Unter Druck im Kampf um mein Leben
„SCHLUCKEN Sie! Sie müssen den Druck im Ohr ausgleichen!“ Das waren die ersten Worte, die ich nach meiner Operation, einer Darmresektion, hörte. „Das ist ja komisch“, ging es mir durch den Sinn, „ich bin doch am Magen operiert worden. Warum sollten meine Ohren davon betroffen sein?“
Aber je besser ich meine Umgebung erkennen konnte, desto klarer wurde mir, daß ich nicht auf einer normalen Krankenstation lag. Ich befand mich in einem langen, engen, torpedoförmigen Raum — einer Überdruckkammer.
Komplikationen während der Operation
Meine Operation war, wie ich erfuhr, umfangreicher als eigentlich geplant. Der Krebs hatte auf meine Leber übergegriffen; und es waren massive innere Blutungen aufgetreten. Als ich den Operationssaal verließ, war mein Hämoglobinwert auf 3,6 gesunken (der normale Hämoglobingehalt beträgt bei Erwachsenen 15 g/100 dl Blut). Die Ärzte waren sehr beunruhigt und riefen meinen Vater ins Krankenhaus. Er ist ebenfalls ein Zeuge Jehovas, und so weigerte er sich, meine Entscheidung gegen eine Bluttransfusion umzustoßen (Apostelgeschichte 15:20, 29).
Der Operateur beeilte sich, die Genehmigung für die Benutzung der Überdruckkammer des Hochseetauchkomplexes in Dyce (nahe Aberdeen, Schottland) zu bekommen. Dadurch könnte der Sauerstofftransport in dem wenigen Blut, das in meinem Körper verblieben war, verbessert werden. Die Genehmigung wurde erteilt. Der Krankenwagen raste mit mir von Aberdeen in das acht Kilometer entfernte Dyce, wo ich einem Druck ausgesetzt wurde, der dem Druck in 15 Metern unter der Meeresoberfläche entsprach.
Das war für alle Beteiligten eine neue Erfahrung, denn die Kammer wurde normalerweise zur Dekompression von Tauchern benutzt, die an den Bohrinseln in der Nordsee beschäftigt waren. Bei dem ersten Einsatz der Kammer im Rahmen einer postoperativen Behandlung begleiteten mich zwei Krankenschwestern und ein Techniker, alle in den 20ern, in die Überdruckeinheit, wo sie bleiben mußten, bis der Überdruck wieder abgebaut war. Draußen bedienten Überdruckspezialisten die komplizierten Kontrollapparate.
Unter Druck
Luft wurde in die Kammer gepumpt, wodurch der Innendruck immer mehr anstieg. Ich atmete durch eine Maske bei dem Zweieinhalbfachen des normalen atmosphärischen Drucks, was bedeutete, daß sich meine Lunge mit dem Zweieinhalbfachen der üblichen Menge Sauerstoff füllte. Dadurch, daß der Sauerstoff in Lösung mit dem (jetzt durch Volumenexpander vermehrten) flüssigen Anteil des Blutes gezwungen wurde, konnte der Hämoglobinmangel ausgeglichen werden.a
Die nächsten paar Tage waren ziemlich schwierig. Nur nach einem strengen medizinischen Test durften Besucher in den angrenzenden Abschnitt, wo der Druck gesenkt werden konnte. Ein kleines Guckloch am vorderen Ende des Zylinders erlaubte es anderen Besuchern, mich zu sehen, doch alles, was ich von ihnen sehen konnte, war ein Auge.
Mein Bruder, der auch ein Zeuge Jehovas ist, besuchte mich für kurze Zeit in der Kammer. Dieser Besuch gab mir großen Auftrieb. Das gleiche traf auf all die Karten mit biblischen Gedanken zu, die mir meine vielen Freunde als Zeichen ihrer Liebe sandten. Diese Ermunterungen schienen immer gerade dann einzutreffen, wenn ich mich besonders schwach fühlte.
