Das Ohr — ein hervorragendes Kommunikationsmittel
MAN kann die Augen schließen, wenn man nichts sehen möchte. Man kann den Atem anhalten, wenn man nichts riechen möchte. Aber man kann seine Ohren nicht verschließen, wenn man nichts hören möchte. Die Wendung „sich taub stellen“ ist nur eine Metapher. Das Gehör arbeitet ebenso wie das Herz sogar im Schlaf weiter.
Die Ohren arbeiten rund um die Uhr, um uns mit unserer Umgebung in Kontakt zu halten. Sie selektieren, analysieren und entziffern das Gehörte und geben es an das Gehirn weiter. Auf einem Raum von etwa 16 Kubikzentimetern wendet das Ohr Grundsätze der Akustik, der Mechanik, der Hydraulik, der Elektronik und der höheren Mathematik an, um seine Aufgaben zu erfüllen. Es folgt nur einiges von dem, was gut funktionierende Ohren leisten können.
◻ Vom leisesten Geflüster bis zum donnernden Lärm eines startenden Düsenflugzeugs können unsere Ohren einen 10 000 000 000 000fachen Lautstärkeunterschied bewältigen. In der Fachsprache ist das ein Bereich von 130 Dezibeln.
◻ Die Ohren können in einem Raum voller Leute ein Gespräch auswählen und sich darauf konzentrieren oder in einem Orchester mit hundert Musikern einen falschen Ton heraushören, der von nur einem Instrument stammt.
◻ Die menschlichen Ohren können feststellen, wenn sich die Richtung, aus der eine Schallwelle kommt, nur um zwei Grad verändert. Das geschieht dadurch, daß man den winzigen Zeit- und Lautstärkeunterschied wahrnimmt, mit dem ein Geräusch an beiden Ohren ankommt. Selbst wenn der Zeitunterschied nur noch eine zehnmillionstel Sekunde beträgt, können die Ohren ihn feststellen und die Information an das Gehirn weitergeben.
◻ Unsere Ohren können 400 000 Geräusche erkennen und unterscheiden. Mechanismen im Ohr analysieren automatisch eine Schallwelle und vergleichen sie mit denen, die in unserem Gedächtnis gespeichert sind. So können wir unterscheiden, ob ein Ton von einer Geige oder von einer Flöte stammt oder wer am Telefon spricht.
Das „Ohr“, das man an der Seite des Kopfes sieht, ist in Wirklichkeit nur ein Teil unseres Ohrs, und zwar der sichtbarste Teil. Die meisten erinnern sich wahrscheinlich aus ihrer Schulzeit daran, daß das Ohr aus drei Abschnitten besteht: das Außen-, das Mittel- und das Innenohr. Das Außenohr besteht aus dem vertrauten „Ohr“ aus Haut und Knorpel und dem äußeren Gehörgang, der zum Trommelfell führt. Im Mittelohr bilden die drei kleinsten Knöchelchen des menschlichen Körpers — Hammer, Amboß und Steigbügel — eine Brücke, die das Trommelfell mit dem ovalen Fenster verbindet, dem Eingang zum Innenohr. Das Innenohr besteht aus zwei seltsam aussehenden Teilen: drei Bogengängen und der Schnecke.
Das Außenohr — ein guter Empfänger
Offensichtlich dient das Außenohr dazu, Schallwellen zu sammeln und sie den inneren Teilen des Ohrs zuzuleiten. Aber es leistet noch viel mehr.
Haben wir uns je gefragt, ob die gewundene Form des Außenohrs einem bestimmten Zweck dient? Man hat festgestellt, daß die Höhle in der Mitte des Außenohrs und der äußere Gehörgang so geformt sind, daß sie innerhalb eines gewissen Frequenzbereichs den Schall verstärken oder Resonanz erzeugen. Wie kommt uns das zugute? Die meisten wichtigen Merkmale der menschlichen Sprachlaute fallen etwa in diesen Bereich.a Während die Laute durch das Außenohr und den äußeren Gehörgang dringen, werden sie ungefähr um das Doppelte verstärkt. Das ist akustische Technik höchster Vollkommenheit!
Das Außenohr spielt auch beim Ausfindigmachen der Schallquelle eine wichtige Rolle. Wie bereits erwähnt, werden Geräusche, die von rechts oder von links kommen, durch den Unterschied in der Stärke und in der Zeit bestimmt, mit dem sie an beiden Ohren ankommen. Wie steht es aber mit Geräuschen von hinten? Wieder spielt die Form des Ohrs eine Rolle. Der Rand des Ohrs ist so geformt, daß er Geräusche, die von hinten kommen, beeinflußt und innerhalb des Bereichs von 3 000 bis 6 000 Hz eine Schalldämpfung bewirkt. Dadurch wird der Charakter des Geräuschs verändert, und das Gehirn interpretiert es als von hinten kommend. Geräusche von oben werden ebenfalls verändert, aber in einem anderen Frequenzbereich.
