Gehorsam — eine Quelle reicher Segnungen
Von Heinrich Dwenger erzählt
ICH war etwa siebzehn Jahre alt und lebte in Hamburg, als ich den Wert der Bibel erkannte und sie zu meiner täglichen Lektüre machte. Das war vor sechzig Jahren. Heute bin ich glücklich, daß ich schon in jungen Jahren das Wort Gottes sehr schätzte und erkannte, daß ich Hilfe brauchte, um es zu verstehen, und daß ich diese Hilfe suchte. Da ich mich von ihm leiten ließ, wurde ich reich gesegnet und konnte in den schwersten Zeiten der Geschichte Gottes Führung verspüren.
Zuerst suchte ich jedoch vergeblich. Eine nähere Prüfung der anerkannten Kirchen zeigte mir, daß sie den Traditionen mehr Beachtung schenkten als dem Worte Gottes und daß die Gläubigen im allgemeinen den Lehren der Bibel sehr gleichgültig gegenüberstanden. Wer konnte mir helfen, Gottes Wort zu verstehen? Ich brauchte wirklich Hilfe und suchte sie auch.
Als ich im Jahre 1907 eines Tages die Zeitung Hamburger Generalanzeiger öffnete, fiel mir ein Traktat mit dem Titel „Das Erstgeburtsrecht wird verkauft“ in die Hände. Die Wachtturm-Gesellschaft in Barmen (Deutschland, seit 1929 mit Wuppertal vereinigt) hatte eine große Anzahl dieser Traktate durch diese Tageszeitung verbreiten lassen. Ich las diese Schrift mit großem Interesse und bestellte auch sofort die darin empfohlenen Schriftstudien. Die Freude, die ich beim Lesen dieser Bände empfand, ist schwer in Worte zu kleiden. Endlich hatte ich gefunden, was ich gesucht hatte; etwas, was mir half, die Bibel zu verstehen.
VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN
Ich abonnierte sogleich die Zeitschrift Der Wachtturm. Die darin enthaltene Aufforderung, Traktate von Haus zu Haus zu verbreiten, nahm ich gern an, und ich verteilte diese Schriften in der Hoffnung, daß sich viele andere Menschen in gleicher Weise darüber freuen und die Bibel verstehen lernen würden. Aber ich mußte bald einsehen, daß nur wenige Menschen nach einer klaren Erkenntnis des göttlichen Wortes suchten. Meine Eltern und andere Verwandte, denen ich die Schriftstudien und Traktate gab, freuten sich darüber nicht, sondern waren dagegen. Das entmutigte mich jedoch nicht, denn ich war überzeugt, daß es die Wahrheit war und ich dadurch auch andere glücklich machen konnte.
Aufgrund meiner Anfrage bei der Wachtturm-Gesellschaft erhielt ich Verbindung mit drei oder vier anderen interessierten Personen in Hamburg, und bald fanden wir uns zum gemeinsamen Studium der Schriftstudien zusammen. Kurz danach veranstalteten wir auf Anregung des Leiters des Predigtwerkes in Deutschland unter der Mitwirkung befähigter Brüder aus der Zentrale in Barmen öffentliche Vorträge in Hamburg.
Im darauffolgenden Jahr (1909) besuchte ich das Bethelheim der Wachtturm-Gesellschaft in Barmen und symbolisierte bei dieser Gelegenheit meine Hingabe an Jehova durch die Wassertaufe. Das war ein glücklicher Tag für mich. Doch dann wurde ich vor eine Entscheidung gestellt. Der Zweigdiener schlug mir vor, in den Vollzeitpredigtdienst einzutreten. Ich wußte, daß meine Eltern bitter enttäuscht sein würden, wenn ich meinen weltlichen Beruf aufgäbe. Nach sorgfältiger, gebetsvoller Erwägung war ich jedoch überzeugt, daß es der Wille des Herrn war, daß ich in den Pionierdienst eintreten sollte. So gab ich denn meinen Beruf am 30. September 1910 auf und begann am nächsten Tag meinen Pionierdienst in Hamburg.
Der Segen des Herrn ruhte offenbar auf unseren Bemühungen, und es schlossen sich weitere Freunde der Wahrheit unserer kleinen Studiengruppe an. Ich war auch in einigen Städten in Schleswig-Holstein tätig. Aber im Sommer 1911 erhielt ich von der Gesellschaft eine Einladung zur Mitarbeit im Bethel in Barmen, und ich nahm die Einladung freudig an.
DER ERSTE WELTKRIEG
Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg waren für mich eine glückliche Zeit. Ich freute mich, mit den Brüdern vom Bethel sonntags am Felddienst teilzunehmen und Traktate von Haus zu Haus zu verteilen. Wir warnten die Menschen vor der großen Drangsal, die 1914, da die „bestimmten Zeiten der Nationen“ enden sollten, ausbrechen würde. (Luk. 21:24, NW) Im Jahre 1910 hatte der Zweigdiener in einem großen Saal in Barmen über dieses Thema einen öffentlichen Vortrag gehalten, der viel Aufsehen erregt hatte. Die Gegner spotteten, sie müßten uns bis 1914 noch ertragen. Als aber dann plötzlich der Weltkrieg ausbrach, verstummten sie mit ihrem Gespött.
Nun entstand die Wehrdienstfrage. Wie konnte ich als Christ meine Nächsten lieben und dabei zu Mordwaffen greifen, um sie umzubringen? Nach sorgfältiger, gebetsvoller Überlegung war mir klar, daß ich Jehovas Geboten gehorchen und mich an Deutschlands militärischen Aktionen nicht beteiligen würde. Im Frühling 1915 erhielt ich den Stellungsbefehl. Ich schrieb sofort an die Militärbehörde und teilte ihr mit, ich würde den Fahneneid und die Waffen verweigern.
