„Triumphierendes Königreich“ — Kongresse 1955
Nürnberg, Westdeutschland, 10. bis 14. August 1955
Der größte internationale Kongreß, den Jehovas Zeugen jemals auf europäischem Boden abhielten, tagte in der alten Stadt Nürnberg, Westdeutschland, in der zweiten Woche des Monats August 1955. Aus allen Teilen der Welt wünschten die Freunde besonders diesem Kongreß beizuwohnen, und so trafen schließlich Unterkunftsgesuche zu Zehntausenden aus 62 Ländern ein. Vier Jahre zuvor hatten sich anläßlich des internationalen Kongresses in Frankfurt 47 432 Personen zum öffentlichen Vortrag eingefunden; 2373 Personen waren getauft worden. Im Hinblick auf die noch größere Menge, die für den Kongreß 1955 erwartet wurde, war die große Zeppelinwiese in Nürnberg, Bayern, gewählt worden. Hier auf der Zeppelinwiese pflegte der verstorbene Naziführer Adolf Hitler die großen Aufmärsche seiner Reichsparteitage zu veranstalten und von ihrer imposanten Steintribüne aus auf seine Parteianhänger, die sich vor ihm im großen Stadion befanden, herabzuschreien. Da er auf den Sieg der Nazis hoffte, wollte er hier den Friedensvertrag des zweiten Weltkrieges unterzeichnen lassen. In diesem Stadion gab es Sitzgelegenheit für 84 000 Personen. Schon im Jahre 1953 hatten die deutschen Zeugen Jehovas hier auf der einen Seite des Stadions vor der pompösen Steintribüne einen Kongreß abgehalten, dem eine öffentliche Zuhörerschaft von 55 240 Personen beiwohnte. Ungefähr 3000 Personen wurden getauft. Nun aber hatte man das ganze Stadion und seine Steintribüne sowie alle umliegenden Anlagen zu einem Preise von rund zwanzigtausend D-Mark gemietet.
All die organisatorischen Fähigkeiten der deutschen Brüder wurden benötigt; denn anschließend an das Stadion mußte ein Lager errichtet werden. So begann man, riesige Zeltbauten und Zelte zu errichten und den Grund für eine Kleinstadt zu legen, die 37 000 Zeltbewohner zu fassen vermochte. Fünf Grundstücke wurden dafür bestimmt. Sie trugen die biblischen Bezeichnungen Gilgal, Hebron I, Hebron II, Karmel und Rama. Auch wurde für billige Massenlager gesorgt, in denen die beiden Geschlechter in getrennten Zelten Unterkunft fanden. Etwa 100 000 Quadratmeter Grund wurde so mit Zelten bedeckt. In diesen Zelten weilten auch die Kongreßdiener und der damalige deutsche Zweigdiener mit seiner Familie. In jedem dieser hohen, langen Zeltbauten konnten 600 Personen untergebracht werden. In den Lagern Karmel und Rama wuchsen 4500 „Puppenzelte“, die einzelnen gehörten, wie Pilze aus der Erde. Die Zeltbewohner schliefen auf Stroh, das entweder lose oder in Säcken dalag. Hunderte von Tonnen Stroh mußten in 60 Wagen herbeigeschafft und bis zum 9. August in 31 000 Strohsäcke eingefüllt und verteilt werden. Auch große Toilettenanlagen mußten bereitgestellt werden. Ferner brauchte man Zelte zur Aufnahme von 28 dienstlichen Abteilungen, die der Leitung und dem Kongreßbetrieb dienten. Außer den Erfrischungsständen gab es eine große Küche und eine Cafeteria einzurichten.
Wochen im voraus hatten Hunderte von Vorkongreßarbeitern freiwillig ihre Dienste angeboten und sich dann an den notwendigen Aufbauarbeiten beteiligt. Straßen und Wege wurden festgelegt und mit biblischen sowie anderen Namen versehen, die an die theokratische Organisation erinnerten. Schließlich betätigten sich bis 800 Freiwillige. So vereinigte der Nürnberger Kongreß die Reize eines Stadionkongresses mit denen einer ausgedehnten Lagerstadt. Um die Kongreßbesucher mit schmackhaften warmen Speisen zu versehen, beschäftigte die Kongreßküche 400 Arbeiter einschließlich 64 Berufsköche; und sechzig 200-Liter-Kessel, in denen täglich dreimal 35 000 Portionen Speise gekocht wurden, benutzte man, ferner 3 Kühlwagen der Eisenbahn. Auch wurden 4 Abwaschmaschinen installiert; jede konnte alle 9 Sekunden 32 Teller reinigen. Außerdem gab es eine regelrechte Bäckerei.