Das Mittelohr — der Traum eines Mechanikers
Die Aufgabe des Mittelohrs besteht darin, die akustische Vibration der Schallwelle in eine mechanische Vibration umzuwandeln und an das Innenohr weiterzuleiten. Was in dieser erbsengroßen Kammer vor sich geht, ist wahrhaftig der Traum eines Mechanikers.
Laute Geräusche verursachen nicht, wie man annehmen könnte, eine merkliche Bewegung des Trommelfells, sondern nur eine mikroskopisch geringe. Jene winzige Bewegung würde kaum bewirken, daß das mit Flüssigkeit gefüllte Innenohr darauf anspricht. Die Art und Weise, wie dieses Hindernis aus dem Weg geräumt wird, ist ein weiterer Beweis für die meisterhafte Konstruktion des Ohrs.
Die Verbindung der drei Knöchelchen im Mittelohr ist nicht nur empfindlich, sondern auch wirksam. Durch Hebelwirkung werden alle einwirkenden Kräfte um etwa 30 Prozent verstärkt. Außerdem ist das Trommelfell ungefähr 20mal größer als die Steigbügelfußplatte. Daher konzentriert sich die Kraft, die auf das Trommelfell ausgeübt wird, auf eine wesentlich kleinere Stelle am ovalen Fenster. Durch diese beiden Faktoren wird der Druck, der auf das schwingende Trommelfell wirkt, am ovalen Fenster um das 25- bis 30fache erhöht — gerade genug, um die Flüssigkeit in der Schnecke in Bewegung zu setzen.
Viele haben festgestellt, daß sich eine Erkältung mitunter auf das Gehör auswirkt. Das liegt daran, daß für eine richtige Funktion des Trommelfells der Druck auf beiden Seiten gleich sein muß. Normalerweise wird dies durch eine kleine Öffnung, die Ohrtrompete, bewirkt, die das Mittelohr mit dem Rachenraum verbindet. Die Ohrtrompete öffnet sich bei jedem Schlucken und baut so Druck ab, der sich im Mittelohr aufgebaut hat.
Das Innenohr — der wichtigste Teil des Ohrs
Vom ovalen Fenster geht es zum Innenohr. Die drei im rechten Winkel zueinander verlaufenden Schleifen, Bogengänge genannt, bilden das Gleichgewichtsorgan. Doch das eigentliche Hören beginnt in der Schnecke.
Die Schnecke besteht im Grunde aus drei mit Flüssigkeit gefüllten Röhren oder Gängen, die wie ein Schneckenhaus gewunden sind. Zwei der Gänge sind an der Schneckenspitze miteinander verbunden. Wenn das ovale Fenster an der Schneckenbasis durch den Steigbügel in Bewegung gesetzt wird, bewegt es sich wie ein Kolben hin und her und erzeugt hydraulische Druckwellen in der Flüssigkeit. Während diese Wellen zur Spitze hin und zurück verlaufen, versetzen sie die Wände, die die Gänge voneinander trennen, in wellenförmige Bewegungen.
Auf einer dieser Wände, der Basilarmembran, befindet sich das hochempfindliche Cortische Organ, benannt nach Alfonso Corti, der dieses eigentliche Hörzentrum 1851 entdeckte. Sein entscheidender Teil besteht aus Reihen sensorischer Haarzellen, die mindestens 15 000 zählen. Von diesen Haarzellen leiten Tausende von Nervenfasern Informationen über die Frequenz, Intensität und Klangfarbe des Geräuschs an das Gehirn weiter, das für die Gehörempfindung verantwortlich ist.
Das Geheimnis gelüftet
Wie das Cortische Organ diese komplizierte Information dem Gehirn mitteilt, war lange Zeit ein Geheimnis. Wissenschaftler wußten, daß das Gehirn nicht auf mechanische Schwingungen reagiert, sondern nur auf elektrochemische Veränderungen. Das Cortische Organ muß also die wellenförmige Bewegung der Basilarmembran irgendwie in entsprechende elektrische Impulse umwandeln und diese dem Gehirn zuführen.
Es hat den ungarischen Wissenschaftler Georg von Békésy 25 Jahre gekostet, das Geheimnis dieses winzigen Organs zu lüften. Er entdeckte, daß die hydraulischen Druckwellen, die durch die Gänge der Schnecke verlaufen, irgendwo einen Höhepunkt erreichen und auf die Basilarmembran stoßen. Wellen, die von Geräuschen mit hoher Frequenz erzeugt werden, stoßen an der Schneckenbasis auf die Membran, und Wellen niederfrequenter Geräusche stoßen an der Spitze auf die Membran. Békésy schlußfolgerte daher, daß Töne von einer bestimmten Frequenz Wellen erzeugen, die die Basilarmembran an einer bestimmten Stelle biegen, worauf die dortigen Haarzellen reagieren und Signale an das Gehirn senden. Die Lage der Haarzellen würde der Frequenz entsprechen und die Zahl der gereizten Haarzellen der Intensität.
