Läßt sich die Welt vereinen?
„Allzuoft schien ‚Hasse deinen Nächsten‘ das Motto des Jahres [1992] zu sein.“
ZU DIESEM Schluß kam die Zeitschrift Newsweek. Weiter hieß es: „Für diese Streitereien — Nachbar gegen Nachbar, Rasse gegen Rasse und Nationalität gegen Nationalität — ist der Mensch von jeher anfällig gewesen, und die Ereignisse von 1992 lassen Zweifel daran aufkommen, ob wir in ihrer Bewältigung auch nur die geringsten Fortschritte erzielt haben.“
Unlängst haben Belagerungen, Massaker und Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien weltweit Schlagzeilen gemacht. Allein in Bosnien und Herzegowina gab es 150 000 Tote und Vermißte. Etwa 1 500 000 haben ihr Zuhause verloren. Sind wir der Meinung, die Gegend, wo wir wohnen, könnte niemals Schauplatz von solch tragischen Ereignissen werden?
Der UN-Sonderbeauftragte José-María Mendiluce sagte warnend: „Menschen lassen sich ohne große Schwierigkeiten in Haß- und Killermaschinen umwandeln. ... Im Westen wird oft angenommen, der Krieg, der nur drei Stunden von Venedig entfernt tobt, sei einfach darauf zurückzuführen, daß sich die Leute auf dem Balkan grundlegend von anderen Europäern unterschieden. Das ist ein äußerst gefährlicher Irrtum.“
Nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 kam es bald zu Kämpfen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen. In der ehemaligen Sowjetrepublik Georgien wurden ungefähr 1 500 Personen getötet und 80 000 vertrieben. Kämpfe in Moldawien forderten Hunderte von Todesopfern und zwangen Tausende zur Flucht. Verluste an Menschenleben gab es ferner bei Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie in anderen früheren Sowjetrepubliken.
Die größte der ehemaligen Sowjetrepubliken ist Rußland. Selbst dort streben viele Volksgruppen die Bildung eigener, unabhängiger Staaten an. So berichtete die Zeitung The European in diesem Sommer: „Der russischen Föderation droht die Aufsplitterung.“ Das Blatt bemerkte: „Innerhalb weniger Wochen haben drei Regionen durch Abstimmung beschlossen, die Republik auszurufen ... Drei weitere Regionen haben in der vergangenen Woche angedeutet, daß sie sich anschließen wollen.“
Wenn separate Staaten gegründet werden, mag man sich an weniger bekannte Namen wie Kaliningrad, Tatarstan, Stawropol, Tschetschnja, Wologda, Swerdlowsk, Baschkortostan, Jakutija und Primorje erst gewöhnen müssen. Erinnert das nicht an die Situation im früheren Jugoslawien — wo Serbien, Kroatien und Slowenien gegründet wurden und wo möglicherweise noch weitere Staaten entstehen werden?
Der amerikanische Außenminister Warren Christopher sprach vom „Ausbruch lang unterdrückter ethnischer, religiöser und regionaler Konflikte“ und warf die Frage auf: „Wie viele Staaten wird es wohl geben, wenn wir keine Regelung finden, nach der die verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Staat zusammen leben können?“ Die Zahl ginge in die Tausende, sagte er.
Überall Spaltungen
Schätzen wir einmal, wie viele ethnische, religiöse und regionale Konflikte zu Beginn dieses Jahres im Gang waren. Vielleicht 4, 7, 9, 13 oder gar 15? Im Februar wurden in der New York Times 48 aufgezählt! Auch wenn das Fernsehen nicht aus allen 48 Gebieten Aufnahmen von blutüberströmten Leichen und zu Tode erschrockenen Kindern bringt, ändert das sicherlich nichts an der tragischen Wirklichkeit.