Man traf Anstalten, daß nicht nur Tausende in den Lagern wohnen konnten, sondern daß andere in den Hotels und Privathäusern Nürnbergs Unterkunft fanden. Dies erforderte, daß Freiwillige das Gebiet von Haus zu Haus nach Zimmern durchkämmten. Die Religionsorganisationen Westdeutschlands wünschten nicht, daß der Kongreß in Nürnberg, der früheren Parteistadt Hitlers stattfinde. Die maßgebenden religiösen Persönlichkeiten im katholischen Bollwerk München (Stätte des erfolglosen Bierhallen-Putsches) suchten die Stadtväter von Nürnberg zu überreden, die Zeppelinwiese den Zeugen Jehovas zu verweigern; aber die Nürnberger Behörden wiesen diese Einmischung oder dieses Diktat von München zurück und sagten gemäß den Worten eines lokalen Bankagenten den Münchener Religionisten, sie möchten doch in die „Hölle“, an die sie glauben, gehen. Die Religionsorganisationen von Nürnberg gaben nun ihrer Einstellung gegenüber Jehovas Zeugen öffentlich Ausdruck und suchten ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, indem sie religiöse Vorurteile entfachten. Das Amt für Gemeindedienst der Ev.-Luth. Kirche in Bayern setzte ein sechsseitiges Flugblatt in Umlauf, worin dargelegt wurde, warum Evangelische den Kongreßbesuchern keine Unterkunftsgelegenheit anbieten sollten. Auf der Vorderseite des Flugblattes standen in großen Lettern die Worte „Besuch von Zeugen Jehovas — Wachtturm-Gesellschaft — Neue-Welt-Bewegung — unerwünscht!“ Und auf der Rückseite las man nur die Worte: „Abtrennen und an die Tür heften!“ Die Kirchen ließen nichts unversucht, um ihren Kirchenmitgliedern ihre Stellung gegen die Zeugen klar zu machen. In Zeitungsartikeln, Handzetteln und Predigten gaben sie ihrer barsch ablehnenden Haltung Ausdruck. „Wir müssen die Lehre der Zeugen Jehovas ablehnen“ — so hieß es in einem Flugblatt, das die katholische Geistlichkeit im Juli verbreiten ließ. Aber rechtgesinnte, aufrichtige Menschen begegneten all diesem mit Unwillen und Verachtung und öffneten ihre Wohnungen den Zeugen Jehovas, um dadurch Segen zu empfangen. Bei ihnen untergebrachte Kongreßbesucher machten wunderbare Erfahrungen und durften viele zu den Kongreßveranstaltungen mitnehmen, so daß diese selbst sehen und hören konnten.
Die Steintribüne, von der aus die Kongreßansprachen gehalten werden sollten, war mit Königreichssymbolen geschmückt. Der gewaltige Bau in weißem Werkstein ist an sich schon etwas Außergewöhnliches. Seine Länge beträgt 300 m. Eine Treppenflucht von 75 Stufen führt zu einer Säulenhalle empor, die auf jeder Seite des Mittelstückes aus einer Doppelreihe von je 36 Säulen besteht, also aus insgesamt 144 Säulen. In der Mitte erhebt sich die breite Tribüne, auf deren vorderem Mittelteil sich das mit einem Baldachin überdachte Rednerpodium befand. Im Hintergrund der Rednertribüne hing ein großer, blauer, dekorativ in Falten gelegter Vorhang. Darauf war ein Sinnbild von Christi ‚Stab der Macht‘ befestigt: eine mächtige Menschenhand, die aus einem Ärmelstück herausragte und ein großes 8 m langes Zepter hielt, das in eine Krone auslief. Unter ihr erblickte man vier Köpfe: vorn den Kopf eines Menschen, Liebe darstellend, rechts einen Stierkopf, was göttliche Kraft darstellt, hinten einen Löwenkopf, Gerechtigkeit anzeigend, und links einen Adlerkopf, Weisheit darstellend. Dieses Zepter (mit der Hand) wog 7 Zentner. Der blaue Vorhang und dieses Mittelstück der Steintribüne waren überragt von einer mit Edelsteinen besetzten, 7zackigen goldenen Krone von 11 m Durchmesser und 4 1/2 m Höhe, die 7 Zentner wog. Topfpflanzen und viele Sträucher und Bäume trugen außerdem zum Schmuck der Bühne bei. Über der Säulenhalle und links und rechts der Krone prangte in großen, goldenen, rotgeränderten 3,4 m hohen Buchstaben das Versammlungsmotto, nämlich „Triumphierendes Königreich“. Dieser ganze Bühnenschmuck bot bei Nacht, wenn die Scheinwerfer ihre Lichter darauf spielen ließen, einen überaus prächtigen Anblick.
Rechts unter der Tribüne befand sich zu ebener Erde das Orchester, das schließlich auf 180 Personen angewachsen war, die unter einem fähigen Dirigenten standen. Sie saßen unter großen rotweißgestreiften Schirmen. Vor der Steintribüne lief eine breite Straße, passenderweise Königreichsstraße genannt, die das Orchester von dem mächtigen Halboval des Stadions trennte. Links (westlich) der Steintribüne befand sich in einiger Entfernung der Haupteingang, flankiert von zwei hohen weißen Wachttürmen, zwischen die ein Transparent gespannt war: Jehovas Zeugen — Kongreß TRIUMPHIERENDES KÖNIGREICH 1955.
