem einzelnen gewährleistet seien. Das Oberste Bundesgericht entschied daher, daß die Vorstellungen einer Schulbehörde darüber, wie Achtung vor der Fahne und dem nationalen Erbe einzuflößen sei, keinen Vorrang hätten vor dem verfassungsmäßigen Recht eines Schülers auf Gewissensfreiheit in religiösen Angelegenheiten.
Das Oberste Bundesgericht war sich über den Ernst seiner Entscheidung angesichts der damals laufenden nationalen Kriegsanstrengungen nicht im unklaren. Dennoch wich es seiner Pflicht nicht aus und erklärte, daß nach der Verfassung der Vereinigten Staaten „die Freiheit, anders zu sein, nicht auf Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung begrenzt ist. Das wäre nur ein Schattenbild der Freiheit. Die Feststellung ihres Gehalts ergibt sich aus dem Recht, in Angelegenheiten, die den Kern der bestehenden Ordnung berühren, anders zu sein.“
Das Oberste Bundesgericht schloß seine Urteilsbegründung in der Fahnengrußfrage mit folgender Erklärung ab: „Wenn es in der Konstellation unserer Verfassung irgendeinen Fixstern gibt, dann ist es der, daß keine Amtsperson, ob hoch oder niedrig, vorschreiben darf, was in bezug auf Politik, nationale Einstellung, Religion oder andere Meinungsfragen allgemein Rechtens sein soll, oder Bürger zwingen darf, Glauben daran durch Wort oder Tat zu bekennen.“
Der Beitrag der Zeugen Jehovas
Alles in allem gewannen Jehovas Zeugen 23 Beschwerdeverfahren vor dem Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten. Sie haben nach Meinung vieler Rechtsgelehrter einen großen Beitrag zur verfassungsmäßigen Rechtsprechung der Vereinigten Staaten geleistet. Das wäre nicht möglich gewesen, wenn Jehovas Zeugen in ihrem Bemühen, ihrem Gott zu gehorchen, nicht bereit gewesen wären, Demütigungen, Schläge und Einkerkerungen zu erdulden.
Daß die verfassungsmäßigen Rechte der Religions-, Rede- und Pressefreiheit durch die Standhaftigkeit der Zeugen gefördert und klarer bestimmt worden sind, ist nur ein Nebeneffekt ihres wichtigeren Zieles, nämlich Jehova in Einklang mit seinem heiligen Wort zu dienen.
Jehovas Zeugen sind dankbar für das Vorrecht, Jehova Gott, dem Souverän des Universums, zu dienen. Sie haben zu diesem Zweck von vielen Mitteln Gebrauch gemacht, auch von dem Schutz, den die 200 Jahre alte Verfassung der Vereinigten Staaten bietet.
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Verfassung stützt erneut die Zeugen
Am 10. Juni 1987 wurde aus verfassungsrechtlichen Gründen erneut zugunsten der Religionsfreiheit der Zeugen Jehovas entschieden. Wie die „New York Times“ berichtete, verfügte das Berufungsgericht der Vereinigten Staaten für den 9. Gerichtsbezirk, daß die Freiheit, in Übereinstimmung mit seinen Glaubensansichten zu handeln, „nach der Verfassung von der Gesellschaft geduldet werden muß ‚als ein Preis, der es wert ist, bezahlt zu werden, um das Recht auf religiöses Anderssein, dessen sich alle Bürger erfreuen, zu sichern‘“. Bei dem Fall ging es um das Recht der Zeugen, dem biblischen Gebot zu gehorchen, jemanden, der „nicht in der Lehre des Christus bleibt“, ‘niemals in ihr Haus aufzunehmen noch ihm einen Gruß zu entbieten’ (2. Johannes 9-11).
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Die Unabhängigkeitshalle (Philadelphia), wo die Verfassung aufgestellt wurde
[Bildnachweis]
Philadelphia Convention and Visitors Bureau
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Das Original der Verfassung wird im Staatsarchiv aufbewahrt
[Bildnachweis]
U.S. National Archives
[Bildnachweis auf Seite 24]
Architect of the Capitol (Washington, D. C.)