„Jetzt hängt es nur noch von Mia und von Jehova ab“
BEREITS im Mai 1991 spürte ich, daß mit meinem Körper irgend etwas nicht stimmte. Jedesmal, wenn ich weite Wege lief oder längere Strecken mit dem Fahrrad fuhr, hatte ich anschließend heftige Schmerzen in den Armen und Beinen, und die Gelenke schwollen an. Im Juli 1991 wurde ich auf der Hochzeit von einem meiner Brüder krank. Danach war ich mehr oder weniger ans Bett gefesselt und bekam seltsame rote Flecken im Gesicht und am Körper.
Meine Mutter begleitete mich zum Arzt, der mich schleunigst in ein Krankenhaus einwies, nicht weit entfernt von unserem Zuhause in Askim (Norwegen). Eingeschränkte Nierenfunktion und hoher Blutdruck lautete die Diagnose. Mein Hämoglobinwert lag nur noch bei 7,3 Gramm pro Deziliter; der Normalbereich liegt zwischen 11,5 und 16. Zwei Tage später wurde ich in ein größeres Krankenhaus gebracht, in dem es eine Abteilung gab, die auf Nierenerkrankungen spezialisiert war. Auf Grund der Ergebnisse verschiedener Blutuntersuchungen kam der Arzt zu dem Schluß, daß ich an systemischem Lupus erythematodes erkrankt war und daß mein Immunsystem Antikörper bildete, die meine Blutzellen und das Nierengewebe angriffen. Man behandelte mich mit Kortikosteroiden und Chemotherapie.
Da sowohl die Krankheit als auch einige der Medikamente schädliche Auswirkungen auf das Blut hatten, wurde die Blutfrage aktuell. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und sagte: „Ich bin eine Gott hingegebene, getaufte Zeugin Jehovas, und ich möchte kein Blut“ (1. Mose 9:4; Apostelgeschichte 15:28, 29). Daraufhin sprach der Arzt mit meiner Mutter unter vier Augen, und sie erklärte ihm, daß wir statt Bluttransfusionen gern eine andere Art der Behandlung wählen würden. Er meinte, er sei bereit, meinen Standpunkt zu respektieren, und werde sein Bestes tun, mir zu helfen.
In der Krankenakte, von der wir später eine Kopie erhielten, war folgendes vermerkt: „Die Patientin ist mündig, zurechnungsfähig und hinreichend informiert. Aus diesem Grund hält man es für erforderlich, den Standpunkt der Patientin zu respektieren.“ Außerdem hieß es: „Die Krankenhausstation ist angewiesen, die Entscheidung der Patientin, Blut abzulehnen, selbst wenn es ihren Tod bedeutet, zu respektieren.“
Medizinische Behandlung
In den folgenden Tagen versuchte man, mit Hilfe verschiedener Therapien den Blutdruck zu senken und auf diese Weise die Nieren zu entlasten. Ich vertrug die Medikamente jedoch nicht und kann mich nur noch erinnern, daß ich mich in dieser Zeit ständig übergeben mußte. Hin und wieder war ich sehr deprimiert, und meine Eltern und ich beteten oft zu Jehova um Hilfe und Kraft. Nach einem Monat Krankenhausaufenthalt durfte ich übers Wochenende nach Hause. Bei meinem zweiten Besuch zu Hause bekam ich einen schweren epileptischen Anfall, gefolgt von vier leichteren. Die Krankheit hatte inzwischen mein Zentralnervensystem angegriffen. Man brachte mich auf schnellstem Weg zurück ins Krankenhaus.
Die Ärzte beschlossen, andere Behandlungsmethoden anzuwenden. Man entzog dem Blut Plasma und entfernte auf diese Weise Antikörper, die die Blutzellen und das Nierengewebe angriffen. Dann verabreichte man mir Ringer-Lösung und Albumin. Ich hatte mit den Ärzten zuvor über diese Behandlung gesprochen und ihnen schriftlich mein Einverständnis dazu gegeben.a Trotz der Behandlung verschlechterte sich mein Zustand. Außerdem hatte ich den Ärzten mein Einverständnis zu einer Behandlung mit Immunglobulinen gegeben, doch zum damaligen Zeitpunkt wollten sie sie mir nicht verabreichen.b
Meine Nieren arbeiteten nicht mehr richtig. Die Serumkreatininwerte lagen bei 682; normalerweise bewegen sie sich zwischen 55 und 110.c Mein Blutdruck war nach wie vor hoch, und mein Hämoglobinwert pendelte sich bei 5 bis 6 Gramm pro Deziliter ein. Einmal betrug die Anzahl der Blutplättchen 17 000 pro Kubikmillimeter (die normale Zahl beträgt zwischen 150 000 und 450 000), und daher war das Risiko von Blutungen sehr hoch. Glücklicherweise begann die Zahl der Blutplättchen sofort wieder anzusteigen. Am folgenden Tag waren es bereits 31 000, und von da an wurden es immer mehr.