Das Stadion der Zeppelinwiese ist ein weites Feld, eingeschlossen von emporsteigenden Sitzreihen, hinter denen sich in Abständen 34 weiße Fahnentürme erheben. Zwischen je zwei Türmen führt eine Treppe empor. Hinten in der Mitte des Stadions befindet sich der weite Eingang. Oben auf dem Wall rundum erschienen 61 Schilder mit den Namen der Länder, aus denen die Delegierten gekommen waren, angefangen mit Alaska, das in der Reihe des Alphabets als erstes kam, bis Deutschland, das aus Höflichkeitsgründen als letztes erschien. 8000 gemietete Stühle, die auf der Wiese vor der Steintribüne schön geordnet hingestellt worden waren, vermehrten die Zahl der Sitzgelegenheiten des Stadions. Bei Straßenkreuzungen wurde der Verkehr von und nach dem Stadion von Brüdern geregelt, die als Verkehrspolizisten dienten und sich dazu eines bläulich-weißen Signalstabes bedienten. In der Nähe befanden sich Stangen mit Schildern, die die Richtungen nach den vielen Orten und Einrichtungen der Anlagen angaben. Dort, zur Linken (westlich) des Stadions schimmerte durch eine Reihe von Bäumen hindurch das Wasser des großen Dutzendteiches.
Am Tage vor Kongreßbeginn rollten 56 Sonderzüge auf der Station Dutzendteich in Nürnberg ein, und zwar in der Zeit von 6.11 Uhr bis 22 Uhr. Der erste traf aus Paris ein, der letzte dieses Tages aus Holland; und dazwischen liefen Züge ein aus der Schweiz und Österreich, die meisten aber aus allen Teilen Westdeutschlands. Mehr als 4000 Brüder hatten den Weg zum Kongreß über die kritische Grenze Ostdeutschlands, das unter kommunistischer Herrschaft steht, gefunden. Viele Kongreßbesucher trafen im Flugzeug ein. Zufolge des guten Zuteilungssystems konnten alle ihre Unterkünfte gut finden. Während der noch verbleibenden Tage dieser Woche ergoß sich der Schwarm der Kongreßbesucher, deren Abzeichen sie als solche kennzeichnete, auf die Straßen Nürnbergs. Sonderwagen der Straßenbahnlinie 2 mit der Aufschrift „Dutzendteich“ wurden bereitgestellt und füllten sich mit Zeugen Jehovas. Außen an den Straßenbahnwagen hingen Plakate, die den öffentlichen Vortrag ankündigten.
Am Mittwoch, dem 10. August, ehrte eine große Menge von 63 332 Personen die Eröffnungsversammlung durch ihre Anwesenheit und hörte sich am Morgen die Willkommensworte des damaligen deutschen Zweigdieners E. H. Frost an. Dieser lebte viele Jahre als ein Opfer des Hitler-Regimes in Konzentrationslagern. Selbst die bedeutende Zeitung New York Times nahm von diesem Kongreß Kenntnis und brachte unter „allen zum Druck geeigneten Neuigkeiten“ auf Seite 3 ihrer Ausgabe vom 11. August ganz unten folgendes:
„60 000 Zeugen beim Treffen. Nürnberg, Deutschland, 10. August. (Reuter) — Mehr als 60 000 Personen aus 60 Ländern nahmen heute an der Eröffnungsfeier eines internationalen Kongresses der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas teil.“
Zu den Nachmittagsveranstaltungen des ersten Tages im Stadion oder in den Lagern, die durch Lautsprecher bedient wurden, schwoll die Menge der Anwesenden auf 67 412 an. Bei der Eröffnung der Abendversammlungen wurde der Regenschauer zum Regenguß. Dennoch blieb eine mächtige Menge da, um den Rednern zuzuhören, besonders auch dem Präsidenten der Gesellschaft, der eben angekommen war. Zu den Rednern dieses Tages gehörten fünf vom Bethel Brooklyn; drei davon hielten ihre Ansprachen in Deutsch. Es hörte auf zu regnen, als der Präsident die große Menge durch sein Erscheinen erfreute und über das Thema „Die glorreiche Botschaft vom ‚Königreich‘“ sprach. Auch bediente er sie mit einer gedruckten Botschaft, indem er die Broschüre Grundlage für den Glauben an eine neue Welt freigab. Über diesen Eröffnungstag sagte das 8 Uhr-Blatt in Fettschrift am folgenden Tage: „Der größte Predigtfeldzug aller Zeiten … Bewunderungswürdige Diszipliniertheit kennzeichnet das Lagerleben. Mit der Präzision eines Uhrwerkes läuft das Programm des Kongresses der ‚Zeugen Jehovas‘, der in seinem organisatorischen Ausmaß etwas Einmaliges darstellt.“
Am Donnerstag morgen, als die Felddienstorganisation in vollem Schwunge war, verließen 64 Busse, beladen mit Königreichsverkündigern, die in ihre Gebiete fuhren, den Platz vor dem Cafeteriazelt. Andere begaben sich von anderen Orten aus ins Feld. Die Zeitungen kündigten an, daß Tausende in den Felddienst ausgezogen seien, und dieser umfaßte nicht nur Nürnberg und Fürth, sondern auch Erlangen, Hersbruck, Markt Erlbach, Cadolzburg und andere Orte. Amerikaner nahmen daran teil und besuchten besonders zivile amerikanische Familien, die in Nürnberg und Fürth wohnen.
