Das Vikunja trägt Wolle nur vom Feinsten
Von unserem Korrespondenten in Bolivien
WAS macht die Wolle des Vikunjas zu etwas so Besonderem? Und warum ist sie so rar?
Vielleicht hast du schon ein ähnliches Tier gesehen — das Lama, dieses hochnäsig aussehende Lasttier mit den langsamen Bewegungen, das so häufig in den Zoos anzutreffen ist. Seine Wolle ist sehr grob. Möglicherweise hast du auch schon einmal Kleidungsstücke aus dem weichen Haar des Alpakas (eines anderen domestizierten Tieres der Anden, das wegen seiner Wolle gehalten wird) in der Hand gehabt. Aber hast du je ein Vikunja gesehen?
Das Vikunja ist anders. Es ist wild. Berühr sein Fell — wenn du kannst! Es ist die feinste Wolle der Welt. Der Haardurchmesser ist weniger als halb so groß wie bei der feinsten Schafwolle.
Das Vikunja braucht dieses isolierende Fell, denn es lebt in einer Höhe zwischen 3 700 und 5 500 Metern an den Hängen der Anden. Dort, nahe der Schneegrenze, sind die Tage zwar schön warm, doch bei Einbruch der Nacht fallen die Temperaturen plötzlich auf mehrere Grad unter Null. Viele Gebiete auf der westlichen Seite der Anden sind außerdem trockene Wüsten. Wie können die Vikunjas in dieser Umgebung überleben?
Neben dem besonderen Fell verfügen Vikunjas über Blut, das so reich an roten Blutkörperchen ist, daß sie sogar in der großen Höhe, wo sie leben, über einige Entfernung mit 50 km/h laufen können, ohne zu ermüden. Und wie Kamele können sie unter extrem trockenen Bedingungen überleben. Vikunjas, Lamas, Alpakas und Guanakos gehören ja auch zur Familie der Kamele. Doch unser Schöpfer hat den Vikunjas noch eine weitere Überlebenshilfe mit auf den Weg gegeben.
Während Lamas und Alpakas das ganze Jahr hindurch gebären, ist dies bei Vikunjas nur im März und April der Fall, d. h. am Ende der Regenperiode und damit in der Zeit des größten Nahrungsangebots. Außerdem bringen sie ihren Nachwuchs normalerweise in den Morgenstunden zur Welt, so daß das Kleine Zeit hat, trocken zu werden, bevor es seinen ersten Nachtfrost erlebt. Die Mutter sondert sich von der Herde ab, die aus ungefähr 20 Tieren besteht, und bringt nach etwa einer halben Stunde das Junge zur Welt, das weniger als 6 Kilo wiegt. Sie tut nichts, um ihm zu helfen, ja sie leckt es noch nicht einmal ab. Wenn es regnet, schwächt die Kälte das Neugeborene und macht es so zu einer leichten Beute des größten fliegenden Vogels der Welt, des Andenkondors. Aber bald ist das Neugeborene auf den Beinen, und nach einer halben Stunde kann es schon schneller laufen als ein Mensch.
Traurigerweise haben habgierige Wilderer die Vikunjas fast ausgerottet, oftmals mit Hilfe von automatischen Waffen. In manchen Jahren sind über 20 000 Kilo Wolle exportiert worden. Fast alles stammte von illegal erlegten Tieren. Einige Staaten haben in dem Bemühen, das Vikunja vor dem Aussterben zu retten, den Import von Vikunjawolle und -häuten untersagt.
Warum ist die Wolle so warm?
Jede Wolle ist warm, da sie im Gegensatz zu Seide, Baumwolle oder Polyester winzige Schuppen an den hohlen, luftgefüllten Fasern hat, die miteinander verhaken und so die isolierende Luft eingeschlossen halten. Zusätzlich ist Wolle von Natur aus gelockt oder gewellt und bleibt das auch nach der Verarbeitung oder dem Waschen. So kommt sie weniger mit der Haut in Berührung als andere Fasern. Auch nimmt Wolle Feuchtigkeit auf — bis zu 30 Prozent ihres Gewichts —, ohne sich feucht anzufühlen.
Die seidige Vikunjawolle ist bedeutend feiner als jede andere Wolle. Und gewöhnlich ist die Qualität von Wolle um so besser, je feiner sie ist. Feinere Wolle liefert feineres Garn und feinere Kleidungsstücke — Kleidungsstücke, die sich weich, leicht und warm anfühlen. Ein Schal aus Vikunjawolle ist so fein, daß man ihn durch einen Ehering ziehen kann. Da die feinen Fasern sehr empfindlich gegen chemische Behandlungen sind, wird Vikunjawolle normalerweise in seiner natürlichen goldenen Farbe belassen.
Das Fell der Vikunjas wurde schon vor der spanischen Eroberung im 16. Jahrhundert von den Inkas geschätzt. Damals durchstreiften Millionen von Vikunjas die Anden. Alle paar Jahre wurden Tausende von Indianern aufgeboten, die ganze Berge umringten und die Vikunjaherden einfingen, so daß die Tiere geschoren werden konnten. Vikunjatextilien waren ein anerkanntes Rangabzeichen, nur die Höchststehenden konnten sie tragen. Heutzutage ist es fast unmöglich, Vikunjatextilien legal zu erwerben.
Warum so rar?
Während ein Alpaka alle zwei Jahre 7 Kilo Wolle liefern kann, bringt es ein Vikunja nur auf ein halbes Kilo. Ist es denn nicht möglich, ausreichende Mengen für den kommerziellen Gebrauch von domestizierten Vikunjas zu erhalten?
„Persönlich halte ich das für einen Wunschtraum“, erklärte ein Wildhüter, der zu einer Forschungsstation auf dem bolivianischen Altiplano gehört. „Sehen Sie, Lamas und Alpakas sind zahm, aber Vikunjas sind wild. Sie springen über unsere Zäune, und wir brauchen dann viele Stunden, um sie wieder einzufangen. Als wir versuchten, sie zu dippen [baden], wehrten sie sich so heftig, daß zwei von ihnen starben.“ Offensichtlich sind einige Tiere geschaffen worden, um domestiziert zu werden, und andere nicht. Diesbezüglich sagt die Bibel, Gott habe „Haustiere und sich regende Tiere und wildlebende Tiere der Erde nach ihrer Art“ geschaffen (1. Mose 1:24). Doch wie sieht es mit einer Kreuzung von Vikunjas und domestizierten Alpakas aus?
Man hat das ausprobiert, aber die Nachkommen werden nach nur wenigen Generationen unfruchtbar. „Die einzige Möglichkeit, Vikunjatextilien legal herzustellen, besteht darin“, so der oben zitierte Wildhüter, „die wilden Tiere zu schützen, bis ihre Zahl genügend angewachsen ist, so daß sie zusammen in Netze getrieben werden können. Dann kann man sie wie zu Zeiten der Inkas scheren und wieder freilassen. Eine Reihe von Ländern hofft, bald soweit zu sein.“
Sicherlich ist es ein lohnendes Ziel, besser für die Tierwelt zu sorgen. Das hat man in vergangenen Generationen getan und wird es zweifellos in der Zukunft unter der gerechten Herrschaft Gottes tun (Jesaja 9:6; 11:6-9).