Der Kampf gegen Katastrophen
DREI Jahre waren vergangen, und dennoch war UN-Generalsekretär Boutros Boutros Ghali nicht gerade erfreut. „Wir haben nicht schnell genug gehandelt“, sagte er Anfang 1993 gegenüber einer Expertengruppe. „Ich habe Sie gebeten, sich bereits heute hier einzufinden, damit wir feststellen können, ob sich das Versäumte wettmachen läßt.“ Versäumtes wettmachen? Was meinte er damit? Er hatte fünf Buchstaben im Sinn: IDNDR. Was bedeuten sie? Und warum die Eile?
Einer der Experten, die dem Treffen beiwohnten, war Frank Press, Geophysiker und „Vater“ der IDNDR. Vor elf Jahren hatte Dr. Press alle Wissenschaftler dringend aufgefordert, den Kampf gegen Naturkatastrophen zu verschärfen. Fünf Jahre später, im Dezember 1989, reagierten die Vereinten Nationen auf seinen Aufruf zum Handeln und erklärten die neunziger Jahre zur Internationalen Dekade für Katastrophenschutz (International Decade for Natural Disaster Reduction oder IDNDR). Welches Ziel wird damit verfolgt?
Sinneswandel nötig
Umberto G. Cordani, Geologieprofessor aus Brasilien und Mitglied des wissenschaftlichen und technischen Ausschusses der IDNDR, sagte gegenüber Erwachet!, die IDNDR sei ein Appell an die internationale Gemeinschaft, Wissen und Mittel zu vereinen und gemeinsam daran zu arbeiten, die Auswirkungen von Naturkatastrophen abzuschwächen — Leid, Zerstörung sowie Verlust an Menschenleben. „Damit dieses Ziel erreicht wird, muß man sich weltweit mehr auf die Katastrophenvorbeugung als auf die Katastrophenhilfe konzentrieren“, betonte Professor Cordani.
Weltweit einen Sinneswandel herbeizuführen ist jedoch weit schwieriger, als ein Jahrzehnt unter ein Motto zu stellen, denn wie es in der Veröffentlichung UNESCO Environment and Development Briefs hieß, „tendieren die Entscheidungsträger eher zur Katastrophenhilfe als zu vorbeugenden Maßnahmen“. Beispielsweise fließen über 90 Prozent des Geldes, das in Lateinamerika für das Katastrophenmanagement ausgegeben wird, in die Katastrophenhilfe und weniger als 10 Prozent in den Katastrophenschutz. Wenn es darum gehe, Opfern von Katastrophen Trost zuzusprechen, erhielten Politiker mehr Unterstützung, als wenn sie Steuern für die unspektakulären Maßnahmen erheben würden, die eine Katastrophe verhindern oder deren Folgen mildern würden, wurde in Stop Disasters bemerkt, dem Mitteilungsblatt der IDNDR.
Zielsetzung
Damit das Geld künftig in den richtigen Sektor fließt, haben sich die Vereinten Nationen für die neunziger Jahre drei Aufgaben gestellt. Bis zum Jahr 2000 sollte jedes Land 1. abschätzen können, welche Risiken verschiedene Naturgefahren in sich bergen, 2. langfristig vorbereitet sein und Konzepte zur Vorbeugung parat haben sowie 3. über Warnsysteme verfügen. Nationale Komitees wurden gegründet, um die Idee, die der IDNDR zugrunde liegt, sowie die guten Vorsätze in konkrete Pläne umzusetzen, und im Mai 1994 fand in Japan die von den Vereinten Nationen finanzierte Weltkonferenz zur Naturkatastrophenvorbeugung statt. Warum aber war Boutros Boutros Ghali trotz all der Pläne, von denen einige schon verwirklicht wurden, unzufrieden? Wegen einer beunruhigenden Entwicklung.
Eine leidige Entwicklung
Die Anstrengungen, die im Rahmen der IDNDR unternommen werden, zahlen sich aus. Wissenschaftler schenken der Katastrophenvorbeugung zunehmend Beachtung, und durch manche Maßnahmen — unter anderem verbesserte Warnsysteme — kann Leben gerettet und Schaden abgewendet werden. Doch trotz der guten Ergebnisse „nimmt die Häufigkeit und die Intensität der Katastrophen zu, und immer mehr Menschen sind betroffen“, bemerkte Dr. Kaarle Olavi Elo, Direktor des Sekretariats der IDNDR. Die Zahl der Katastrophen „stieg von 1960 bis 1980 auf das Dreifache, und in den neunziger Jahren ist ein weiterer großer Anstieg zu verzeichnen“, bestätigte ein anderer UN-Experte. Tatsächlich kamen 1991 bei 434 Großkatastrophen weltweit 162 000 Menschen ums Leben, und 1992 überstiegen die angerichteten Schäden die Summe von 62 Milliarden US-Dollar. Die Welt „ist eine Katastrophenmaschine geworden, die mit erschreckender Regelmäßigkeit Krisen produziert“, so lautete die Schlußfolgerung von James G. Speth, Administrator des UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen), gemäß dem Mitteilungsblatt UNDP Update (November 1993). Was steckt hinter dieser beunruhigenden Entwicklung?