An diesem Tage begannen auch Sonderzüge nach Wiesbaden zu fahren, das mehr als 250 km nordwestlich von Nürnberg liegt. So konnten Tausende von Kongreßbesuchern den deutschen Zweig der Watch Tower Society besuchen und sich dort das Bethelheim und die Druckerei samt dem neuen Druckereigebäude und den großen Pressen ansehen. Trotz der vielen, die also abwesend waren, weil sie sich auf dieser Exkursion befanden, belief sich die Zahl der Anwesenden am Nachmittag auf 68 400, die den Präsidenten anhörten und die Neuerscheinung von vier Traktaten willkommen hießen. Als an diesem Abend der Präsident zu 68 497 Personen über das Thema Spiritismus sprach, schien sich ein Sturm zusammenzubrauen, aber über uns blieb am Himmel eine Stelle klar und der Donner grollte in der Ferne weiter. In der Stadt regnete es, nicht aber draußen beim Kongreß.
Am Freitag morgen bot sich ein Anblick, der einen bis in die tiefste Seele bewegte; die große Massentaufe. Auf Geheiß des Redners erhoben sich die Täuflinge in der Mitte des Stadions vor der Steintribüne von ihren Plätzen. Die zwei entscheidenden Fragen in bezug auf ihre Würdigkeit für die Taufe beantworteten sie mit einem festen Ja! Da aber das Stadion so groß ist, schien es eine ganze Weile zu dauern, bis alle Teile der mächtigen Zuhörerschaft erreicht waren und großer Beifall ausbrach. Dann, nachdem das Gebet um Gottes Segen gesprochen war, bewegte sich die gewaltige Schar der Täuflinge der Taufstätte entgegen. In festgeschlossenen Reihen zogen sie die Königreichsstraße hinab und diese in ihrer ganzen Breite einnehmend, marschierten sie ostwärts, geführt von Brüdern, die Schilder hochhielten mit der Aufschrift „Zum Untertauchen“. Die gewaltige Menge Zuschauer winkte ihnen zu, während das Orchester Königreichslieder spielte. Tausende schritten hinter den 4333 Täuflingen her, während sie langsam vorrückten und sich von der Königreichsstraße abwandten, dem Schwimmbad entgegen. Dort wurden in einem großen Planschbecken neben dem öffentlichen Hauptschwimmbad die Täuflinge in 4 Reihen von den Täufern getauft. Es tat wohl, das schriftgemäße Vorgehen zu beobachten, indem nur ein Täufer (nicht zwei) je einen Täufling nahm und ihn untertauchte, gleichwie jener eine Täufer, Johannes der Täufer, Jesus im Wasser des Jordans untergetaucht hatte. Ganz in der Nähe, in einem Gebäude, das mit Warmwasserbecken und großen Badewannen versehen war, nahm man sich der Gebrechlichen, Invaliden und Krüppel an, die getauft zu werden wünschten. Von all den Getauften war der jüngste ein 7jähriger Knabe, die älteste eine 87jährige Frau. Auch ein Mann mit nur einem Bein wurde getauft. Wohltuend schien die Sonne bei dieser Massentaufe, die bis in die Mittagsstunde hinein dauerte.
An jenem Nachmittag ließ sich eine Menge von 74 678 Anwesenden durch den Vortrag des Präsidenten „Jehova ist in seinem heiligen Tempel“ und seine Freigabe des Buches „Neue Himmel und eine neue Erde“ begeistern.
Am Abend hörten die Kongreßbesucher die Funksendung eines Senders in der von Kommunisten beherrschten Ostzone Deutschlands, worin davor gewarnt wurde, daß alle Zeugen Jehovas aus der Ostzone, die die internationalen Kongresse in Nürnberg und Berlin besuchten, bei ihrer Rückkehr verhaftet würden. Diese kommunistische Warnung wurde auch in Berlin gehört. Die Tausende der Brüder aus Ostdeutschland ließen sich dadurch aber nicht erschrecken.
Nach dem starken Regen am Sonnabend, der um 7 Uhr morgens fiel, besserte sich das Wetter für den Rest des Tages in Nürnberg, und die Besucherzahl des Kongresses stieg weiter bis über siebzigtausend an. Dieser Kongreßtag wurde nicht durch einen Vortrag des Präsidenten ausgezeichnet, da dieser am Morgen, Nachmittag und Abend zu Ansprachen beim Kongreß in Berlin vorgesehen war. Um 10.45 Uhr bestiegen im Flughafen Nürnberg 55 Kongreßbesucher, darin eingeschlossen Delegierte aus den Philippinen, aus Hongkong, Australien, von den Virginischen Inseln, aus Großbritannien, Kanada und Amerika das Flugzeug der Air France „Ciel de Champagne“, das sich emporschwang und gegen Nordosten über das kommunistische Ostdeutschland in Richtung Berlin flog. Um 12.30 Uhr landete es auf dem großen Flughafen Berlin-Tempelhof im amerikanischen Sektor Westberlins. Alle 55 Ankommenden wurden gastfreundlich aufgenommen; sie erhielten ihre Unterkunftszuteilung, und dann ging es hinaus zur „Waldbühne“ im britischen Sektor zum dort stattfindenden internationalen Kongreß. Doch darüber später mehr.
