Mein Lebensziel verfolgend
Von Allen S. Coville erzählt
IN LONDON, East End, hörte ich im Alter von achtzehn Jahren zum ersten Male etwas von Jehovas Zeugen. Meine verheiratete Schwester wohnte in einem Außenquartier Londons, und gewöhnlich verbrachte ich das Wochenende dort. Sie studierte die Wahrheit bereits und besuchte die Zusammenkünfte; und wenn ich dachte, sie sei im Garten oder sonstwie beschäftigt, las ich im verstohlenen in den Büchern der Gesellschaft, die auf beiden Seiten des Radioapparates standen. Später machte die Wahrheit einen tiefen Eindruck auf mich, als ich nämlich zu Hause drei von der Watch Tower Society herausgegebene Broschüren las: Engel, Heim und Glück und Wohlfahrt sicher.
Ich hatte mit den Eltern die Kirche der Methodisten besucht, aber schließlich begann ich statt dessen in den Königreichssaal zu gehen. Im Juni 1938 entschloß ich mich, den Predigtdienst aufzunehmen. Damals gab es noch kein Schulungsprogramm, noch keine Drei-bis-acht-Minuten-Predigten, keine Predigtdienstschule. Ich erinnere mich noch, wie wir die kleine Broschüre Heilung gegen einen Penny je Stück anboten. Nachdem ein Bruder mich an sechs Türen mitgenommen hatte, sagte er: „Du gehst hier weiter, und ich arbeite auf der anderen Seite der Straße.“ Als ich meinen Predigtdienst begann, ermangelte ich des Taktes noch vollständig, aber mit Hilfe der Brüder und mit Ausdauer und Geduld meinerseits verbesserte ich mein Darbietungszeugnis.
Dann kam der September 1938. Beim Kongreß in der Royal Albert Hall in London, der vom 9. bis 11. September stattfand, symbolisierte ich meine Hingabe an Jehova durch die Wassertaufe. Eine der Ansprachen Bruder Rutherfords bei jenem Kongreß war betitelt „Schau den Tatsachen ins Auge“. Ich setzte meine Studien in jedem verfügbaren Augenblick fort. Die Hinfahrt zu meiner Arbeitsstelle und auch die Rückfahrt mit der Untergrundbahn erforderten je etwa 45 Minuten, und während dieser Zeit las ich eine ganze Anzahl der Publikationen der Gesellschaft.
MEIN ENTSCHLUSS, INS BETHEL ZU GEHEN
Dann kam der Dezember 1938. Bruder Schroeder, der damals Zweigdiener in England war, stattete der Versammlung einen Besuch ab, und ich wurde eingeladen, in den Betheldienst einzutreten. Ich traf die rechte Entscheidung. Jene neun Jahre, die ich im Londoner Bethel verbrachte, gehören zu den erfreulichsten, obwohl es während der Jahre des zweiten Weltkrieges auch Zeiten großer Spannung gab. Man muß den Zustand, unter beständigen Luftangriffen zu predigen und zu arbeiten, selbst erlebt haben, um die Lage recht zu verstehen.
Ich war dankbar, außer dem Dienst im Bethel auch den Dienst eines Versammlungsdieners ausüben zu können. In jene neun Jahre fiel auch das Erlebnis, wegen der Bewahrung der Neutralität im Weltkrieg eine Gefängnisstrafe abzubüßen. Acht Bethelbrüder wurden am selben Tage eingeliefert, und wir wurden am 4. Juli 1944 wieder freigelassen. Im Jahre 1946 begannen auch meine Eltern die Wahrheit zu studieren, und es war für mich und meine Schwester eine Freude, zuzuschauen, als sie beim Kongreß, der 1951 im Wembley Stadion stattfand, beide getauft wurden.
Dann, gegen Ende 1947, traf ein Brief aus dem Büro des Präsidenten der Gesellschaft ein, in dem ich eingeladen wurde, die Wachtturm-Bibelschule Gilead zu besuchen. „Bitte melde Dich für die Klasse, die am 25. Februar 1948 beginnt.“ Nun galt es, einen weiteren Entschluß zu fassen; ich konnte die Einladung immer noch ablehnen. Mir fiel ein, daß ich ja direkt von einer weltlichen Stellung ins Bethel gekommen war. Viele Gedanken schwirrten mir durch den Sinn, da ich mir sagte: Du bist vorher doch noch nie Pionier gewesen. Angenommen, man sendet dich nun in den Missionardienst, irgendwohin in ein fremdes Land, in dem du von Haus zu Haus gehen und jeden Tag in einer fremden Sprache sprechen müßtest — kannst du das wirklich tun? Aber im Dezember 1947 schifften sich in England vierundzwanzig Zeugen auf dem Dampfer Queen Elizabeth, der nach New York fuhr, ein, und ich befand mich unter ihnen!
