Mit meinen Schwächen fertig werden
Von Thomas Addison erzählt
ALS kleiner Junge machte ich selbst um einen harmlosen Vogel auf dem Weg einen großen Bogen. Ich war ein so verschlossenes Kind, daß ich mich hinter dem Rock meiner Mutter verbarg, wenn Verwandte oder Bekannte zu uns kamen. War Besuch im Haus, zog ich mich stets möglichst schnell ins Schlafzimmer zurück. In Gegenwart von Autoritätspersonen — besonders von Lehrern — brachte ich keinen Ton heraus.
Was half mir, mich zu ändern? Wie konnte jemand wie ich, der als Kind so schüchtern war, in den letzten Jahren auf großen Kongressen zu Tausenden von Menschen sprechen?
Die Eltern „biegen den jungen Zweig“
Meinen Eltern — hauptsächlich meinem Vater, einem hageren, energischen Schotten — fiel es schwer, mich als Kind zu verstehen. Mein Vater war seit seinem 14. Lebensjahr Waise und gleichsam ein ungeschliffener Diamant. Er hatte schon früh in seinem Leben gelernt, selbst für sich zu sorgen. Meine Mutter, die Tochter eines Farmers, war dagegen die Güte in Person. Von klein auf wurde ich liebevoll und streng, aber nicht überfürsorglich erzogen.
Im Jahre 1945, als ich sechs Jahre alt war, hielt ich meine erste Ansprache in der Theokratischen Predigtdienstschule. Ich trug sie im Schein einer Petroleumlaterne in einer kleinen australischen Versammlung vor, die nur aus drei Familien bestand. Rechtzeitig im voraus half mir mein Vater bei der Vorbereitung, und er erläuterte mir den Nutzen der freien Rede. Er betonte auch, daß man nie Angst davor haben sollte, was andere Leute sagen oder denken. Seine Worte waren: „Wir Menschen sind alle nur ein Haufen Staub. Einige Haufen sind etwas größer als andere, aber das ist auch alles.“ Trotzdem schlotterten mir die Knie, und die Hände schwitzten. Nach der Hälfte der Ansprache brachte ich kein Wort mehr heraus; ich konnte sie nicht beenden.
Ich muß etwa 10 Jahre alt gewesen sein, als unser Vater meinen jüngeren Bruder Robert und mich in die Stadt mitnahm, wo wir uns auf der Hauptstraße direkt vor das Kino stellten. Dort, vor den Augen unserer Mitschüler, hielten wir die Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! hoch. Die Zeitschriften erschienen mir so schwer wie Blei, und manchmal ließ ich sie einfach hinter meinem Rücken verschwinden. Am liebsten hätte ich mich in ein Mauseloch verkrochen.
Das mutige Beispiel meines Vaters war jedoch ein großer Ansporn für mich. Er sagte stets, daß jemand, der zurückweicht, Satan und der Menschenfurcht nachgeben würde. Eine weitere Prüfung hatte ich in der Schule zu bestehen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war in Australien der Nationalismus immer noch sehr ausgeprägt. Meine Schwester Ellerie und ich blieben sitzen, wenn in der Schule die Nationalhymne gespielt wurde. Für mich war es eine echte Prüfung, aufzufallen, weil man anders war, aber auch in diesem Fall half mir die ständige Unterstützung und Ermunterung meiner Eltern, keine Kompromisse zu machen.
Das hervorragende Beispiel meines Vaters
In Anbetracht der Vergangenheit und der Art meines Vaters war er eigentlich sehr geduldig mit mir. Als Junge von gerade 13 Jahren hatte er in England in Kohlengruben zu arbeiten begonnen. Er war Anfang 20, als er in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Australien auswanderte. Mittlerweile hatte jedoch die wirtschaftliche Depression der 30er Jahre eingesetzt, und er mußte unter entsetzlichen Bedingungen arbeiten, um für seine Familie zu sorgen.
