Der Sittenverfall — eine weitverbreitete Erscheinung
Jeder Bereich der Gesellschaft ist davon betroffen
DIE heutige Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Wertvorstellungen. Es herrschen große Unterschiede in bezug auf den Lebensstil. Für nicht wenige ist die folgende Einstellung charakteristisch: „Jeder Lebensstil ist eine annehmbare Alternative. Du läßt mir meinen Lebensstil, ich lass’ dir deinen. Du tust, was dir gefällt, und ich tue, was mir gefällt. Jeder lebe nach seiner Fasson. Viele Wege sind möglich, und jeder Weg ist richtig; nichts ist verkehrt. Sünde gibt es nicht mehr. Tritt für deine Rechte ein! Wer friedlich protestiert, redet in den Wind. Verschaffe dir Gehör durch Gewalt! Gewalt ist eine Form der Redefreiheit. Du kannst dich sexuell betätigen, mit wem du willst und auf welche Weise du willst. Obszönität ist Kunst. Halte dich an die Devise ‚leben und leben lassen‘!“
Oder sollte man eher sagen „sterben und sterben lassen“? Bis weit ins 20. Jahrhundert hatten die Menschen eine klare Vorstellung davon, was recht und was unrecht ist, was sittlich einwandfrei und was unsittlich ist, was rechtschaffen und was schändlich ist, und auf viele trifft das immer noch zu. Aber für andere setzte in den 50er Jahren ein Wandel ein, der später große Ausmaße annahm. Das gesamte Gedankengut über Tugend, Moral, Ehre und Sittlichkeit wurde als unlogisch, inhuman und unannehmbar hingestellt. Die nun vorherrschenden Ideen verherrlichten die Individualität. Sie förderten die Ansicht, jeder Mensch solle gemäß selbstbestimmten Zielen leben. Nun sollte der Sittenkodex lauten: Toleranz, Vielfältigkeit und Verzicht auf Werturteile. Nach der neuen Philosophie ist es verboten, etwas zu verbieten.
Die verheerenden Auswirkungen dieser Philosophie zeigten sich immer deutlicher und nahmen in den 80er Jahren überhand, aber auch in den 90er Jahren geht die Entwicklung so weiter. Es folgen einige Berichte über die katastrophalen Auswirkungen. Zunächst ein Auszug aus einem Vortrag zum Thema Werte, den ein stellvertretender Geschäftsleiter auf einer Konferenz über Geschäftsmoral in New York City hielt:
„Politiker betrügen ihre Wähler. Makler schröpfen ihre Kunden. Leitende Bankangestellte richten ihre Institution zugrunde und lassen den Steuerzahler für den Schaden aufkommen. Prediger und Möchtegerndirektoren betrügen ihre Frauen. Jugendliche betrügen bei Prüfungen, und Millionen ruinieren sich selbst und andere durch Drogen und Verbrechen. ... 50 Prozent aller Ehen enden mit Scheidung. 22 Prozent aller Kinder, die heute geboren werden, sind unehelich, und ein Drittel aller Kinder wird vor dem 18. Lebensjahr einen Stiefvater oder eine Stiefmutter haben. Die Zerrüttung der Familie ist zweifellos weit fortgeschritten. Wenn man davon ausgeht, daß die Entwicklung von Wertvorstellungen zu Hause — im Kindesalter — beginnt, sind die Gründe für den Sittenverfall offenkundig“ (Vital Speeches of the Day, 1. September 1990).
Täglich spiegeln Zeitungen, Zeitschriften, Nachrichtensendungen, Filme und Fernsehprogramme den Verfall althergebrachter Wertvorstellungen wider. An der Universität Chicago sagte der Vorstandsvorsitzende der Chase Manhattan Corporation in einer Rede:
„Ob man zuerst die Seiten über Sport aufschlägt oder die Meldungen aus Washington oder den Wirtschaftsteil — überall ergibt sich dasselbe Bild. Der Sportteil strotzt von Berichten über die jüngsten Skandale, bei denen Spieler für ein Bestechungsgeld absichtlich Punkte verschenkten, College-Teams wegen Verletzung der Vorschriften für das Anwerben von Mitgliedern eine Bewährungsfrist auferlegt bekamen und Berufssportler unter Drogeneinfluß antraten. Die Nachrichten aus Washington handeln von Strafprozessen wegen Meineid, von Bundesrichtern unter Anklage, von Amtsmißbrauch um finanzieller Vorteile willen und von dem neusten Ermittlungsverfahren der Ethikkommission des Repräsentantenhauses gegen einen Parlamentarier. Wendet man sich dem Wirtschaftsteil zu, so findet man dort Enthüllungen über Insidergeschäfte und ähnliches“ (Vital Speeches of the Day, 1. August 1990).