Kaum irgendwo auf der Erde scheinen Kämpfe ausgeschlossen zu sein. In Nigeria, einem Land, in dem etwa 200 ethnische Gruppen leben, droht ein Bürgerkrieg. „Es ist durchaus möglich“, schrieb die Zeitschrift Time, „daß bei einem solchen Konflikt die drei größten ethnischen Gruppen — Hausa, Ibo und Yoruba — aufeinander losgehen werden.“ In der Zeitschrift hieß es weiter: „Nach Ansicht einiger Kommentatoren kann Nigeria jederzeit ein zweites Jugoslawien werden.“
Ethnische Kämpfe haben auch das westafrikanische Land Liberia verwüstet. Ein Guerillaführer versuchte, mit der Unterstützung der Stämme Gio und Mano den Präsidenten, einen Angehörigen der Volksgruppe der Kran, zu stürzen. Das führte zu einem Bürgerkrieg, in dessen Verlauf über 20 000 Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben wurden.
In Südafrika streiten sich Weiße und Schwarze um die politische Macht. Es kämpft aber nicht nur Schwarz gegen Weiß. Allein im letzten Jahr starben rund 3 000 Personen bei Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden schwarzen Gruppen.
In Somalia kamen ungefähr 300 000 Menschen ums Leben und eine Million wurde obdachlos, als durch Klanfehden ein Bürgerkrieg ausgelöst wurde. Bei Zusammenstößen zwischen Hutu und Tussi in Burundi und Ruanda hat es während der vergangenen Jahre Tausende von Toten gegeben.
Die Kämpfe zwischen Juden und Arabern in Israel, zwischen Hindus und Muslimen in Indien und zwischen Protestanten und Katholiken in Irland scheinen kein Ende zu nehmen. Auch in Los Angeles (Kalifornien) forderten Rassenunruhen im letzten Jahr mehr als 40 Menschenleben. Überall, wo Angehörige verschiedener Rassen, Nationalitäten oder Religionen eng beisammen leben, sind Feindseligkeiten an der Tagesordnung.
Können Menschen einen Ausweg aus dem Dilemma der ethnischen Konflikte schaffen?
Menschliche Bestrebungen
Betrachten wir zum Beispiel, was aus den Bestrebungen im früheren Jugoslawien und in der früheren Sowjetunion geworden ist. Die Gründung Jugoslawiens im Jahre 1929 war ein Versuch, verschiedene Volksgruppen Südosteuropas in e i n e m Staat zu vereinigen. Die Sowjetunion entstand ebenfalls durch einen Zusammenschluß von Völkern ganz unterschiedlicher rassischer, religiöser und nationaler Herkunft. Viele Jahrzehnte lang wurden beide Länder von starken Zentralregierungen zusammengehalten, und es schien, als hätten die Bewohner miteinander zu leben gelernt.
„Vor dem Krieg glich die ethnische Landkarte von Bosnien und überhaupt von Jugoslawien einem Jaguarfell“, erklärte ein einflußreicher Serbe. „Die Völker waren unzertrennbar miteinander vermischt.“ Tatsächlich gehörten bei etwa 15 Prozent der Ehen in Jugoslawien die Ehepartner nicht derselben ethnischen Gruppe an. In der Sowjetunion wurde durch die Vermischung der Volksgruppen ein ähnlicher Zustand scheinbarer Einheit erreicht.
Der Ausbruch ethnischer Konflikte nach so vielen Jahrzehnten scheinbaren Friedens war daher ein schwerer Schlag. Wie ein Journalist schrieb, „teilt man die Landkarte des einstigen Jugoslawien heute nach Rassen, Religionen und Nationalitäten auf“. Wieso brachen die beiden erwähnten Länder auseinander, als ihre mächtigen Regierungen gestürzt wurden?