Warum die Zunahme?
Bevor diese Frage beantwortet werden kann, muß der Unterschied zwischen einer Naturgefahr und einer Naturkatastrophe verstanden werden. Im ersten Fall handelt es sich um ein Naturereignis — etwa eine Überschwemmung oder ein Erdbeben —, das die potentielle Kraft besitzt, sich zu einer Naturkatastrophe zu entwickeln, wozu es aber nicht notwendigerweise kommt. Zum Beispiel sind Überschwemmungen im unbewohnten Amazonasbecken in Brasilien Naturereignisse, die kaum Schaden anrichten. Überschwemmungen im dichtbesiedelten Gangesdelta in Bangladesch dagegen verursachen große Sach- und Umweltschäden und fordern viele Todesopfer. Oftmals sind die Schäden so gewaltig, daß betroffene Ortschaften ohne Hilfe von außen die Lage nicht meistern können. In diesem Fall ist die Naturgefahr in eine Naturkatastrophe ausgeartet. Aber warum nehmen die verheerenden Zusammenstöße zwischen Mensch und Natur zu?
Katastrophenexperte James P. Bruce meinte, daß „die zu beobachtende zunehmende Intensität und Häufigkeit der Naturgefahren“ möglicherweise „eine Ursache“ sei. Wie andere Wissenschaftler ist jedoch auch er der Ansicht, daß die Hauptursache für die Zunahme an Katastrophen nicht in einem Anstieg der Naturgefahren liegt, sondern vielmehr darin, daß der Mensch den Naturgefahren heute unmittelbarer ausgesetzt ist. Dieses verstärkte Ausgesetztsein liegt in „wechselnden demographischen, ökologischen und technologischen Faktoren“ begründet, wie es in der Zeitschrift Weltgesundheit hieß. Welches sind einige Komponenten dieses unheilbringenden Faktorengemisches?
Zum einen ist da die wachsende Weltbevölkerung. Je größer sie wird, desto wahrscheinlicher ist es, daß eine Naturgefahr einen Teil der 5,6 Milliarden Menschen bedroht. Überdies sehen sich Millionen armer Menschen auf Grund der hohen Bevölkerungsdichte gezwungen, in unsicheren Behausungen zu leben — und noch dazu in Gebieten, die für regelmäßige Entladungen von Naturgewalten bekannt sind. Die Auswirkungen überraschen nicht: Seit 1960 hat sich die Weltbevölkerung verdoppelt, die durch Katastrophen verursachten Schäden aber sind fast auf das Zehnfache gestiegen.
Zum anderen verschlimmern veränderte Umweltbedingungen die Situation. Von Nepal bis zum Gebiet des Amazonas und von den Prärien Nordamerikas bis zu den Inseln im Pazifik werden Wälder abgeholzt, Monokulturen angebaut und Barriereriffe zerstört; und der Mensch hinterläßt seine Spuren im Haushalt der Natur noch auf andere Weise — jedoch nicht, ohne den Preis dafür zu zahlen. „Je mehr wir die Belastbarkeit unserer Umwelt strapazieren und sie verändern, desto eher entwickeln sich Naturgefahren zu Naturkatastrophen“, sagte Robert Hamilton, ein ehemaliger Direktor der IDNDR.
Wenn der Mensch dazu beiträgt, daß Katastrophen heutzutage immer öfter Schlagzeilen machen, müßte das umgekehrt bedeuten, daß er durch vorbeugende Maßnahmen die Schlagzeilen von morgen bestimmen kann. Tod und Zerstörung könnten auf ein Mindestmaß reduziert werden. Nach Ansicht von Experten ließen sich zum Beispiel 90 Prozent der Todesfälle bei Erdbeben verhindern. Obwohl es zwingende Argumente für die Katastrophenvorbeugung gibt, betrachten viele Menschen Katastrophen immer noch als unvermeidlich. Diese fatalistische Einstellung „ist von allen Hindernissen, die der Vorbeugung im Wege stehen, das größte“ war in der Veröffentlichung UNESCO Environment and Development Briefs zu lesen. Jeder einzelne sollte seine Einstellung dazu überprüfen.
