Junge Leute fragen sich:
Wie komme ich über die Scheidung meiner Eltern hinweg?
„Ich erinnere mich, wie es war, als unser Vater uns verlassen hatte. Wir wußten eigentlich gar nicht richtig Bescheid. Unsere Mutter mußte arbeiten gehen, und so waren wir die ganze Zeit allein. Manchmal saßen wir am Fenster und hatten Angst, sie hätte uns auch verlassen“ (eine Tochter geschiedener Eltern).
BEI einer Scheidung scheint die Welt zusammenzustürzen; eine Scheidung kommt einem wie eine Katastrophe vor, die immerwährendes Elend hervorruft. Doch selbst wenn deine Eltern gerade mitten in einer Scheidung stecken, kannst du Mut fassen. Du kannst dich wieder erholen.
Das bedeutet nicht, daß alles einmal wieder so sein wird wie früher. Eine Scheidung ist leider etwas ziemlich Endgültiges. Aber die Verlegenheit, die Wut, das Gefühl, verraten worden zu sein, und die Angst, daß dich deine Eltern nicht mehr lieben — diese zerstörerischen Empfindungen können überwunden werden, so daß dein Leben wieder in geregelten Bahnen verläuft. Wie die Bibel sagt, gibt es „eine Zeit zum Heilen“ (Prediger 3:3).
Die heilende Wirkung der Zeit
Die Heilung braucht jedoch ihre Zeit. Immerhin kann es bei einer buchstäblichen Verletzung, wie zum Beispiel bei einem Knochenbruch, Wochen oder sogar Monate dauern, bis alles völlig verheilt ist. Sollte man bei einer emotionalen Verletzung nicht auch mit einem langwierigen Heilungsprozeß rechnen? Wie lange wird es aber dauern, bis du dich wieder einigermaßen normal fühlst?
Die Forscherinnen Wallerstein und Kelly, die sich mit Scheidungskindern befaßten, haben festgestellt, daß bereits nach wenigen Jahren „die allgemeinen Ängste, der Kummer, der Schock, verbunden mit Nichtwahrhabenwollen, ... nachlassen oder ganz verschwinden“. Eine Reihe von Experten ist der Ansicht, innerhalb von nur drei Jahren sei das Schlimmste überstanden. Das kommt dir vielleicht wie eine Ewigkeit vor, aber es muß eben vieles geschehen, bis sich dein Leben wieder stabilisiert.
Das häusliche Leben beispielsweise — das durch die Scheidung gestört wurde — muß neu geregelt werden. Es kann Monate dauern, bis für die Mahlzeiten und die Wäsche wieder so gut gesorgt wird wie früher, besonders wenn deine Mutter berufstätig sein muß, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Es wird auch Zeit vergehen, bis deine Eltern ihr inneres Gleichgewicht wiedererlangt haben. Erst dann mögen sie imstande sein, dir die nötige Unterstützung zu gewähren.
Während dein Leben allmählich wieder geregelte Formen annimmt, wird es dir nach und nach bessergehen. Zeit ist die beste Medizin für Scheidungswunden. Doch du kannst mehr tun, als lediglich Zeit verstreichen zu lassen.
Hänge nicht der Vergangenheit nach
Der 12jährige Joseph sagte: „Vor der Scheidung herrschte bei uns zu Hause Leben. Wir gingen zu Baseballspielen, bastelten gemeinsam Modelle und sahen fern. Jetzt ist es ruhig und langweilig; ich weiß nicht, was ich machen soll, und wir gehen nicht mehr zu Baseballspielen.“ Ein sicherer Weg, den Kummer über eine Scheidung in die Länge zu ziehen, besteht darin, der Vergangenheit nachzuhängen. Salomo mahnte: „Sprich nicht: ‚Weshalb ist es geschehen, daß sich die früheren Tage als besser erwiesen haben als diese?‘, denn nicht zufolge von Weisheit hast du danach gefragt“ (Prediger 7:10). Erinnerungen nachzuhängen, wie das Leben früher war, wird dich nur deprimieren.
Der Vergangenheit nachzuhängen kann dich auch für die Gegenwart blind machen. Wie sah zum Beispiel die familiäre Situation vor der Scheidung aus? „Es gab immer Streit — meine Eltern schrien sich an und gaben sich Schimpfnamen“, gab Annette zu. Kann es sein, daß du jetzt etwas genießt, was du früher zu Hause vermißt hast — Ruhe und Frieden?
„Ich kann sie wieder zusammenbringen“
In dem Buch Stress, Coping, and Development in Children wird berichtet: „Einer überraschend hohen Zahl größerer Kinder fiel es auch schwer, die Scheidung als Realität zu betrachten, und ihr Verhalten spiegelte diese Schwierigkeit wider.“ Einige träumen davon, daß sie ihre Eltern wieder zusammenbringen können, und hängen womöglich solchen Phantasien auch dann noch nach, wenn die Eltern bereits einen neuen Ehepartner haben.
Doch dadurch, daß du die Scheidung nicht wahrhaben willst, ändert sich nichts. Und alle Tränen, alles Bitten und alle Intrigen der Welt könnten deine Eltern höchstwahrscheinlich nicht mehr zusammenbringen. Quäle dich also nicht damit, daß du unerfüllbare Erwartungen hegst. „Hinausgeschobene Erwartung macht das Herz krank“, heißt es in der Bibel (Sprüche 13:12). Nicht nur das, du kannst dadurch auch daran gehindert werden, etwas Lohnendes mit deinem Leben anzufangen. Wie Salomo sagte, gibt es „eine Zeit, etwas als verloren aufzugeben“ (Prediger 3:6). Nimm es daher hin, daß die Scheidung eine Realität und etwas Endgültiges ist — das wird entscheidend dazu beitragen, daß du darüber hinwegkommst.