Bedeutende Faktoren
Andere wegen ihrer ethnischen Herkunft zu hassen ist dem Menschen nicht angeboren. Gewöhnlich treffen die Worte eines ehemals bekannten Liedes zu: „Den Kindern schon, wenn sie noch klein, Verwandte prägen sorgsam ein, wie hassenswert die Menschen sei’n, die jeder haßt in ihren Reih’n.“ Das Lied handelte von einem jungen Paar mit deutlichen Rassenunterschieden. Doch wie der Psychologe Žarko Kovac bemerkte, bestehen unter den Bewohnern des ehemaligen Jugoslawien „kaum irgendwelche äußeren Unterschiede“. Trotzdem hat die Gewalttätigkeit dort unglaublich brutale Formen angenommen. „Wer jemand umgebracht hat, verstümmelt ihn, damit man nicht mehr erkennt, daß es sein Bruder war“, stellte Kovac fest.
Sicherlich liegt der Rassen- oder Völkerhaß nicht in der Natur des Menschen. Man bekommt ihn von Propagandisten und Verwandten eingeprägt, die von früheren Greueltaten erzählen. Wer könnte der eigentliche Urheber sein? Ein Geschäftsmann aus Sarajevo konnte sich die Schrecken des Krieges nur so erklären: „Nach einem Jahr Krieg in Bosnien denke ich, daß Satan der Drahtzieher ist. Es ist heller Wahnsinn!“
Zwar glauben viele nicht, daß Satan, der Teufel, existiert, aber die Bibel weist deutlich auf die Existenz einer unsichtbaren, übermenschlichen Person hin, die einen verderblichen Einfluß auf das Verhalten von Menschen ausübt (Matthäus 4:1-11; Johannes 12:31). Wenn man bedenkt, wie unvernünftig all die Vorurteile, der Haß und die Gewalttätigkeiten sind, wird man vielleicht zugeben, daß die Bibel keineswegs unrealistisch ist, wenn sie sagt, daß derjenige, der „Teufel und Satan genannt wird, ... die ganze bewohnte Erde irreführt“ (Offenbarung 12:9; 1. Johannes 5:19).
Ein Hoffnungsstrahl
Nach dem weltweiten Aufruhr in jüngster Zeit zu urteilen, ist der Traum von einer vereinten Menschheit anscheinend in unerreichbare Ferne gerückt. Nationalistische und ethnische Rivalitäten bedrohen mehr denn je die Existenz des Menschen. Durch die Finsternis der Welt dringt jedoch ein helleuchtender Hoffnungsstrahl! Im Sommer 1993 hat eine Gruppe bewiesen, daß ihre Angehörigen, obwohl sie aus verschiedenen sich bekämpfenden Völkern stammen, durch etwas verbunden sind, was ihnen hilft, ethnische Spannungen zu überwinden und in Liebe und Einheit zusammenzuarbeiten.
Dieses verbindende Element ist überraschenderweise gerade das, was oft entzweiend gewirkt hat — die Religion. In der Zeitschrift Time wurde folgendes festgestellt: „Bei aggressivem Stammes- oder Nationalstolz stößt man unter der Oberfläche meist auf einen religiösen Kern ... Religiöser Haß ist nicht selten erbarmungslos und unerbittlich.“ Die Zeitschrift India Today äußerte sich ähnlich: „Die abscheulichsten Verbrechen sind unter dem Banner der Religion verübt worden. ... Sie ist eine Brutstätte der Gewalttätigkeit, eine außerordentlich zerstörerische Macht.“
Im allgemeinen trägt die Religion tatsächlich zu den Problemen bei, anstatt sie zu lösen. Die zuvor genannte — zahlenmäßig beachtliche — religiöse Gruppe dagegen hat gezeigt, daß Religion nicht immer entzweit, sondern vereinen kann. Um welche Gruppe handelt es sich? Und weshalb ist sie gerade da, wo andere versagt haben, so erfolgreich? Diese Fragen werden in den folgenden Artikeln beantwortet. Vielleicht können sie dem Leser zu einer neuen Ansicht über die Zukunft des Menschen verhelfen.
[Bildnachweis auf Seite 3]
Friedhof in Bosnien (Haley/Sipa Press)