Beim Kongreß in Nürnberg erwies sich der Sonntag für die Tausende von Besuchern aus den vielen fremden Ländern als ein unvergeßlicher Tag. Am Morgen flog der Präsident, Bruder Knorr, mit seinen Begleitern von Berlin zurück und traf um 11.55 Uhr morgens ein, also rechtzeitig, um den öffentlichen Vortrag auf der Zeppelinwiese um 15 Uhr zu halten. Als sich die Stunde für den Vortrag, der von weltweiter Bedeutung sein sollte, näherte, strömten Scharen von Menschen in das geräumige Stadion. Das Verhältnis der mit Abzeichen versehenen Kongreßbesucher zur Zahl der Hereinströmenden wurde immer kleiner, bis es schien, als ob ganz Nürnberg herbeigekommen sei, ja, es erschienen tatsächlich mehr als 20 000 Nürnberger. Darunter befanden sich viele Gastgeber der Kongreßbesucher. Eine Zeitschrift, die Neue Illustrierte (Köln) vom 20. August, sagte darüber: „Das ‚Zeppelinfeld‘, auf dem Hitler einst die Ausrottung der ‚Zeugen Jehovas‘ proklamierte, war voll besetzt.“ Als der Redner mit seinem Dolmetscher seinen Platz auf dem Podium bezog, wurde er mit Beifall willkommen geheißen. Aufmerksam lauschten der Rede 107 423 Personen, darunter Schwerhörige in einem besonderen Zelte, wo Hörapparate bereitgehalten wurden. Hundert Tonbandgeräte nahmen Vorträge auf. Als der Redner seine Ansprache beendete und die Broschüre über das behandelte Thema vorzeigte, dankte ihm diese gewaltige Zuhörerschar, die sich vor seinen Augen ausbreitete, mit anhaltendem stürmischen Beifall.
Kurz danach hielt der Sekretär und Unterweiser der Wachtturm-Bibelschule Gilead eine halbstündige Ansprache in Deutsch, doch hatte es nun zu regnen begonnen. Als der Präsident darauf seine „Schlußgedanken“ zu äußern begann, prasselte der Regen nieder, aber die Zuhörer im großen Stadion blieben auf ihren Plätzen, in Regenmäntel gehüllt und unter aufgespannten Schirmen, oder auch ohne Bedeckung! Während seiner Äußerungen ließ der Regen allmählich nach. Der Himmel hellte sich etwas auf. Er las einen Brief vor, worin die Gefühle zum Ausdruck kamen, die die nordamerikanischen Brüder wegen der Gastfreundschaft empfanden, die ihre europäischen Brüder ihren Besuchern gegenüber zum Ausdruck gebracht hatten, besonders anläßlich des Kongresses in Nürnberg. Er sagte auch, Jehovas Zeugen hätten sich an der Stätte der früheren Naziparteiversammlungen nicht etwa deswegen versammelt, um rachedurstig den Triumph über ihre früheren Verfolger auszukosten; einzig und allein die Größe der Anlagen seien der entscheidende Umstand gewesen, weshalb sie Nürnberg als Kongreßstadt gewählt hätten. Er dankte allen, die in aufopfernder Weise im Interesse des Kongresses mitgeholfen hatten und sprach empfindungsvoll von warmer Liebe.
Als Bruder Knorr zu sprechen aufhörte, hatte es aufgehört zu regnen. Bis zu dieser Zeit waren Tausende aus dem Obdach der Zelte herausgetreten und füllten nun die Königreichsstraße. Dann wies er seine Zuhörer auf einen am Himmel erscheinenden großen Regenbogen hin. Welch ein Anblick! Welch ein Ende durch die Mitwirkung des Meisterwerkes der Schöpfung des lebendigen Gottes selbst! Atemlos lauschten die Brüder. In vielen Augen quollen Tränen auf. „Selbst eine Person mit starkem Willen konnte ihrer Gefühle kaum mehr Herr werden!“ — so ungefähr sprachen viele. Dann folgte ein Lied, darauf ein an Jehova gerichtetes Dankgebet, womit der Kongreß den richtigen Abschluß fand.
Als Bruder Knorr das erhöhte Podium verlassen wollte, das durch die breite Königreichsstraße von seinen Zuhörern getrennt war, schwenkte er sein Taschentuch. Die Antwort folgte sogleich: die ganze Menge verwandelte sich in etwas, das einer mächtigen Menge wogender, weißer Blumen glich. Große Scharen traten vor, überquerten die Königreichsstraße, erstiegen die Marmorstufen der Treppe, umringten Bruder Knorr und schlossen ihn ein. Es erforderte geraume Zeit, bis er sich einen Weg durch die Menge bahnen konnte, wobei er so viele persönlich begrüßte, als ihm möglich war. Die Kundgebung christlicher brüderlicher Zuneigung rührte alle Zuschauenden.
Nun aber war die Zeit der Abreise gekommen. Die theokratische Tüchtigkeit und Schulung der deutschen Brüder zeichnete auch diesen Anlaß aus. Der Marsch der heimkehrenden Brüder nach den Bussen und Zügen wurde persönlich und durch große Schilder gelenkt. Auf der Station Nürnberg-Dutzendteich fuhr der erste der 49 Sonderzüge (mit der Sonderbezeichnung „Je“ und einer Zahl) etwa um 20.45 Uhr nach Saarbrücken ab; der letzte Zug (Je 148) fuhr um 2.50 Uhr am nächsten Morgen.