Mein Vater war von den Zuständen im allgemeinen und von der Politik im besonderen tief enttäuscht. Als er daher die Bücher der Watch Tower Society las, in denen die Heuchelei in der Politik, der Geschäftswelt und der Religion furchtlos aufgedeckt wurde, berührte dies bei ihm eine empfängliche Saite. Kurz nachdem sich meine Mutter Jehova hingegeben hatte, um ihm zu dienen, unternahm auch er diesen Schritt. Obwohl er seit einem Grubenunglück mit einer kollabierten Lunge leben mußte und über keinerlei spezielle Berufskenntnisse verfügte, zog er mit uns an Orte, wo in geistiger Hinsicht Not am Mann war. Sein Vertrauen auf Jehova hinterließ bei mir einen tiefen Eindruck.
Ich kann mich beispielsweise noch daran erinnern, daß wir in eine kleine Bergarbeiterstadt zogen, in der es nur zwei Zeugen gab, ältere Schwestern mit einem ungläubigen Mann. Wir hatten zunächst Probleme, eine Wohnung zu finden, aber schließlich konnten wir ein altes Haus mieten, das einige Kilometer außerhalb der Stadt lag. Unsere einzigen Fortbewegungsmittel waren unsere Füße und unsere Fahrräder. Eines Morgens, als wir drei Kinder gerade bei Bekannten waren, brannte das Haus völlig nieder. Unsere Eltern konnten nur das nackte Leben retten. Wir waren weder versichert, noch hatten wir Geld.
Kurz vor seinem Tod im Jahre 1982 nahm mein Vater auf diese Begebenheit Bezug. Er sagte: „Kannst du dich noch erinnern, daß unsere Lage zunächst hoffnungslos erschien, daß aber Jehova uns beistand? Nach dem Brand schickten uns die Brüder aus Perth Möbel, Kleidung und Geld. Aufgrund ihrer Großzügigkeit ging es uns nach dem Feuer besser als vorher.“ Zunächst dachte ich, mein Vater würde etwas übertreiben, wenn er immer wieder von der Hilfe Jehovas in unserem Leben sprach. Doch das, was er als göttliche Hilfe bezeichnete, erfuhren wir viel zu häufig, um es anders erklären zu können.
Die positive Einstellung meiner Mutter
Negatives Denken war stets eines meiner großen Probleme. Oft fragte mich meine Mutter: „Warum siehst du immer nur die Schattenseiten des Lebens?“ Ihr eigenes Beispiel, auch das Schöne zu sehen, war für mich ein Ansporn, positiver zu denken.
Unlängst erwähnte meine Mutter ein Geschehnis, das sich in einem ländlichen Ort zutrug, kurz nachdem wir dorthin gezogen waren. Es ging um eine Bemerkung des dortigen Arztes, die sie amüsierte. Wegen der sauberen Kleidung und der adretten Erscheinung unserer Eltern nahm er an, daß sie wohlhabend seien. In Wirklichkeit wohnten wir in einer großen Scheune, die mit Jutesäcken unterteilt war. Es gab weder Strom noch Gas, noch fließendes Wasser. Eines Tages versuchte ein Bulle, die Eingangstür einzurennen. Es ist sicher nicht schwer, zu erraten, wo ich war: unter dem Bett!
Unsere Mutter holte von einem 200 m entfernten Brunnen das Wasser in zwei je 15 Liter fassenden Eimern, die an einem Joch befestigt waren, das sie auf den Schultern trug. Sie besaß die Gabe, selbst Unannehmlichkeiten noch eine positive Seite abzugewinnen, und betrachtete — mit ein wenig Nachhilfe von meinem Vater — eine schwierige Situation nicht als Hindernis, sondern als Herausforderung, die es zu meistern galt. Stets wies sie darauf hin, daß wir materiell zwar nur wenig hatten, uns dafür aber manch schöner Segnungen erfreuten.
Wir verbrachten beispielsweise viele glückliche Tage auf Predigtreisen in entfernte Gebiete, übernachteten unter freiem Himmel, brieten Eier und Schinken über offenem Feuer und sangen unterwegs Königreichslieder. Unser Vater sorgte mit seinem Akkordeon für die Begleitmusik. Ja, in dieser Hinsicht waren wir wirklich reich. In einigen Landstädten mieteten wir kleine Säle und kündigten öffentliche Vorträge an, die jeweils am Sonntag nachmittag gehalten wurden.