Liebevolle Unterstützung
Das Krankenhauspersonal war beeindruckt von den vielen Blumen, Briefen, Karten und Anrufen, die ich von liebevollen Glaubensbrüdern und -schwestern aus ganz Norwegen erhielt. Sie wunderten sich, daß eine 18jährige so viele Freunde hatte. Dadurch hatten wir Gelegenheit, ihnen von unserer christlichen Hoffnung und Jehovas liebevoller Organisation zu erzählen (Johannes 5:28, 29; Offenbarung 21:3, 4).
In der Zwischenzeit bemühte sich das Krankenhaus-Verbindungskomitee der Zeugen Jehovas fieberhaft, weitere Informationen über die Behandlung von Lupus erythematodes zu erhalten. Vom norwegischen Zweigbüro erhielten wir einen Artikel, der in einer japanischen medizinischen Fachzeitschrift veröffentlicht worden war. Darin wurden zwei komplizierte Fälle von Lupus erythematodes bei zwei jungen Frauen beschrieben, denen man Immunglobuline verabreicht hatte — mit gutem Erfolg. Während einer Besprechung mit den Ärzten baten meine Eltern die Ärzte, den Artikel zu lesen und zu prüfen, ob diese Informationen in meinem Fall irgendwie hilfreich sein könnten. Die Ärzte waren geteilter Meinung. Sie hatten beispielsweise Bedenken, weil über die Nebenwirkungen einer Behandlung mit Immunglobulinen nur begrenzte Informationen zur Verfügung standen.
Wegen Bluttransfusion unter Druck gesetzt
Inzwischen hatte ich bereits knapp acht Wochen im Krankenhaus zugebracht. Eines Nachts bekam ich starke Magenschmerzen, und auf Grund innerer Blutungen hatte ich blutigen Stuhl. Man rief einen Chirurgen herbei. Er meinte, ich müsse umgehend operiert werden und Blut bekommen, andernfalls würde ich innerhalb weniger Stunden sterben. Zu meiner Schwester, die bei mir saß, sagte er, sie solle mich lieber davon überzeugen, eine Bluttransfusion zu akzeptieren, sonst mache sie sich an meinem Tod mitschuldig. Das machte mich wütend, denn schließlich war es allein meine Entscheidung, daß ich eine Bluttransfusion ablehnte.
Die Ärzte wollten mit mir allein sprechen, um sicherzugehen, daß es sich wirklich um meine persönliche Entscheidung handelte und daß ich mir über die Folgen im klaren war, die sich ihrer Meinung nach aus der Verweigerung einer Bluttransfusion ergeben würden. 15 Minuten später waren sie davon überzeugt, daß ich von meiner Meinung nicht abzubringen war. Statt mich zu operieren, verabreichten mir die Ärzte zur Bekämpfung der Infektion Antibiotika.
Am 30. September, dem Tag nach der Diskussion mit den Ärzten, fiel mein Hämoglobinwert von 6,5 auf 3,5. Ich wurde auf die Intensivstation gebracht. Ich war so schwach, daß ich eine Atemmaske brauchte, um genug Sauerstoff zu bekommen. Obwohl ich während dieser kritischen Phase mehr oder weniger bei Bewußtsein war, kann ich mich an nichts mehr erinnern. Daher weiß ich nur vom Erzählen meiner Angehörigen und zweier christlicher Ältester, was sich in den darauffolgenden Tagen ereignete.