Gemäß Zeitungsberichten scheint die Zeppelinwiese für ein künftiges Treffen der Zeugen Jehovas nicht mehr groß genug zu sein. Das anstoßende Märzfeld, eine Riesenanlage mit Türmen, die Hitler zu bauen begonnen hatte, sowie ein Kolosseum und ein mächtiger militärischer Exerzierplatz dürfte den Bedürfnissen eher entsprechen. Der Nürnberger Kongreß von 1955 wurde jedoch zum Gesprächsgegenstand in der Presse. Außer der für Jehovas Zeugen vorgesehenen Sonderausgabe veröffentlichten die dortigen Zeitungen Berichte und Bilder über den Kongreß in der Spaltenlänge von etwa 20 m. Da die Sonderausgabe selbst auch etwa 20 m Spaltenlänge ausmachte, wurden dem Kongreß, was positive Meldungen betraf, im ganzen genommen etwa 40 m Spaltenlänge gewidmet. Bei der Zusammenarbeit mit Redakteuren der örtlichen Zeitungen hörten die Mitglieder der Presseabteilung des Kongresses wiederholt, wie die „Schwarzröcke“ der beiden großen „Kirchen“ sich sehr bemüht hätten, die Redakteure zu beeinflussen, so wenig als möglich über den Kongreß zu berichten. Ein Chefredakteur sagte: „Was meinen Sie, wie die ‚Schwarzen‘ uns im Nacken sitzen!“ Die Zeitungsberichterstatter, die uns größtenteils freundlich gesinnt waren, drückten immer wieder ihre Verwunderung aus über die Art, wie der Kongreß so reibungslos vonstatten ging. Jemand fragte: „Sagen Sie mir doch: Haben Sie vorher Generalprobe gehalten, daß alles so reibungslos vor sich geht?“ Oft drückten diese Reporter ihre Verachtung vor der gegnerischen Propaganda der beiden großen Religionssysteme aus. — Die vielen Abgeordneten aus dem Auslande machten großen Eindruck auf sie.
BERLIN, DEUTSCHLAND, 12. BIS 14. AUGUST 1955
Die Waldbühne in Berlin ist schon die Stätte anderer Kongresse der Zeugen Jehovas gewesen. Bei einer dreitägigen Bezirksversammlung dort im Juli 1949 hatten die 17 232 anwesenden Zeugen eine Protestresolution gegen die kommunistischen Behörden von Ostdeutschland angenommen, und 33 657 Personen besuchten den öffentlichen Vortrag. Später, nämlich am 28. August 1951, wurde nach der großen Hauptversammlung von Westdeutschland in Frankfurt am Main ein eintägiger Kongreß in der Waldbühne abgehalten. Trotz dem Verbot der Zeugen Jehovas durch die Kommunisten versammelten sich 13 563 Personen, um den Präsidenten und andere Vertreter der Gesellschaft zu hören. Am folgenden Tag wurden 237 Personen getauft.
Erkennend, daß unsere Brüder in der kommunistischen Ostzone Deutschlands nicht in der Lage sein würden, die Grenze leicht und sicher zu überschreiten, um nach Westdeutschland zu gelangen und beim internationalen Kongreß 1955 zugegen zu sein, veranstaltete die Watch Tower Society einen Kongreß in Westberlin, der während der letzten drei Tage gleichzeitig mit dem Nürnberger Kongreß tagte. Allerdings wagten es 4000 Ostdeutsche, die Grenze zu überschreiten, um nach Nürnberg zu kommen, aber die meisten überschritten die Grenze von Ostberlin nach Westberlin und erreichten so den schönen Kongreßplatz. Die Waldbühne ist ein großes, von schönem, grünem Wald umgebenes Amphitheater, das am Abhang eines Hügels erbaut ist. Sie liegt im britischen Sektor und in der Nähe des Olympia-Stadions, das Hitler für die Olympischen Spiele erstellt hatte. Der höchste Punkt der Emporenreihe des Amphitheaters befindet sich 28 m über der Grundfläche. Der Radius des Halbkreises mit den Sitzreihen mißt 110 m. Zusammen mit den gemieteten Stühlen, die im Spielfeld aufgestellt wurden, konnte die Waldbühne im oberen, mittleren und unteren Ring sowie auf dem Spielfeld und den Logenplätzen 21 500 Personen fassen.
Auf dem Rund der höchsten Emporenreihe, von dem vier Wege zum Spielfelde hinunterführten, hatte man verschiedene Kongreßabteilungen eingerichtet. Links von der Glockenturmstraße befand sich eine große Cafeteria-Einrichtung mit Küche und Geschirrspül-Abteilung sowie ein Speisezelt. Außerdem gab es überall auf den Anlagen verteilt Erfrischungsstände. Hinter dem Rednerpodium des Amphitheaters spielte ein Orchester, verdeckt von einem Gitter, auf dem der Jahrestext 1955 prangte. Hinter dem Orchester selbst stand eine große Wand, auf der auf weißem Hintergrund das Kongreßmotto „Triumphierendes Königreich“ abstach. Diese Wand war überragt von einer mächtigen Krone mit sieben Zacken ähnlich jener in Nürnberg. Der kennzeichnende Name „Jehovas Zeugen“ in freistehender weißer Schrift flankierte die mächtige Wand. Von der Höhe aus betrachtet, bot das Amphitheater einen schönen Anblick.