Unvermeidlich oder vermeidbar?
Besonders in den Entwicklungsländern ist das Gefühl der Hilflosigkeit weit verbreitet. Und wen wundert es! Von allen Menschen, die während der vergangenen 50 Jahre durch Naturkatastrophen ums Leben kamen, lebten 97 Prozent in Entwicklungsländern. In einigen Entwicklungsländern „ereignen sich Katastrophen dermaßen häufig, daß man kaum zwischen dem Ende der einen und dem Beginn der nächsten unterscheiden kann“, hieß es in Stop Disasters. Tatsächlich ereignen sich 95 Prozent aller Katastrophen in Entwicklungsländern. Berücksichtigt man noch die endlose Reihe persönlicher Katastrophen — Armut, Arbeitslosigkeit, unmenschliche Lebensbedingungen —, dann ist verständlich, warum Hilflosigkeit die Armen wie eine große Welle überflutet. Sie nehmen die Schäden, die durch wiederholte Katastrophen angerichtet werden, als bitteren, aber schicksalhaften Teil des Lebens hin. Sind die Verluste jedoch wirklich unvermeidlich?
Was der einzelne tun kann
Natürlich kann der einzelne die Häufigkeit und die Intensität von Naturgefahren nicht kontrollieren, aber dennoch ist er nicht völlig hilflos. Er kann darauf achten, sich diesen Gefahren weniger auszusetzen. Wie? Betrachten wir ein Beispiel.
Angenommen, jemand möchte sich der Sonne (dem Naturereignis) nicht mehr so häufig aussetzen, um Hautkrebs (der Katastrophe) vorzubeugen. Welche Maßnahmen könnte er ergreifen? Offensichtlich liegt es nicht in seiner Macht, das Auf- und Untergehen der Sonne (die Häufigkeit des Ereignisses) zu bestimmen, noch kann er die Menge Sonnenschein (die Intensität des Ereignisses) in seiner Umgebung reduzieren. Ist er deswegen aber machtlos? Nein, denn es ist ihm möglich, sich der Sonne weniger auszusetzen. Zum Beispiel kann er während des heißesten Teils des Tages im Haus bleiben oder, sollte das nicht machbar sein, einen Hut und schützende Kleidung tragen. Dadurch erhöht er seinen Schutz vor der Sonne (dem Ereignis) und verringert das Risiko, an Hautkrebs (der Katastrophe) zu erkranken. Diese vorbeugenden Maßnahmen können viel bewirken.
Ebenso kann man Schritte unternehmen, um den Schutz vor den Auswirkungen einiger Naturgefahren zu erhöhen. Auf diese Weise ist jemand einer Katastrophe nicht schutzlos ausgeliefert, und die Schäden können gering gehalten werden. Für den, der in einem Industriestaat lebt, sind die Hinweise in dem Kasten „Vorbereitet?“ vielleicht hilfreich. Und wer in einem Entwicklungsland lebt, dem werden die in dem Kasten „Verbesserungen, die sich lohnen und wenig kosten“ angegebenen Beispiele womöglich eine Vorstellung von den heute bekannten, einfachen Maßnahmen geben. Sie können ausschlaggebend dazu beitragen, Leben zu retten und Schäden gering zu halten. Bei der heutigen modernen Technologie könne Fatalismus nicht länger als Entschuldigung gelten, meinte der Geophysiker Frank Press. Was Naturkatastrophen angeht, ist Vorbeugen entschieden besser als Heilen.
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Vorbereitet?
DIE U.S. Federal Emergency Management Agency gab einige Empfehlungen, wie man sich für den Katastrophenfall rüsten kann. Im folgenden sind einige der wichtigsten aufgeführt.
Informationen einholen. Zunächst sollten bei der zuständigen Stelle Informationen darüber eingeholt werden, zu welchen Katastrophen es in der Gegend kommen könnte. Einige mögen bekannt sein, andere vielleicht nicht. Falls man in einem gefährdeten Gebiet wohnt, ist folgendes zu empfehlen:
◻ Man sollte sich als Familie zusammensetzen und besprechen, welche Gefahren auftreten könnten. Jeder sollte wissen, wie er sich im Einzelfall verhalten muß.