Am fünften Tag in der Kammer sprach mich der für die Einheit verantwortliche Arzt an. Offensichtlich war er besorgt; er erklärte: „Jetzt ist zuviel Sauerstoff in Ihrem Blut.“ Als Folge davon arbeitete anscheinend mein Knochenmark nicht mehr. Er sagte, mein Blut habe hämophile Eigenschaften angenommen und es sei zu erwarten, daß das wenige noch übrige Blut zufolge des Versagens des Gerinnungsmechanismus aussickern würde. (Zu diesem Zeitpunkt war mein Hämoglobin mit den Instrumenten nicht mehr meßbar. Der Wert lag etwa bei 2,6.)
Die Krankenschwestern brachen in Tränen aus. Ich tat, was ich konnte, um sie zu beruhigen, und legte den Ausgang in Jehovas Hände.
Dekompression — ein Erfolg!
Auf Anweisung des Arztes wurde sofort die Dekompression eingeleitet. Bei den Krankenschwestern zeigten sich die ersten Auswirkungen des langen Aufenthaltes unter Druck; drei Tage war bisher die längste Zeit gewesen, die jemand in der Kammer zugebracht hatte. Und heute war für uns alle bereits der fünfte Tag! Jetzt mußten wir noch zwei weitere Tage warten, an denen der Druck schrittweise gesenkt wurde.
Als der Arzt das nächste Mal kam, sah er weit zufriedener aus und verkündete: „Aus irgendwelchen Gründen ist Ihr Hämoglobinwert ein ganz klein wenig gestiegen.“ Er glaubte, daß das Knochenmark wieder zu arbeiten begonnen hatte. Ich war außer mir vor Freude.
Eine Woche nach der Operation wurde ich mit einem Hämoglobinwert von 4,6 endlich aus der Kammer entlassen und in die angrenzende Abteilung verlegt, wo ich auf den Krankenwagen wartete, der mich zur Intensivstation nach Aberdeen bringen sollte. Derweilen kam eine unserer Glaubensschwestern mit den Zeitschriften herein, die sie am vorhergehenden Abend im Königreichssaal bekommen hatte. Die Titelserie „Heilverfahren — Wer trifft die letzte Entscheidung?“ (Erwachet! vom 8. November 1984) kam genau zur richtigen Zeit. Ich verwandte diese Artikel, um die Gründe für meinen Standpunkt zu erklären.
Mein Hämoglobinwert stieg langsam auf über 5, und ich wurde von der Liste der kritisch Kranken genommen. Außer gutem, nahrhaften Essen erhielt ich keine weitere Behandlung. Mein Körper vollbrachte jetzt ganz allein eine erstaunliche Leistung. Am nächsten Tag wurde ich mit einem Hämoglobinwert von 7,8 entlassen.
Da man normalerweise nach einer solchen Operation eine längere Zeit für die Rehabilitation benötigt, wurde ich drei Monate von der Arbeit freigestellt, damit ich wieder zu Kräften kommen konnte. Der Hämoglobinwert meines Blutes erreichte jetzt 15,3; und ich nahm wieder 19 Pfund zu.
Wie froh bin ich die letzten Jahre gewesen, meine neugewonnenen Kräfte einzusetzen, um weiterhin mit anderen über meinen Glauben zu sprechen! Mein innigster Dank gilt Jehova, dem Erhalter des Lebens, aber auch dem zuvorkommenden medizinischen Personal, das bei mir eine so unorthodoxe Behandlungsmethode so erfolgreich anwandte. (Von Doreen Strachan erzählt.)
[Fußnote]
a Theoretisch ist der Ersatz von Körperflüssigkeiten durch Kochsalz-, Glukose- oder Dextranlösungen in Verbindung mit Sauerstoffüberdruck ein realistisches Verfahren in der Notfallbehandlung bei einer akuten Anämie zufolge eines Blutverlusts. Doch wie bei jeder medizinischen Behandlung können Komplikationen auftreten, und die sichere Bedienung einer Druckkammer erfordert viel Geschicklichkeit und Umsicht. (Siehe den Artikel „Eine lebenrettende neue Therapie“ in der Erwachet!-Ausgabe vom 22. August 1979.)
[Bild auf Seite 21]
Doreen, eine Woche nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus
[Bildnachweis auf Seite 20]
Mit freundlicher Genehmigung: Grampian Health Board