In ganz Berlin gibt es rund 4400 Zeugen, doch etwa 2500 davon waren nach Nürnberg geflogen. So waren denn die meisten derer, die dem Kongreß in Berlin beiwohnten, aus der Ostzone Deutschlands gekommen. Trotzdem hörten 9122 Personen am Freitag morgen die Willkommensworte des Vorsitzenden, des Berliner Vertreters der Gesellschaft, der in dieser Eigenschaft diente. Am Nachmittag stieg die Zuhörerzahl auf 10 537 an. Diese hörten den Rechtsberater der Gesellschaft, H. C. Covington, über das Thema sprechen „Tätigkeit und Leben gegen Untätigkeit und Tod“. Er hatte die große Freude, ihnen vier neue Traktate freizugeben. Der Sekretär und Kassierer der Gesellschaft und der Schulsekretär, zugleich Unterweiser, von Gilead sprachen ebenfalls an jenem Abend. Am gleichen Abend wurde hier in Berlin wie auch in Nürnberg die Warnung vernommen, die von der Radiostation der kommunistischen Zone an die Zeugen Jehovas erging.
Am Sonnabend morgen begannen die Tagesereignisse mit der Taufe von 870 Personen. Der Unterweiser Gileads für öffentliches Reden hielt die Taufansprache in Deutsch. Als Höhepunkt des Morgens hielt Präsident Knorr seine erste Ansprache. Am Ende dieser Rede hob er die Broschüre Grundlage für den Glauben an eine neue Welt empor. Nach Ansprachen des damaligen deutschen Zweigdieners, des kanadischen Zweigdieners und des Sekretärs des Präsidenten sprach Bruder Knorr zu 12 122 Zuhörern und hielt eine vernichtende Rede über den Spiritismus.
Den Anfang des Abendprogramms kennzeichnete eine Viertelstunde Begrüßungsworte, kurz gesprochen von elf Delegierten, die aus der Stadt New York, aus England, den Virginischen Inseln, Hongkong, Kanada, Ägypten, Japan, Sudan, den Philippinen, aus Australien und von der Goldküste hergekommen waren. Diese reizvolle viertelstündige Darbietung leitete der Küchenchef des Bethels Brooklyn, der auch als Dolmetscher vom Englischen ins Deutsche diente. Die Berliner waren freudig erregt, Brüder von so verschiedener Farbschattierung zu sehen, und eine große Schar ungezügelter Jungen und Mädchen verließ ihren Platz und drückte sich durch die Menge bis vorn zur Bühne, einige sogar der Bühne entlang, direkt unter die Nase der sprechenden Delegierten und lauschten emporgerichteten Angesichts und mit großen verwunderten Augen. Am Abend waren 13 047 Berliner Zuhörer an der Reihe, sich zu freuen, als Bruder Knorr das Buch „Neue Himmel und eine neue Erde“ freigab. Fünftausend gebundene Exemplare, die in unserer Druckerei in Brooklyn gedruckt worden waren, waren vorrätig und gingen schnell weg. Den aus der Ostzone Gekommenen wurden sie kostenlos verabfolgt.
Dies war der Höhepunkt der dritten und letzten Ansprache Bruder Knorrs an diesem Tage, aber angesichts seiner Rückkehr nach Nürnberg am darauffolgenden Morgen sprach er aus dem Stegreif Abschiedsworte, für die die Anwesenden sehr dankbar waren. Zur Steigerung ihrer Freude kündigte er an, daß gleich nachher der Film „Die Neue-Welt-Gesellschaft in Tätigkeit“ zum Nutzen der Tausende Ostdeutscher gezeigt werden sollte, die ihn bis dahin noch nicht gesehen hatten. So wurde denn nach dem Schlußgebet vor dem Gitter hinter dem Podium eine Leinwand aufgestellt, und 7500 der Kongreßbesucher blieben noch da, um die Filmbilder mit anzusehen. Wiederholt klatschten sie Beifall.
Um dem Erkanntwerden durch Spione zu entgehen, trugen die Brüder aus der Ostzone ihre Abzeichen ohne Angabe des Namens und der Versammlung. Da sie daheim keine Liederbücher hatten, sangen die Besucher aus der Ostzone die Königreichslieder in der Waldbühne aus dem Gedächtnis. Der Gesang wurde durch ein Orchester von 35 Musikern geleitet und war in diesem Amphitheater besonders klangvoll.
Am Sonntag morgen flog das Sonderkongreßflugzeug nach Nürnberg zurück, aber der Vizepräsident und andere blieben noch in Berlin. Die Brüder strömten aus ihren Massenlagern im Olympia-Stadion und aus anderen Unterkünften für die Morgenveranstaltungen nach der Waldbühne. Die 11 114 Anwesenden, besonders die Leute aus der Ostzone, empfingen viel Trost und Kraft, als sie die einstündige Ansprache „Vorsichtig wie Schlangen inmitten von Wölfen“ anhörten.