◻ Es sollte festgelegt werden, wie man untereinander den Kontakt aufrechterhält, wenn man im Katastrophenfall getrennt wird. Zwei Treffpunkte sind auszumachen: ein Treffpunkt außerhalb der Wohnung für den Fall, daß zum Beispiel ein Feuer ausbricht, und ein Treffpunkt außerhalb der Nachbarschaft, falls der Weg nach Hause abgeschnitten ist.
◻ Ein Bekannter kann als Kontaktadresse dienen, so daß jeder aus der Familie, der den Treffpunkt nicht erreichen kann, dort anrufen und seinen Aufenthaltsort mitteilen kann. Der Bekannte sollte weiter weg wohnen, denn nach einer Katastrophe ist es oft einfacher, ein Ferngespräch zu führen, als innerhalb des Katastrophengebiets zu telefonieren. Den Kindern sollte erklärt werden, wie sie den Bekannten erreichen können. Es wäre auch gut, zu besprechen, wie man sich im Fall einer Evakuierung verhält. Man sollte berücksichtigen, wie man Nachbarn helfen könnte, die besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Auch die Haustiere dürfen nicht vergessen werden.
◻ In der Nähe von jedem Telefon sollten Notrufnummern angebracht sein.
◻ Der Hauptsicherungskasten, die Hauptwasser- und die Hauptgasleitung sollten ausfindig gemacht werden. Verantwortungsbewußte Familienmitglieder sollten wissen, wann und wie man diese abschalten muß; das dazu nötige Werkzeug sollte bei den Haupthähnen aufbewahrt werden.
◻ Es ist ratsam, sich auf Feuer einzustellen. Vor allem in der Nähe der Schlafzimmer sollten Rauchmelder installiert werden.
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Verbesserungen, die sich lohnen und wenig kosten
NACH Angaben der Weltbank muß fast die Hälfte der Weltbevölkerung mit fünf Dollar oder weniger pro Woche auskommen. Doch selbst Personen, auf die das zutreffe, könnten erprobte Maßnahmen ergreifen, meinen Experten. Sie sollten sich über diese Maßnahmen informieren, denn Aufklärung „ist das kostengünstigste Mittel, die Auswirkungen einer Naturkatastrophe abzuschwächen“, betonte der peruanische Katastrophenexperte Alberto Giesecke. Im folgenden sind zwei Beispiele aus Südamerika aufgeführt.
In Mitigating Natural Disasters, einem von den Vereinten Nationen herausgegebenen Leitfaden, wird erläutert, wie sich aus Lehmziegeln gebaute Häuser sicherer konstruieren lassen:
◻ Wird in einer bergigen Gegend gebaut, sollte zuerst Erde abgetragen werden, um eine ebene Fläche zu schaffen.
◻ Häuser mit einer quadratischen Grundfläche sind am stabilsten; bei einer rechteckigen Grundfläche sollte die eine Hauswand zweieinhalbmal so lang sein als die andere.
◻ Das Fundament sollte aus Felsgestein oder aus Beton bestehen, denn dadurch werden Erdbebenstöße abgeschwächt.
◻ Die Wände sollten parallel zueinander stehen, dasselbe Gewicht, dieselbe Stärke und Höhe haben sowie dünn und niedrig sein. Solche Konstruktionen haben Erdbeben unbeschadeter überstanden als die üblichen Lehmziegelhäuser.
Die traditionelle Gitterkonstruktion (quincha) ist eine weitere bewährte Bauweise. Laut Stop Disasters besteht das tragende Gerippe von quincha-Häusern aus geflochtenem Schilfrohr und dünnen Zweigen, denen durch Latten und Pfähle Festigkeit verliehen wird; es wird mit relativ wenig Erde ausgefüllt. Diese Konstruktion, bei der die Hauswände 10 bis 15 Zentimeter dick sind, ermöglicht, daß die Häuser bei einem Erdbeben mitschwingen können, und wenn das Beben vorüber ist, gelangen sie wieder in ihre Ausgangsposition. Bei einem Erdbeben im Jahr 1991 blieben alle Häuser, die auf diese Weise gebaut worden waren, stehen, wogegen 10 000 andere Häuser mit 1 Meter dicken Wänden zusammenstürzten; das kostete 35 Menschen das Leben. John Beynon, Architekt bei der UNESCO, sagte, nicht Erdbeben würden Menschen töten, sondern einstürzende Gebäude.
[Bilder auf Seite 7]
In manchen Gegenden rodet der Mensch leichtsinnig Wälder und ebnet dadurch den Weg für Naturkatastrophen