Wegen wiederholter gesundheitlicher Probleme unseres Vaters mußte unsere Mutter zeitweise mitarbeiten, um das Einkommen etwas aufzubessern. Jahrelang pflegte sie ihre eigene Mutter und ihren Großvater bis zum Tod und schließlich auch unseren Vater. Das tat sie, ohne zu klagen. Obwohl ich weiterhin depressive Phasen und oft eine negative Einstellung hatte, gaben mir ihr Beispiel und ihre sanften Anstöße den Antrieb, trotzdem nicht aufzugeben.
Mit Depressionen fertig werden
Als ich bereits auf die 20 zuging, kehrten all die schon überwunden geglaubten Schwächen aus Kindertagen unaufhaltsam zurück. Bestimmte Fragen über das Leben ließen mir keine Ruhe. Ich begann darüber nachzugrübeln, ob alle Menschen die gleiche Chance haben, Jehova kennenzulernen und ihm zu dienen. Wie verhält es sich zum Beispiel mit einem Kind, das in Indien oder China geboren wird? Es hat doch wesentlich schlechtere Möglichkeiten, Jehova kennenzulernen, als ein Kind, dessen Eltern Zeugen Jehovas sind. Welch eine Ungerechtigkeit! Eine große Rolle spielt ja auch die Vererbung und die Umgebung, auf die ein Kind keinen Einfluß hat. In so vieler Hinsicht schien das Leben ungerecht zu sein. Stundenlang diskutierte ich mit meinen Eltern über solche Fragen. Auch mein Aussehen störte mich. Es gab manches, was ich an mir nicht mochte.
Die Grübelei über diese Dinge löste bei mir Depressionen aus, die manchmal wochenlang anhielten. Das schadete wiederum meiner persönlichen Erscheinung. Mehrmals dachte ich insgeheim an Selbstmord. Teilweise gab es mir eine gewisse Befriedigung, mich selbst zu bemitleiden, da ich mich als mißverstandener Märtyrer betrachtete. Ich wurde immer introvertierter. Eines Tages überkam mich plötzlich ein schreckliches Gefühl. Alles um mich herum schien nicht wirklich vorhanden zu sein, mir war, als blickte ich durch eine beschlagene Fensterscheibe.
Diese Episode machte mir auf einen Schlag bewußt, wie gefährlich Selbstmitleid sein kann. Im Gebet legte ich Jehova meinen Entschluß vor, gezielte Anstrengungen zu unternehmen und nie wieder dem Selbstmitleid nachzugeben. Ich begann mich auf positive, biblische Gedanken zu konzentrieren. Von jener Zeit an las ich mit mehr als der gewöhnlichen Aufmerksamkeit alle Artikel in den Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet!, die Persönlichkeitsmerkmale behandelten, und legte sie in einem besonderen Ordner ab. Auch notierte ich mir sorgfältig Empfehlungen aus dem Königreichsdienst, wie man sich mit anderen unterhält.
Als erstes setzte ich mir das Ziel, mich bei jeder christlichen Zusammenkunft so lange wie möglich mit einer Person zu unterhalten. Anfangs dauerte jedes dieser Gespräche höchstens eine Minute. Deshalb kam ich oft völlig niedergeschlagen nach Hause. Doch durch beharrliches Bemühen verbesserte sich allmählich meine Fähigkeit, mit anderen zu sprechen.
Außerdem stellte ich wegen der Fragen, die mich so verwirrt hatten, umfangreiche persönliche Nachforschungen an. Des weiteren achtete ich auf meine Ernährung und fand heraus, daß sich die Einnahme eines bestimmten Wirkstoffs positiv auf mein Befinden und meine Vitalität auswirkte. Später erfuhr ich, daß Depressionen auch durch gewisse andere Faktoren ausgelöst werden können. Manchmal konzentrierte ich mich beispielsweise so sehr auf ein Interessengebiet, daß ich in regelrechte Hochstimmung geriet. Darauf folgte jedoch unausweichlich wieder ein Tief, was einen Energieverlust und schließlich Depressionen nach sich zog. Die Lösung war, zu lernen, gleichbleibendes Interesse für eine Sache zu haben, statt übereifrig zu sein. Auch heute noch muß ich in dieser Hinsicht auf der Hut sein.
