Opfer oder Märtyrer — Worin liegt der Unterschied?
IM Laufe der Geschichte hat die unmenschliche Behandlung von Männern, Frauen und Kindern endloses Leid verursacht und Millionen Menschen zu Opfern gemacht. Unschuldiges Blut wurde und wird vergossen, sei es nun aus politischen, nationalen, rassistischen oder religiösen Gründen. Haß siegt über Liebe und Verständnis. Intoleranz erstickt Toleranz. Und das Töten geht weiter.
Früher kämpfte eine Armee gegen eine andere, und nur relativ wenig Zivilisten waren davon betroffen. In unserem 20. Jahrhundert mit seinen Bombenflugzeugen, der weitreichenden Artillerie und den Langstreckenraketen sind die Verluste unter der Zivilbevölkerung so groß geworden, daß es in einer Studie heißt: „Mittlerweile sind die Zivilisten die Hauptleidtragenden in Kriegen. In unserem Jahrhundert sind in Kriegen weit mehr unbewaffnete Zivilisten als Berufssoldaten ums Leben gekommen.“ Unschuldige Menschen bilden das Kanonenfutter für die von politischen Führern in Gang gesetzten Kriegsmaschinen. In diesem Jahrhundert ist die Zahl der Kriegsopfer in die Höhe geschnellt — es gab bisher über 100 Millionen Tote, und Hunderte von Millionen Menschen haben aufgrund von Verletzungen und des Verlusts lieber Angehöriger schrecklich gelitten.
Außer den Opfern heutiger Auseinandersetzungen gibt es noch die Märtyrer.a Worin unterscheiden sich Opfer von Märtyrern? Millionen — Juden, Slawen, Zigeuner, Homosexuelle und andere — starben als Opfer im nationalsozialistischen Deutschland für das, was sie waren. Sie konnten nicht entkommen, ihnen blieb keine Wahl. Unter jenem üblen Herrschaftssystem war ihr Tod unausweichlich. Im Gegensatz dazu mußten andere nicht unbedingt sterben. Sie hätten dem Tod entgehen können, doch sie entschieden sich nicht dafür, weil sie an ihren Grundsätzen festhielten.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist der katholische Geistliche Maximilian Kolbe, der im Zweiten Weltkrieg jüdischen Flüchtlingen half. 1941 „kam er nach Auschwitz, wo er sich freiwillig anbot, für den zum Tode verurteilten Gefangenen Franciszek Gajowniczek zu sterben. Dem Hungertod nahe, erhielt er schließlich eine Phenolspritze und wurde verbrannt“ (Encyclopædia Britannica). Er war ein sich aufopfernder Märtyrer — eine große Ausnahme unter den Angehörigen der protestantischen und katholischen Religionsgemeinschaften.
Während der NS-Herrschaft (1933—45) hatten Jehovas Zeugen grausame Verfolgung zu erdulden, weil sie den Mut aufbrachten, neutral zu bleiben, und Hitler nicht in seinen Kriegsbemühungen unterstützten. Tausende von ihnen schickte man in die schrecklichen Konzentrationslager, wo viele entweder hingerichtet wurden oder an den Mißhandlungen starben. Doch sie hätten den Leiden und dem Tod entgehen können. Sie konnten es sich aussuchen; man bot ihnen einen Ausweg an. Sie brauchten nur ein Schriftstück zu unterschreiben, durch das sie ihrem Glauben abgeschworen hätten, und wären dann freigelassen worden. Die allermeisten lehnten es jedoch ab zu unterschreiben und wurden so nicht nur zu Opfern des NS-Terrors, sondern auch zu Märtyrern. Daher sind zwar alle Märtyrer gleichzeitig Opfer, doch nur wenige Opfer wurden freiwillig zu Märtyrern. Sie waren siegreich angesichts des Todes.
Unparteiisches Zeugnis etlicher Personen, die keine Zeugen Jehovas waren, beweist diese Tatsache. „Der Schweizer Pfarrer Bruppacher bemerkte 1939: ‚Während Männer, die sich Christen nennen, in den entscheidenden Prüfungen versagt haben, weigern sich diese unbekannten Zeugen von Jehova als christliche Märtyrer standhaft, ihr Gewissen zu verletzen und heidnische Götzenanbetung zu pflegen ... Sie leiden und bluten, weil sie als ‚Zeugen Jehovas‘ und Anwärter des Königreiches Christi die Hitlerverehrung ... [und] das Hakenkreuz ... ablehnen.‘“
Doch nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland haben Jehovas Zeugen ihre Lauterkeit angesichts des Todes bewahrt. Sie mußten auch unter dem Kommunismus, dem Faschismus und unter anderen Formen politischer Tyrannei sowie infolge religiöser Gegnerschaft Mut bekunden. Selbst in den sogenannten demokratischen Ländern des Westens sahen sie sich Gewalt gegenüber. Im nächsten Artikel wird etwas genauer auf Erlebnisse von Zeugen eingegangen, die angesichts des Todes den Sieg davongetragen haben.
[Fußnote]
a Ein Opfer ist jemand, „der durch jmdn., etw. umkommt, Schaden erleidet“. Ein Märtyrer ist dagegen jemand, „der um des ... Glaubens willen Verfolgung, schweres körperliches Leid, den Tod auf sich nimmt“, „jmd., der sich für seine Überzeugung opfert“ (Deutsches Universalwörterbuch).
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Nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilten ostdeutsche Gerichte Zeugen Jehovas ungesetzlicherweise als amerikanische Spione
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Neue Berliner Illustrierte