Die stetige und unerbittliche Flut solcher Nachrichten bewirkt, daß die Menschen dagegen unempfindlich werden. Skandale dieser Art beunruhigen sie nicht mehr. Der eben zitierte Sprecher bemerkte dazu: „Viele Amerikaner sind über Meldungen von einem weiteren Verstoß gegen ethische Grundsätze nicht mehr schockiert. Überführte Verbrecher sind keine Ausgestoßenen mehr. Sie sind berühmt. Sie werden zu Partys der Oberschicht eingeladen. Sie schreiben Bestseller.“
Ivan Boesky von der Wallstreet beendete einen Vortrag vor Handelsschülern, indem er mit seinen erhobenen Armen ein V für „victory“ (Sieg) bildete und sagte: „Es lebe die Habgier!“ Später verleitete ihn seine Habgier zu Insidergeschäften. Er kam vor Gericht und wurde zu einer Geld- und einer Haftstrafe verurteilt. Die Geldstrafe betrug 100 Millionen Dollar, aber es verblieben ihm noch über eine halbe Milliarde Dollar. Michael Milken, ein anderer Manipulant von der Wallstreet, mußte wegen seiner Geschäfte mit Junk-Bonds (Schuldverschreibungen mit besonders hohem Risiko) 600 Millionen Dollar Strafe bezahlen — fast soviel nahm er in einem Jahr ein! Eineinhalb Milliarden Dollar konnte er behalten.
In der Zeitschrift Industry Week erschien ein Artikel, dessen Überschrift die Frage aufwarf: „Erfolg ohne die Beachtung ethischer Grundsätze?“ Nach der Ansicht eines Fachberaters aus Utah hat sich die Firmenethik verschlechtert. Er sagte: „Meine Beobachtungen sprechen dafür, daß ein Geschäftsmann sich um so weniger um sittliche Normen kümmert, je erfolgreicher er ist.“ Ein Manager aus Michigan meinte: „Die Ethik betreffend, haben wir zwar allgemeine Richtlinien, aber die mittlere Führungsschicht ignoriert die Regeln mit der Begründung: ‚Das ist kein Verstoß gegen die Ethik, sondern lediglich Geschäftstüchtigkeit.‘“ Ein leitender Angestellter in Miami klagte: „Mit der Ethik geht es rapide bergab. Zuerst kommt der Profit, und das um jeden Preis.“ Andere Geschäftsleute drückten sich noch krasser aus. „Alles ist erlaubt“, sagte einer, und ein weiterer fügte treffend hinzu: „Wir halten uns an die Maxime: Tu’s, solange du dich nicht erwischen läßt.“
Eine Zersetzung der sittlichen Normen ist nicht nur unter Geschäftsleuten zu beobachten. Jeder Bereich der Gesellschaft ist mit dem Bazillus des Wertezerfalls infiziert. Zu viele Rechtsanwälte verdrehen eher das Recht, als es mit Respekt zu behandeln. Zu viele Wissenschaftler lassen sich zu Betrug und anderen Verstößen hinreißen in der Absicht, Zuschüsse von der Regierung zu erhalten. Zu viele Ärzte stehen in dem Ruf, mehr an stattlichen Honoraren als an ihren Patienten interessiert zu sein — und zu viele Patienten finden Möglichkeiten, Ärzte zu Unrecht wegen eines angeblichen Kunstfehlers zu verklagen.
Wohngebiete werden von den Folgen des Drogenmißbrauchs, von Verbrechen und Bandenkriegen erschüttert. Eheliche Untreue ruiniert Familien. Kleine Kinder werden sexuell mißbraucht, manche in Verbindung mit Kinderpornographie. Sex unter Jugendlichen führt zu Schwangerschaften, Abtreibungen und zur Vernachlässigung von Babys. Drogenhändler dringen in Schulhöfe ein. Schulkinder tragen Messer oder Schußwaffen bei sich, und die Lesefähigkeit nimmt weiter ab. Den besten Nachhilfeunterricht können hier die Eltern geben, indem sie ihren Kindern vorlesen, doch oft sind sie zu sehr mit dem Erwerb des Lebensunterhalts beschäftigt oder zu sehr auf ihre Selbstverwirklichung bedacht.