Mein Leben hing an einem seidenen Faden
Zu diesem Zeitpunkt waren die Ärzte damit einverstanden, eine Therapie mit intravenösen Infusionen von Immunglobulinen zu versuchen. Vom 9. bis 11. Oktober erhielt ich täglich sechs Gramm Immunglobulin. Da ich den Urin nicht halten konnte und meinen Stuhlgang nicht unter Kontrolle hatte, mußten die Krankenschwestern ständig die Bettwäsche wechseln. Mein Hämoglobinwert sackte immer weiter ab. In der Krankenakte hieß es: „Der niedrigste Hämoglobinwert, der bei ihr gemessen wurde, lag bei 1,4; später trat noch einmal Meläna [mit Blut vermengter Stuhl] auf, und man beschloß, auf weitere Blutentnahmen zu verzichten. Zu diesem Zeitpunkt war sie praktisch eine moribunde [sterbende] Patientin.“
Die Ärzte hatten inzwischen alle Hoffnung aufgegeben und meinten, ich werde, selbst wenn ich überleben sollte, einen Gehirnschaden davontragen und vielleicht auch teilweise gelähmt sein. Da sie sicher waren, daß sie nichts mehr für mich tun konnten, entschieden sie, die Behandlungen allesamt abzubrechen und mich lediglich noch mit Flüssigkeit zu versorgen. Mein Vater, der mich ständig ermutigte, nicht aufzugeben, saß am Bett und sagte: „Jetzt hängt es nur noch von Mia und von Jehova ab.“
Während dieser schweren Zeit saß immer jemand von der Versammlung neben meinen Angehörigen am Krankenbett. Einer von ihnen erzählte: „Am Samstag, den 12. Oktober rechnete abends keiner mehr damit, daß Mia die Nacht überleben würde. Doch am Sonntag morgen lebte sie immer noch. Am Nachmittag wurde ihre Atmung schwer, und alle dachten, das sei das Ende. Die ganze Familie versammelte sich um das Bett. Mia atmete tief ein und nach einer Ewigkeit wieder aus. Ihre Eltern durchlebten das Schlimmste, was Eltern passieren kann — ihr geliebtes Kind langsam sterben zu sehen. Ihr Vater meinte, wir sollten alle zu Jehova beten. Danach unterhielten wir uns leise und hofften, daß Mia nicht so lange leiden müsse.
Aber Mia starb nicht. Die Ärzte und die Krankenschwestern hatten noch nie erlebt, daß jemand mit solch schlechten Blutwerten überlebte. Da die Blutungen aufhörten, verschlechterte sich Mias Zustand nicht. Die Nacht ging vorüber, und Mia war immer noch am Leben.“
Wendepunkt
Am Montag, den 14. Oktober kam einer der Ärzte morgens zu mir. Ich lag im Halbschlaf und kann mich an die Episode nicht erinnern. Der Arzt stand an meinem Bett, und meine Mutter sagte: „Der Doktor möchte dir guten Morgen sagen.“ Ich erwiderte deutlich hörbar: „Hallo!“ Das hatte er nicht erwartet, und er war sehr überrascht und berührt.
Mein Gehirn hatte keinen Schaden genommen, und ich war auch nicht gelähmt. Die Behandlung wurde wiederaufgenommen. Man verabreichte mir intravenös Erythropoetin und Eisendextran sowie zweimal täglich Immunglobuline. Allmählich verbesserte sich mein Zustand. Am 16. Oktober stieg mein Hämoglobinwert auf 2,6 und am 17. Oktober auf 3,0. Von da an ging es immer mehr bergauf. Am 12. November wurde ich mit einem Hämoglobinwert von 8,0 aus dem Krankenhaus entlassen.
Wir wissen nicht genau, warum die Zerstörung der roten Blutkörperchen aufhörte und warum sich meine Blutwerte so schnell verbesserten. Offensichtlich spielte die Injektion von Immunglobulinen, Erythropoetin und Eisendextran eine große Rolle dabei. Anfang Mai 1992 war mein Hämoglobinwert mit 12,3 wieder normal, und seither bewegt er sich im Normalbereich.
Damit mein Zustand stabil bleibt, werde ich weiterhin ärztlich betreut, ansonsten bin ich wieder auf dem Posten. Am 28. November 1992 habe ich einen Glaubensbruder geheiratet, und wir dienen Jehova nun gemeinsam. Durch meine Krankheit und meinen Gehorsam in Verbindung mit Jehovas Gesetz über Blut bin ich Jehova nähergekommen. Ich freue mich auf die Zeit, wenn ich ihm mit ganzer Kraft bis in alle Ewigkeit dienen kann. (Von Mia Bjørndal erzählt.)
[Fußnoten]
a Dieses Verfahren ist als Plasmapherese bekannt und schließt ein erweitertes Blutkreislaufsystem ein. Wie im Wachtturm vom 1. März 1989 auf den Seiten 30 und 31 erklärt wird, bleibt die Entscheidung, ob man dieses Verfahren anwenden läßt, dem Gewissen des einzelnen überlassen.
b Wie im Wachtturm vom 1. Juni 1990 auf den Seiten 30 und 31 gezeigt wird, ist die Verwendung von Immunglobulinen, die aus einer kleinen Plasmafraktion bestehen, eine Gewissensentscheidung.
c Nach der in Deutschland gebräuchlichen Einheit betrugen Mias Werte 7,7; entsprechend bewegen sich die Normalwerte zwischen 0,6 und 1,2.