Anfang Januar 1948 landeten wir in New York. Nachdem wir im Bethel angekommen waren, wurden wir an verschiedene Orte in New York und der Umgebung verteilt und warteten nun auf die Reise nach Gilead. Nachdem ich soviel über das Bethel in Brooklyn gehört hatte, freute ich mich auf die Tage, an denen ich dort arbeiten durfte.
Der Kurs an der Gileadschule begann am 25. Februar, und die fünfeinhalb Monate, die folgten, sind mir unvergeßlich. Zwar hieß es, schwer arbeiten, aber wir hatten Freude dabei (nämlich bei den täglichen Studien und auch bei der Arbeit auf der Farm), dann erfreuten wir uns der christlichen Gemeinschaft (mit Brüdern verschiedener Nationalitäten, was einem einen Vorgeschmack vom künftigen Leben in der neuen Welt gab), und unsere Wertschätzung vertiefte sich (wegen der Dinge, die die Organisation in ihrer Liebe für jene tut, die den Anforderungen der Gileadschulung entsprechen). Ja, alles wirkte dem einen Ziel entgegen, uns auf die Arbeit vorzubereiten, die später kommen sollte, damit wir besser ausgerüstet wären, uns der „anderen Schafe“ anzunehmen.
Die Abschlußfeier fiel auf den 1. August 1948. Es war die erste Graduierung, die auf den Anlagen vor dem damals neuerrichteten Bibliothekgebäude Siloah stattfand. Als wir Gilead verließen, tönten uns Bruder Knorrs Worte aus der Graduierungsansprache immer noch in den Ohren: „Die Gesellschaft ist eine menschliche Organisation, aber der Geist und Segen des Herrn ruhen auf ihr, und ich kann für die Gesellschaft sagen, daß sie euch nicht im Stiche lassen wird. Wir stehen einem jeden von euch bei!“ Und wie haben sich doch diese Worte bewahrheitet! Seither haben viele von uns einander mindestens zweimal wiedergesehen, nämlich im Jahre 1953 im Yankee-Stadion und dann wieder im Jahre 1958 anläßlich des internationalen Kongresses „Göttlicher Wille“ bei der besonderen Zusammenkunft im New Rockland Palace.
DAS IN DER GILEADSCHULE GELERNTE ANWENDEN
Nach Gilead diente ich als Kreisdiener im Kreis vier, Pennsylvanien, und fing damals an, das, was ich in der Gileadschule gelernt hatte, anzuwenden. Darauf, und zwar nach einem Jahr, nachdem wir uns ausgeschifft hatten, befanden sich sechs von der ursprünglichen Gruppe von vierundzwanzig wieder auf der Queen Elizabeth, um heimzukehren.
Mit einem anderen englischen Bruder zusammen erhielt ich als Missionar ein Gebiet in Frankreich zugeteilt, wo ich jeden Tag von Haus zu Haus gehen und in einer fremden Sprache sprechen sollte. Das, was ich also vor dem Besuche der Gileadschule erwogen hatte, war nun Tatsache geworden! So fand denn im Januar 1949 an einem nebligen Morgen die Nachtfähre, die Southhampton mit Le Hâvre verband, mit mir ihren Weg in den Hafen von Le Hâvre. Und nun begann unsere Anwendung des in der Gileadschule Gelernten.
Einige Verkündiger des Ortes begrüßten uns in lebhaftem Französisch, dem wir unmöglich folgen konnten. Wir verließen das Dock und wanderten durch die Stadt, um uns unser künftiges Gebiet anzusehen. Schließlich erreichten wir unsere Wohnung. Sie bestand aus einem abgeschrägten Dachzimmer der Wohnung eines älteren Bruders und einer Schwester. Dieses Ehepaar tat für uns alles, was es nur tun konnte, und wir schätzten es, und dennoch war alles so ganz anders! Hier begannen für uns die Geduld und Ausdauer und der wahre Glaube an Jehova und seine Organisation. Schließlich hatten wir uns eingerichtet und begannen zu arbeiten, was auch einschloß, daß wir selbst kochen und waschen mußten.
