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  • Was wir durch Andrew gelernt haben
  • Erwachet! 1995
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Erwachet! 1995
g95 8. 12. S. 11-13

Was wir durch Andrew gelernt haben

ALS ich auf der Fahrt zur Arbeit über die Ereignisse der vergangenen paar Tage nachdachte, versetzte mich das in Hochstimmung. Ich war gerade zum zweiten Mal Vater geworden; es war ein Junge. Heute würden meine Frau Betty Jane und unser kleiner Andrew aus dem Krankenhaus nach Hause kommen.

Meine Frau rief mich jedoch noch vor dem Zeitpunkt der Entlassung an. Ihre Stimme klang besorgt. Ich eilte zu ihr. Sie empfing mich mit den Worten: „Irgend etwas ist nicht in Ordnung!“ Wir saßen beieinander und warteten darauf, daß der Arzt und die Kinderärztin wiederkamen.

Die erste Äußerung der Kinderärztin war niederschmetternd. Sie sagte: „Wir sind uns ziemlich sicher, daß bei Ihrem Sohn das Down-Syndrom vorliegt!“ Sie erklärte, daß unser Sohn allem Anschein nach geistig behindert ist. Von ihren Erklärungen drang so gut wie nichts mehr zu mir durch. Mein Hirn war wie betäubt und hatte das Hören völlig abgeschaltet. Visuelle Eindrücke nahm es jedoch weiter wahr.

Sie nahm Andrew hoch und machte uns auf einen der Umstände aufmerksam, die ihr gezeigt hatten, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Sein Köpfchen hing schlaff herab. Für Neugeborene mit Down-Syndrom ist diese geringe Muskelspannung typisch. Als unser Verstand langsam wieder arbeitete, schossen uns viele Fragen durch den Kopf, und in einer anschließenden Unterredung fragten wir die Ärztin: „Welches Ausmaß wird seine Behinderung haben? Was können wir von ihm erwarten? Wieviel werden wir ihm beibringen können? Wie ist es um seine Lernfähigkeit bestellt?“ Sie erklärte uns, daß die Antworten auf viele unserer Fragen sowohl von der Umgebung abhängig seien, in der er aufwachsen werde, als auch von seinen angeborenen Fähigkeiten.

In den mehr als 20 Jahren, die seitdem vergangen sind, haben wir versucht, Andrew die Liebe und Zuneigung zu schenken, die er verdient, und ihm alles beizubringen, was wir nur konnten. Rückblickend wird uns jetzt allerdings bewußt, daß das Geben nicht nur einseitig war.

Vernünftiger Rat

Ehe wir Zeit hatten, uns auf Andrew einzustellen, gaben uns liebe Freunde, die bereits selbst Prüfungen durchlebt hatten, Ratschläge. Sie meinten es gut, aber wie zu erwarten war, erwies sich nicht jeder Rat als vernünftig oder brauchbar. Nach Jahren des Ausprobierens haben sich aus all den Ratschlägen jedoch zwei wertvolle Lehren herauskristallisiert.

Manche wollten uns dadurch trösten, daß sie sagten, Andrew habe gar keine richtige Behinderung. Ein alter Freund ermahnte uns dann aber wie folgt: „Sträubt euch doch nicht dagegen! Je eher ihr seine Grenzen akzeptiert, desto eher werdet ihr eure Erwartungen revidieren und damit beginnen, auf ihn, so wie er ist, einzugehen.“

Das erwies sich als eine der wichtigsten Lektionen, die wir im Umgang mit Widrigkeiten lernten. Bevor man sich nicht mit den Tatsachen abgefunden hat, kann kein Heilungsprozeß einsetzen. Zwar will man etwas oft instinktiv nicht wahrhaben, aber je länger man es leugnet, desto länger schiebt man die Auseinandersetzung mit ‘dem unvorhergesehenen Geschehen, das alle Menschen trifft’, auf und versäumt, den Rahmen der gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen (Prediger 9:11).

In all den Jahren, in denen wir Eltern kennenlernten, deren Kinder mit dem normalen Lehrplan der Schule nicht mitkamen oder an Förderunterricht teilnahmen, haben wir uns oftmals gefragt, wie viele dieser Kinder wohl in Wirklichkeit zurückgeblieben oder sonstwie behindert sein mögen. Gehören manche von ihnen vielleicht zu den „unsichtbar Behinderten“, also zu denen, die im Gegensatz zu Andrew kein körperliches Unterscheidungsmerkmal aufweisen und wie normale Kinder aussehen? Es ist leicht zu erkennen, daß jemand das Down-Syndrom hat. Aber andere Arten von Behinderungen sind nicht so offenkundig. Wie viele Eltern halten an unrealistischen Erwartungen fest und wollen sich mit den Grenzen ihres Kindes nicht abfinden, was dazu führt, daß alle Beteiligten gereizt sind! (Vergleiche Kolosser 3:21.)