Diese Erklärung ist für einfache Töne gültig. In der Natur auftretende Geräusche sind jedoch selten einfach. Das Quaken eines Ochsenfrosches klingt ganz anders als ein Trommelschlag, obwohl beide Geräusche die gleiche Frequenz haben können. Das liegt daran, daß jedes Geräusch aus einem Grundton und vielen Obertönen besteht. Die Zahl der Obertöne und ihre relative Stärke verleihen jedem Geräusch seine bezeichnende Klangfarbe, seinen Charakter. Dadurch können wir die Geräusche, die wir hören, erkennen.
Die Basilarmembran kann auf alle Obertöne eines Geräuschs gleichzeitig reagieren und feststellen, wie viele und welche Obertöne vorhanden sind, und so das Geräusch identifizieren. In der Mathematik heißt dieser Vorgang Fourier-Analyse, benannt nach dem genialen französischen Mathematiker Jean-Baptiste Joseph Baron de Fourier aus dem 19. Jahrhundert. Doch das Ohr hat dieses fortgeschrittene mathematische Verfahren schon immer angewandt, um die gehörten Geräusche zu analysieren und die Information dem Gehirn mitzuteilen.
Man ist heute immer noch nicht sicher, welche Art Signale das Innenohr an das Gehirn weitergibt. Untersuchungen offenbaren, daß die Signale von allen Haarzellen an Länge und Stärke etwa übereinstimmen. Daher glaubt man, daß nicht der Inhalt der Signale, sondern die einfachen Signale an sich dem Gehirn eine Nachricht zuführen.
Um die Bedeutung dessen zu erkennen, denken wir an das Kinderspiel „Stille Post“, bei dem der Reihe nach ein Kind dem anderen eine Geschichte zuflüstert. Was das letzte Kind hört, hat oft keine Ähnlichkeit mehr mit der ursprünglichen Botschaft. Wenn ein Code, zum Beispiel eine Nummer, statt einer komplizierten Geschichte weitergesagt wird, wird sie höchstwahrscheinlich nicht verdreht. Und etwas Ähnliches geschieht offensichtlich im Innenohr.
Interessanterweise wird bei den heutigen modernen Kommunikationssystemen ein Verfahren namens Pulscodemodulation angewandt, das auf dem gleichen Prinzip beruht. Statt Einzelheiten zu senden, wird ein entsprechender Code gesendet. Auf diese Weise wurden Bilder vom Mars in Binärcodes zur Erde geschickt oder werden Töne für Aufnahmen und Playbacks digitalisiert. Aber wieder hat das Ohr diese Leistung zuerst vollbracht.
Ein schöpferisches Meisterwerk
Das menschliche Ohr ist vielleicht nicht das schärfste oder empfindlichste unter den Ohren der Lebewesen, doch es ist für die Befriedigung eines unserer größten Bedürfnisse hervorragend geeignet — das Bedürfnis nach Kommunikation. Unsere Ohren sind so konstruiert, daß sie besonders gut auf die Merkmale menschlicher Sprachlaute reagieren. Babys müssen die mütterliche Stimme hören, um sich richtig entwickeln zu können. Und während sie heranwachsen, müssen sie die Stimme anderer Menschen hören, um eine Sprache zu erlernen. Die Ohren ermöglichen es ihnen, die feinen Klangunterschiede innerhalb einer Sprache so genau wahrzunehmen, daß sie sie später genauso sprechen, wie es nur ein Einheimischer kann.
All das ist nicht das Ergebnis blinder Evolution. Vielmehr haben wir die wunderbare Gabe des Gehörs unserem liebevollen Schöpfer, Jehova, zu verdanken (Sprüche 20:12). Unsere Ohren sind wirklich ein schöpferisches Meisterwerk und ein Ausdruck der Weisheit und Liebe unseres Konstrukteurs. Durch sie können wir uns mit unseren Mitmenschen verständigen. Aber vor allem wollen wir sie gebrauchen, um der Weisheit aus Gottes Wort zu lauschen, so daß wir von unserem himmlischen Vater, Jehova Gott, lernen können.
[Fußnote]
a Die meisten charakteristischen Merkmale menschlicher Sprachlaute fallen in den Bereich von 2 000 bis 5 000 Hz (Schwingungen pro Sekunde), und das sind etwa die Frequenzen, bei denen der äußere Gehörgang und die Höhle in der Mitte des Außenohrs Resonanz erzeugen.
[Diagramm auf Seite 19]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
AUSSENOHR
Ohr
Gehörgang
Trommelfell
MITTELOHR
Hammer
Amboß
Steigbügel
Ohrtrompete
INNENOHR
Bogengänge
ovales Fenster
Schnecke
[Diagramm auf Seite 20]
(Genaue Textanordnung in der gedruckten Ausgabe)
Skizze zeigt die drei Gänge aufgerollt
SCHNECKE
Vorhoftreppe
Schneckengang
Paukentreppe