Der nächste Schritt war, das Ziel zu erreichen, das unsere Eltern uns Kindern stets vor Augen gehalten hatten, nämlich den Vollzeitdienst aufzunehmen. Die Entschlossenheit meiner Schwester, die seit über 35 Jahren das Vorrecht hat, im Pionierdienst zu stehen, ist für mich immer noch ein echter Ansporn.
Probleme in Verbindung mit unserem Sohn meistern
Nachdem ich einige Jahre im ledigen Stand den Pionierdienst durchgeführt hatte, heiratete ich Josefa, die ebenfalls Pionier war. Sie ist für mich in jeder Hinsicht ein ideales Gegenstück. Im Laufe der Zeit wurden uns drei Kinder geboren. Craig, unser Ältester, kam 1972 mit schwerer Gehirnlähmung zur Welt. Sein Zustand ist für uns eine echte Herausforderung, da er nichts selbst tun kann, außer unbeholfen sein Essen zu löffeln. Wir lieben ihn natürlich von Herzen, daher habe ich alles mögliche versucht, um ihm zu helfen, etwas selbständiger zu werden. So baute ich für ihn schon zahlreiche Gehhilfen. Wir suchten eine ganze Reihe von Spezialisten auf, die aber auch nicht viel erreichen konnten. Das führte mir vor Augen, daß man sich mit bestimmten Lebensumständen einfach abfinden muß.
In Craigs ersten zwölf Lebensjahren kam es immer wieder vor, daß er jegliche Nahrungsaufnahme verweigerte. Begleitet wurde dies von unwillkürlichem Erbrechen. Man sagte uns, daß neurologische Störungen die Ursache seien. Wir mußten mit ansehen, wie er schwächer und schwächer wurde. Das Gebet half uns, stark zu bleiben. Mit Hilfe von Medikamenten gelang es schließlich, das Problem in den Griff zu bekommen. Glücklicherweise scheint Craig gerade noch rechtzeitig wieder zu Kräften gekommen zu sein, so daß er uns auch weiterhin mit seinem einnehmenden Lächeln und seinem endlosen Repertoire von Liedern erfreut.
Josefa fiel es zunächst sehr schwer, mit der schmerzlichen Situation fertig zu werden. Aber schließlich gewannen ihre Liebe und Geduld bei der Sorge um Craigs Bedürfnisse die Oberhand. So konnten wir weiterhin in Gebiete ziehen, wo ein größerer Bedarf an christlicher Hilfe bestand. Dank Josefas Unterstützung und praktischem Beistand konnte ich einige Jahre lang halbtags arbeiten, wodurch es mir möglich war, im Hilfspionierdienst zu stehen und gleichzeitig für unsere Familie zu sorgen.
Die Notwendigkeit positiven Denkens
Wenn Craig wegen wiederholter Krankheit oder aus Frustration über seine Behinderung deprimiert ist, stärken wir ihn mit einem meiner Lieblingstexte: ‘Wir sind nicht von denen, die zurückweichen’ (Hebräer 10:39). Er kennt ihn auswendig, und er ist für ihn stets eine Ermunterung.
Schon von klein auf hat Craig eine besondere Liebe zum Predigtdienst. Dank eines speziellen Rollstuhls kann er sich uns oft anschließen. Sehr gern begleitet er uns, wenn ich von Zeit zu Zeit in anderen Versammlungen als stellvertretender Kreisaufseher diene. Seine kurzen Kommentare im Buchstudium und seine unermüdlichen Darlegungen biblischer Geschichten in der Sonderschule, die er besucht hat, haben einen Eindruck hinterlassen, wie Nichtbehinderte ihn niemals hinterlassen könnten. Durch Craig werde ich daran erinnert, daß Jehova uns ungeachtet unserer Grenzen dazu gebrauchen kann, seinen Willen und Vorsatz zu unterstützen.
Vor einiger Zeit hatte ich das Vorrecht, als Unterweiser in der Königreichsdienstschule zu dienen. Trotz all der Jahre des Dienstes war ich zu Anfang doch etwas nervös. Weil ich jedoch auf Jehova vertraute, legte sich die Nervosität bald, und ich verspürte wieder die stützende Kraft Jehovas.
Bei einem Rückblick auf meine 50 Lebensjahre gelange ich zu der Überzeugung, daß nur Jehova eine Person wie mich so liebevoll schulen und aus mir einen Geistesmenschen machen konnte.