Der zweite Rat, den wir aus eigener Erfahrung bestätigen können, lautet: Es liegt im Grunde an EINEM SELBST, wie andere das Kind behandeln. So, wie man selbst mit ihm umgeht, werden es wahrscheinlich auch die anderen tun.

In der Einstellung der Leute zu körperlich und geistig Behinderten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einiges geändert. Nicht wenige dieser Veränderungen wurden jedoch von einzelnen Behinderten selbst und von ihren Angehörigen in die Wege geleitet oder von anderen, die sich, fachlich ausgebildet oder nicht, für Behinderte einsetzten. Viele Eltern waren so mutig, ihr Kind nicht, wie ihnen geraten wurde, in ein Heim zu geben, und haben dadurch die Bücher praktisch neu geschrieben. Vor fünfzig Jahren lagen den meisten medizinischen Lehrbüchern über das Down-Syndrom Unterlagen zugrunde, die man in Heimen zusammengestellt hatte. Heute hat man sich in seinen Erwartungen völlig revidiert, und das zumeist, weil Eltern und andere Personen neue Wege eingeschlugen.

Mehr Mitgefühl gelernt

Es ist schon seltsam, wie leicht man sich etwas vormacht und denkt, man könne aufrichtig mitfühlen. Aber solange man nicht selbst von etwas betroffen ist, ist das Verständnis für die Probleme anderer oft nur oberflächlicher Art.

Durch Andrew kamen wir nicht umhin, einzusehen, daß Benachteiligte oft nicht Herr der Lage sind. Wir mußten uns dadurch der Frage stellen, wie wir gegenüber den Schwachen, den Langsamen und den Älteren wirklich eingestellt sind.

Schon des öfteren sind Fremde auf uns zugekommen, die beobachteten, daß wir uns nicht schämten, Andrew in der Öffentlichkeit als vollwertiges Mitglied der Familie zu behandeln, und haben uns ihre geheimen Nöte anvertraut. Andrews Anwesenheit schien ihnen die Gewißheit zu geben, daß wir uns in ihre Probleme hineinversetzen konnten.

Die Kraft der Liebe

Die weitaus wichtigste Lektion, die wir durch Andrew lernten, ist, daß Liebe nicht nur eine Verstandessache ist. Ich will das näher erklären. Einer der Grundbegriffe unserer Religionsausübung als Zeugen Jehovas ist, daß das wahre Christentum sowohl über Rassenschranken als auch über soziale und politische Schranken und Vorurteile weit erhaben ist. Auf diesen Grundsatz vertrauten wir und wußten daher, daß Andrew von unseren Glaubensbrüdern akzeptiert werden würde. Wir beachteten den Rat von Fachleuten nicht, die sagten, daß es unrealistisch sei, von Andrew zu erwarten, während der Zeiten der Anbetung respektvoll sitzen zu bleiben. Statt dessen sahen wir zu, daß wir ihn von Geburt an zu den Zusammenkünften und auch in den Predigtdienst von Haus zu Haus mitnahmen. In der Versammlung begegnet man ihm wie erwartet mit Freundlichkeit und Mitgefühl.

Bei manchen geht es aber auch darüber hinaus. Sie haben Andrew so richtig gern. Er scheint dafür ein besonderes Gespür zu haben, das durch sein vermindertes Denkvermögen nicht beeinträchtigt wird. Im Umgang mit diesen Personen verliert sich seine angeborene Schüchternheit schnell, und nach den Zusammenkünften steuert er schnurstracks auf sie zu. Immer wieder haben wir beobachtet, daß er in einer Menschenmenge instinktiv diejenigen herausfindet, die ihn ganz besonders mögen.

Dasselbe läßt sich über seine Liebesbekundungen sagen. Andrew geht mit Säuglingen, älteren Menschen und Haustieren ausgesprochen sanft um. Manchmal, wenn er, ohne zu zögern, auf das Baby einer uns unbekannten Person zugeht, bleiben wir dicht neben ihm, damit wir das Kind jederzeit vor ihm schützen können, falls er unabsichtlich zu grob zu ihm ist. Wie oft hat uns jedoch ein Gefühl der Scham beschlichen, wenn wir beobachteten, daß er das Baby genauso zart berührte, wie die eigene Mutter es tun würde.