Auch die Musikindustrie trägt zur Auflösung sittlicher Werte bei, besonders in Verbindung mit einigen exzentrischen Heavy-metal-Rockgruppen. Ein Firmenberater erklärte: „Die Rockmusik hat sich als ein vollkommenes Mittel erwiesen, die Idee der sexuellen Freizügigkeit zu verkünden und zu verbreiten und den illegalen Drogenkonsum allgemein bekannt zu machen. Der starke Einfluß der Rockmusik bestand außerdem darin, daß sie Verachtung erzeugte gegenüber Eltern, älteren Generationen und sozialen Einrichtungen, die dem ungehemmten, von Drogenkonsum geprägten Lebensstil entgegenwirkten.“
Ein Ziel solcher Gruppen ist es, Anstoß zu erregen, zu schockieren und sich Gehör zu verschaffen mit Texten, die Ergüsse roher, gemeiner, widerlicher, unflätiger Gossensprache darstellen und von unmenschlicher Frauenschändung triefen. Zahlreiche Beschreibungen oralen und analen Geschlechtsverkehrs, Ermunterung zu sexueller Grausamkeit, hämische Freude in Verbindung mit wilden Vergewaltigungen, bei denen die weiblichen Geschlechtsorgane brutal verletzt werden — es gibt keine noch so grobe Obszönität, die nicht verherrlicht wird. Als eine Gruppe wegen ihrer Sittenlosigkeit vor Gericht stand, pries ein Professor der Duke-Universität (Nordkarolina, USA) die Mitglieder der Gruppe als literarische Genies und verteidigte ihre widerlichen Obszönitäten mit dem Hinweis, sie seien künstlerisch wertvoll. Das Schwurgericht stimmte zu und entschied, bei den Texten handle es sich nicht um Obszönitäten, sondern um Kunst.
Der Zerfall der Wertvorstellungen in der Gesellschaft zeigte sich in ähnlicher Weise, als letztes Jahr, drei Wochen nachdem ein Rap-Album von absurdester Obszönität erschienen war, bereits so viele Exemplare davon verkauft worden waren (über 1 Million), daß es auf den ersten Platz kam. Mit anderen Worten, es war damals der größte Schlager im Musikgeschäft. Die Namen, die sich solche Rockgruppen zulegen, entsprechen den Texten, die sie verwenden: „Mindestens 13 Gruppen [nennen sich] nach den männlichen Geschlechtsteilen, 6 nach den weiblichen, 4 nach dem Sperma; in 8 Namen geht es um Abtreibung, und einer hat mit einer Geschlechtskrankheit zu tun“ (U.S.News & World Report).
Ein Professor an der Universität Boston äußerte sich wie folgt über die Mapplethorpe-Ausstellung: „Ich habe sie mir im Institut für Zeitgenössische Kunst in Boston angeschaut. Wie auch andernorts sind die Werke dort gewissermaßen in Abteilungen aufgegliedert. Die ‚harten‘ Fotos waren ... so erschütternd pornographisch, wie man es sich nur vorstellen kann. Ich weiß nicht, ob sie ‚homoerotisch‘ waren, aber es waren Fotografien von Handlungen, die ich sonst nicht für möglich und schon gar nicht für angenehm halten würde.“ Die Obszönität der Ausstellung war Gegenstand einer Gerichtsverhandlung und wurde von einem Schwurgericht als Kunst eingestuft. Doch haben wir es hier wohl kaum mit Kunst zu tun und gewiß nicht mit einem Ausdruck moralischer Verantwortung, sondern mit einem Anzeichen dafür, daß wahre Werte unter Künstlern und Betrachtern weiter schwinden.
Wir brauchen Grenzen. Wir brauchen Richtlinien, die uns Festigkeit verleihen. Wir brauchen Ideale, auf die wir hinarbeiten können. Wir brauchen eine Rückkehr zum Ursprung wahrer Werte.
[Herausgestellter Text auf Seite 4]
Skandale beunruhigen die Menschen nicht mehr
[Herausgestellter Text auf Seite 5]
Schwurgerichte erklären grobe Obszönitäten für Kunst