Der öffentliche Vortrag, den der Vizepräsident um 15 Uhr hielt, wurde durch Handzettel und andere Mittel gut bekanntgemacht, auch durch 48 Banner, die zwischen den für diesen Zweck aufgestellten Masten in ganz Westberlin aufgehängt worden waren. Die Entfaltung dieser Transparente wurde zuerst durch die Stadtbehörden bekämpft, aber durch das großmütige Argument eines Senatsmitgliedes wurde der Einwand gegen sie überwunden. Eine vorzügliche Darbietung durch das Orchester ergötzte die frühzeitig Gekommenen, und die Waldbühne füllte sich mit 17 729 Personen, die gekommen waren, um sich die Ansprache „Weltbesiegung nahe — durch Gottes Königreich“ anzuhören. Mit ununterbrochener höchster Aufmerksamkeit hörten sie der Ansprache bis zum Ende zu und gaben dann ihrer Spannung bei der Freigabe des Vortrages in Broschürenform lebhaften Ausdruck.
Nun folgte eine Pause. Darauf wandte sich der Kongreßdiener an die 15 449 Versammelten, die noch dageblieben waren, und sprach über das Thema „Bleibe wach, stehe fest und werde kräftig“. Während er sprach, ballten sich über den Häuptern Sturmwolken zusammen. Etwa zehn Minuten, nachdem der Vizepräsident mit seinen ‚Schlußworten‘ begonnen hatte, wobei er seine Zuhörer auf eine schnelle Tour durch all die internationalen Kongresse des Jahres 1955 von Chikago bis hierher mitnahm, prasselte schwerer Regen nieder. Tausende der Anwesenden blieben im Regen sitzen. An den steilen Seiten des Amphitheaters liefen Regenbäche herunter und sammelten sich zwischen dem Podium und den niedrigeren Sitzen des Amphitheaters zu Teichen an. Gegen Ende seiner Ansprache nach 18 Uhr begann der Regen nachzulassen. Die dankbaren Zuhörer schienen mit Klatschen nicht aufhören zu wollen. Doch nun kam das letzte Lied, Nr. 91, „Glückliches Zion“, dann das Schlußgebet — und Gottes Königreich hatte einen weiteren Triumph in den deutschen Kongressen errungen! Die vereinte Zahl der am öffentlichen Vortrag in Nürnberg und Berlin Anwesenden (107 423 und 17 729) belief sich auf 125 152, und die Totalzahl der Getauften (4333 und 870) auf 5203.
An jenem Abend begannen die Brüder aus der Ostzone ihre Heimreise über die Trennungslinie der vom Kriege heimgesuchten Stadt Berlin anzutreten. Auf der Kommunistenseite stand auf den Schildern „Anfang des demokratischen Sektors von Groß-Berlin“ zu lesen. Auferbaut und reich gestärkt kehrten sie in der Furcht vor Gott, dem Allmächtigen, nicht aber vor dem schwachen Menschen, zurück. Am folgenden Nachmittag begab sich der Vizepräsident in die Büros der amerikanischen Radiostation RIAS in Berlin (Rundfunk im amerikanischen Sektor). Dort ließ er eine 14 1/2 Minuten dauernde Ansprache in Deutsch über Gottes Königreich auf Tonband aufnehmen, in deren Schlußworten er sich direkt an die Brüder in Ostdeutschland wandte, um ihnen Mut zuzusprechen und ihnen zu versichern, daß wir in unseren Gebeten ihrer gedenken. Diese Ansprache sollte während der für die „Andacht“ eingeräumten Zeit am Sonntag, dem 18. September, über RIAS gefunkt werden. (Dies geschah auch. Sogar in Holland wurde diese vorzügliche Botschaft vernommen.) Zu dieser Zeit befanden sich 1400 Brüder in Ostdeutschland in Haft, und der erste Bruder, der von den kommunistischen Verfolgern im Jahre 1951 verhaftet worden war, war kürzlich zufolge der brutalen Behandlung in Treue gestorben. Am Sonnabend, dem 13. August 1955, brachte das 8 Uhr-Blatt in roten Schlagzeilen gleich oben auf der ersten Seite die Meldung: „Kesseltreiben auf Zeugen Jehovas“, darauf in schwarzer Fettschrift: „Terrorwelle in der Sowjetzone. Berlin, 13. August — Eine neue Terrorwelle gegen Anhänger der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas rollt über die Sowjetzone. Nach mehreren Monaten der Ruhe mehren sich in den letzten Tagen die Meldungen über neue Verfolgungen der Gläubigen. Man schätzt, daß sich über eintausend von ihnen in den sowjetischen Gefängnissen und Zuchthäusern befinden. Die meisten der Häftlinge müssen Zwangsarbeit leisten … [Seite 2:] Seit 1951 ist die Gesellschaft in der Sowjetzone von den kommunistischen Machthabern verboten … Trotz aller Verbote und Verfolgungen ist es den Machthabern in der Sowjetzone bisher nicht gelungen, den engen Zusammenhalt der Gläubigen zu zerschlagen, öffentliche Veranstaltungen sind ihnen nicht mehr möglich … Der Glaube und der Zusammenhalt gibt ihnen eine Kraft, die bisher von den Führern der SED nicht überwunden werden konnte … Es ist immer wieder erschütternd zu sehen, wie ganze Familien aus den entferntesten Dörfern in diesen Tagen ins freie Berlin kommen … Wiederholt hat der Staatssicherheitsdienst versucht, Spitzel und Agenten unter die Zeugen Jehovas zu schicken. Terrorprozesse sprechen eine deutliche Sprache. Der Glaube aber lebt weiter über Zuchthausmauern hinweg.“
(Schluß folgt)