Dich mit deinen Eltern einigen
Dies ist vielleicht eine der schwersten Aufgaben. Du magst es deinen Eltern zu Recht übelnehmen, daß sie dein Leben durcheinandergebracht haben. Ein junger Mann sagte verbittert: „Meine Eltern waren selbstsüchtig. Sie dachten überhaupt nicht an uns und daran, wie uns ihre Handlungsweise berührte. Sie machten einfach ihre eigenen Pläne.“ Ein Jugendlicher erzählte: „Mein Vater hat zwei Menschen in die Welt gesetzt und kümmert sich nicht einmal so viel um sie wie um sein neues Auto.“ Das alles mag wahr sein. Aber kannst du mit der drückenden Last des Zorns und der Verbitterung durch das Leben gehen, ohne dir zu schaden? Die Scheidungsforscherin Judith Wallerstein sagte: „Dieser Zorn entfremdete das Kind nicht nur von dem Vater oder der Mutter, sondern verleitete es oft ... zu boshaftem ... Benehmen, das darauf abzielte, den Elternteil, den es für die Scheidung verantwortlich machte, zu schikanieren und zu bestrafen.“
Die Bibel rät: „Möge alle boshafte Bitterkeit und Wut und Zorn ... von euch entfernt werden. Werdet aber gütig zueinander, voll zarten Erbarmens, einander bereitwillig vergebend“ (Epheser 4:31, 32). Wie kannst du jemandem vergeben, der dich so tief verletzt hat? Versuche, deine Eltern objektiv zu betrachten — als unvollkommene Menschen, die die verschiedensten Fehler begehen mögen. Ja, auch Eltern ‘sündigen und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes’ (Römer 3:23). Dies zu erkennen wird dir helfen, dich mit deinen Eltern zu einigen. Ein junger Mann sagte über seine Eltern, obwohl ihn die Scheidung immer noch schmerzt: „Trotz allem halte ich sie nach wie vor für nette Menschen. Ich denke, sie haben einfach bei der Wahl des Ehepartners Fehler gemacht.“
Nüchterne Objektivität wird dir auch eine Hilfe sein, das Scheitern ihrer Ehe nicht als eine persönliche Verletzung oder Zurückweisung zu betrachten, sondern als Problem zwischen ihnen.
Sprich über deine Gefühle
„Ich habe mich nie richtig darüber ausgesprochen, wie mich die Scheidung meiner Eltern berührte“, sagte ein junger Mann, der von Erwachet! interviewt wurde. Anfangs war er gelassen, doch dann regten sich immer mehr Gefühle, und es kamen ihm sogar die Tränen, als er über die Scheidung seiner Eltern sprach. Längst begrabene Gefühle kamen zum Vorschein. Überrascht gestand er: „Es hat mir wirklich geholfen, darüber zu sprechen.“
Auch dir wird es vielleicht helfen, dich jemandem anzuvertrauen, statt dich abzusondern. Teile deinen Eltern deine Gefühle, Ängste und Sorgen mit. (Vergleiche Sprüche 23:26.) Die Forschung zeigt, daß Kinder, die sich von einer Scheidung erholt haben, die Fähigkeit besitzen, „auf die Welt um sie herum zuzugehen, auf Stiefeltern, Lehrer, Freunde, Eltern von Freunden und Großeltern“. Auch reife Christen können eine Stütze sein. Keith beispielsweise erhielt in seinem Zuhause, das durch eine Scheidung auseinandergerissen worden war, kaum oder gar keine Unterstützung. Doch er sagte: „Die christliche Versammlung wurde mir zur Familie.“
Vor allem dein himmlischer Vater, der „Hörer des Gebets“, wird dir Gehör schenken (Psalm 65:2). „Vor ihm schüttet euer Herz aus“ (Psalm 62:8). Paul, ein Jugendlicher, erklärte, was ihm half, über die Scheidung seiner Eltern hinwegzukommen: „Ich betete immerzu und spürte stets, daß Jehova eine wirkliche Person ist.“
Das Leben geht weiter
Nach einer Scheidung wird nie wieder alles wie zuvor. Das bedeutet jedoch nicht, daß du kein erfolgreiches und glückliches Leben führen kannst. Die Bibel mahnt: „Seid nicht saumselig in euren Geschäften“ (Römer 12:11). Du solltest nicht zulassen, daß du vor Kummer, Schmerz oder Wut wie gelähmt bist, sondern daran denken, daß das Leben weitergeht. Strenge dich in der Schule an. Gehe einem Hobby nach. Sei „reichlich beschäftigt im Werk des Herrn“ (1. Korinther 15:58).
Über eine Scheidung hinwegzukommen ist nicht leicht. Es erfordert Anstrengung, Entschlossenheit und Zeit. Aber eines Tages wird sich in deinem Leben nicht mehr alles um die Scheidung deiner Eltern drehen.
[Bild auf Seite 23]
Erinnerungen nachzuhängen, wie das Leben früher war, wird dich nur deprimieren