Lehrreiche Erfahrungen

Da Kinder mit Down-Syndrom sich ähnlich sehen, dachten wir, daß sie sich auch in ihrer Persönlichkeit gleichen. Wir fanden jedoch bald heraus, daß sie mehr ihren Angehörigen ähneln als anderen Kindern mit Down-Syndrom. Jeder ist eine einzigartige Persönlichkeit für sich.

Wie viele junge Leute liebt Andrew es nicht gerade, angestrengt zu arbeiten. Aber wir stellten fest, daß ihm eine Aufgabe nicht länger als Arbeit erschien, wenn wir sie geduldig und beharrlich so lange immer wieder mit ihm durchgingen, bis sie ihm zur Gewohnheit wurde. Seine Aufgaben im Haus sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen, und nur das, was er zusätzlich tun soll, wird von ihm als Arbeit angesehen.

Wenn wir auf die lehrreichen Erfahrungen zurückblicken, die wir durch das Leben mit Andrew gemacht haben, kommt ein interessantes Paradox zum Vorschein. Es hat sich herausgestellt, daß so gut wie jeder Grundsatz, den wir durch Andrews Erziehung gelernt haben, sich genauso auf das Verhältnis zu unseren anderen Kindern und zu Menschen im allgemeinen anwenden läßt.

Wer von uns reagiert zum Beispiel nicht positiv auf aufrichtige Liebe? Wer hat es nicht schon als ungerecht und entmutigend empfunden, wenn er bei einem Vergleich mit jemand, dessen Fähigkeiten und Erfahrungen sich von den eigenen sehr unterschieden, schlecht abgeschnitten hat? Und ist es nicht letztendlich bei vielen von uns schon so gewesen, daß wir uns an Aufgaben, die zunächst unangenehm waren, gewöhnt haben, daß es uns sogar zufrieden machte, wenn wir uns zusammengenommen haben und bei der Arbeit geblieben sind?

Wir haben zwar in unserer menschlichen Kurzsichtigkeit viele Tränen vergossen, aber wir haben auch viele kleine und große Freuden erlebt. Und wir denken, daß wir auch auf Gebieten, die gar nichts mit Andrew zu tun haben, durch ihn gewachsen sind. Wir lernten, daß jede Erfahrung im Leben, ganz gleich, wie nervenaufreibend sie auch sein mag, die Möglichkeit in sich birgt, aus einer Person einen besseren Menschen zu machen, anstatt ihn zu verbittern.

Es gibt noch etwas, was für uns sehr wichtig ist. Der Gedanke an den großen Augenblick, wo wir miterleben werden, daß Andrew nicht mehr behindert ist, macht uns Freude. Die Bibel verheißt, daß schon bald — in Gottes gerechter neuer Welt — Blinde, Taube, Lahme und Stumme wieder vor Gesundheit strotzen werden (Jesaja 35:5, 6; Matthäus 15:30, 31). Man stelle sich nur einmal die Freude vor, mit eigenen Augen die Heilung von Geist und Körper zu beobachten und zu sehen, wie die Menschheit zu voller Leistungskraft erblüht! (Psalm 37:11, 29). (Eingesandt.)

[Kasten auf Seite 12]

Grade der Behinderung

Einige Experten gliedern Menschen mit Down-Syndrom in drei Gruppen. 1. Lernbehinderte (leichtgradig geistig beeinträchtigt): Sie können sich beträchtliche akademische Fähigkeiten aneignen. Unter ihnen gibt es manche, die Schauspieler oder sogar Lehrbeauftragte geworden sind. Einigen ist es gelungen, fast die volle Selbständigkeit zu erreichen. 2. Geistig Behinderte (mäßig geistig beeinträchtigt): Sie können bestimmte praktische Fähigkeiten erlernen. Zwar kann man ihnen beibringen, bis zu einem gewissen Grad für sich selbst zu sorgen, aber sie benötigen mehr Fürsorge. 3. Schwer geistig Behinderte (sehr schwer geistig beeinträchtigt): Sie bilden die Gruppe mit den ausgeprägtesten Funktionsstörungen und benötigen die meiste Fürsorge.

Wie steht es mit Andrew? Heute wissen wir, daß er in die Kategorie „geistig Behinderte“ fällt.

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