Obwohl wir in Gilead mit einer grundlegenden Kenntnis der französischen Sprache ausgerüstet worden waren, fiel es uns schwer, ein Zeugnis zu geben. Noch in England hatte man mir eine Karte in Französisch ausgestellt, und ich konnte diese zur Einführung vorweisen. Im ersten Hause, in dem wir vorsprachen, fanden wir jemand, der Bücher der Gesellschaft hatte. Wir verstanden es nicht, als sie uns sagten, sie hätten einige, aber wir sahen, daß sie solche Bücher hatten, nachdem man sie uns gezeigt hatte. So fuhren wir fort und sagten langsam: „Voulez-vous lire cette carte, s’il vous plâit?“ Darauf hörten wir als Antwort eine wahre Flut von Worten.
Während wir Woche um Woche arbeiteten, verbesserte sich unsere Kenntnis der französischen Sprache allmählich; wir besuchten das Wachtturm-Studium und folgten ihm treulich in Französisch.
BEI BIBELSTUDIEN LERNEN UND LEHREN
Umständehalber war es uns nicht möglich, länger als fünf Monate dort zu bleiben, und so kehrten wir nach England zurück. Nun wurde mir ein anderes Gebiet zugeteilt, diesmal in Belgien. Am 1. September 1949 kam ich in Belgien an. Da ich nun bereits mit einer gewissen Kenntnis der französischen Sprache gewappnet war und wir vier Missionare beisammenwohnten, lernte ich die französische Sprache immer besser kennen. Ich kann wahrheitsgemäß sagen, daß ich, um Französisch zu verstehen und zu sprechen, die größte Hilfe dadurch empfing, daß ich Heimbibelstudien abhielt, und dies sowohl in Frankreich als auch in Belgien. Es gelang mir, den Leuten zu verstehen zu geben, daß ich es schätzen würde, wenn sie meine auffallenden Fehler in der Aussprache und Grammatik korrigieren würden. Gleichzeitig konnte ich ihnen anhand des Wortes Jehovas zeigen, wie sie die „neue Sprache“ der Bibel erlernen konnten. Wenn ich jetzt zurückblicke, kann ich sagen, daß ich auf diese Weise viel von der Sprache lernte, nämlich indem ich mich unter die Menschen begab und von ihnen lernte und dabei die Zeit im Interesse ihres geistlichen Wohls verwandte.
Im ersten Monat, in dem ich in Belgien war — wir führten gerade einen Broschürenfeldzug durch —, konnte ich 514 Broschüren abgeben, und im siebenten Monat hatte ich das Vorrecht, neunzehn Bibelstudien durchzuführen.
Seitdem ich hier in Belgien bin, sind mir verschiedene Dienstvorrechte zuteil geworden: Dienst als Missionar, als Kreisdiener und als Bezirksdiener und auch Dienst im Bethel in Brüssel. Nachdem ich Jehova nahezu siebzehn Jahre lang als lediger Mann gedient hatte, heiratete ich im Juli 1955 eine Schwester, die die siebzehnte Klasse Gileads besucht und seit Mai 1945 im Pionierdienst gestanden hatte. Wir wurden in Brüssel verheiratet und haben während der vergangenen fünf Jahre hier in Belgien Jehova gedient.
Der Missionardienst führt zu einem glücklichen Leben. Ich muß sagen, daß jene wenigen nach Gilead in Frankreich verbrachten Monate bis jetzt die härtesten gewesen sind; aber ich freue mich heute, damals durchgehalten zu haben, weil solche Erfahrungen uns für weitere Prüfungen stählen.
Ich bin glücklich, daß ich mich im Dezember 1938 entschloß, den Dienst im Bethel in London aufzunehmen, denn er hat mich zu reichen Segnungen geführt. Viele Vorrechte werden unser Teil, wenn wir wie Jesaja sagen: „Hier bin ich, sende mich.“ Wenn Entscheidungen zu treffen sind, ist es richtig, die Kosten zu überschlagen, doch wer sich für das Königreich und seine Interessen entscheidet, wird nie enttäuscht werden.