Ein Militärarzt wurde beauftragt, mich zu untersuchen. Ich bemühte mich zu zeigen, daß meine Entscheidung — entgegen der Ansicht der Militärbehörde — dem Geiste eines gesunden Sinnes entsprach. Dann kam die Verhandlung. Man stellte mir die Frage: „Was würden wir tun, wenn alle so handelten wie Sie?“ Meine kurze Antwort war: „Dann hätten wir keinen Krieg.“ Ich mußte viele Fragen beantworten, und ich war glücklich, ein gutes Zeugnis für die Wahrheit geben zu können.
DAS WERK WIEDERBELEBT
Nach dem Krieg öffnete Jehova die Tür zu weiterer ausgedehnter Predigttätigkeit. Das deutsche Volk war über den Ausgang des Krieges sehr enttäuscht, und der Einfluß der Geistlichkeit war sehr geschwächt worden. Deshalb wurde unsere Predigttätigkeit selbst in ganz katholischen Gegenden fast kein Widerstand entgegengebracht, und es entstanden bald überall in Deutschland kleine Versammlungen. Ich wurde von der Gesellschaft beauftragt, in vielen süddeutschen Städten öffentliche Vorträge zu halten und bei der Gründung von Versammlungen mitzuhelfen. Zu meiner großen Freude sah ich, wie das Zeugniswerk, das eine Zeitlang gleichsam wie tot auf der Straße gelegen hatte, wiederbelebt wurde. — Offb. 11:8.
Wegen der Ausdehnung der Predigttätigkeit war das Bethel in Barmen bald zu klein. Wir siedelten daher nach Magdeburg über, wo wir in einem größeren Gebäude eine Druckerei einrichteten. Bis zum Jahre 1931 war die Zahl der Verkündiger auf über 10 000 angestiegen, und die Rotationspressen in Magdeburg versorgten sie mit Millionen von Schriften zur Verbreitung. In den beiden folgenden Jahren dehnte sich das Werk weiter aus, so daß in den ersten Monaten des Jahres 1933 über 19 000 Verkündiger an der Predigttätigkeit in Deutschland teilnahmen.
In diesen Jahren wurden wir gestärkt und für die furchtbare Zeit ausgerüstet, die für uns einsetzte, als Hitler an die Macht kam. Durch die Annahme des Namens „Jehovas Zeugen“ im Jahre 1931 wurden wir besonders angespornt, standhaft auf der Seite des großen Gottes Jehova zu bleiben. Als daher 1933 das Werk in Deutschland verboten wurde, wußten wir, daß es nun galt, furchtlos zu handeln. Die vielen Ermahnungen in der Bibel: „Fürchtet euch nicht!“, gaben uns dabei viel Kraft.
AUFTRÄGE IN GEFAHRVOLLEN ZEITEN
Als 1933 die Schwierigkeiten begannen, wurde ich von der Gesellschaft beauftragt, nach Ungarn zu reisen, um das Predigtwerk dort zu unterstützen. Zu meiner Überraschung erhielt ich von der Magdeburger Polizei die Ausreisegenehmigung. Kurz darauf war ich auf der Reise nach Ungarn.
Jehova zeigte uns in Budapest einen Weg, wie wir verschiedene Broschüren und auch den Wachtturm in ungarischer Sprache drucken konnten. Die Behörden unternahmen zunächst nichts gegen die Verbreitung der Königreichsbotschaft, und die Brüder in ganz Ungarn beteiligten sich rege an der Verbreitung der Schriften. Auf diese Weise wurden viele Menschen guten Willens gefunden und mit Jehovas Zeugen in Verbindung gebracht. Etwa zwei Jahre konnte ich die Königreichsbotschaft in Ungarn ungehindert verbreiten und wurde reich gesegnet.
Dann erhielt ich eines Tages die Nachricht, der Zweigdiener in Magdeburg sei von der Gestapo verhaftet worden und ich solle nach Magdeburg zurückkehren, um dort das Werk weiterzuführen. Die Brüder in Budapest protestierten jedoch und sagten: „Wenn Du nach Deutschland zurückkehrst, wirst Du wahrscheinlich bald verhaftet, während Du uns hier noch helfen könntest.“ Ich sagte ihnen, daß es nicht darum gehe, ob ich verhaftet werde oder nicht, sondern darum, daß ich von Jehovas Organisation einen Auftrag erhalten hätte. „Das beste ist, stets gehorsam zu sein“, erklärte ich.
In Magdeburg angekommen, erhielt ich die Mitteilung, die Gestapo habe festgestellt, daß die Gesellschaft einen Raum gemietet hatte, wo die vielen Adressen der Wachtturm-Leser und andere wichtige Dokumente aufbewahrt wurden. Die Gestapo hoffte dort irgendwelche Beweise zu finden, die sie veranlassen könnten, das Eigentum der Gesellschaft zu beschlagnahmen. Ich beschloß deshalb, sofort alles dort wegzuholen, und als die Gestapo einige Tage später kam, fand sie nur leere Regale. Ihre Enttäuschung war natürlich groß.
Nun beschloß die Gestapo in Berlin, scharfe Maßnahmen gegen uns zu ergreifen. Sie erschien eines Morgens unerwartet im Bethel in Magdeburg, versiegelte alle Druckereimaschinen und durchsuchte alle Räume. Ich wollte an jenem Tag zu dem Anwalt nach Halle fahren, der die Sache der Gesellschaft vertrat, aber die Gestapo kam ins Bethel, bevor ich es verlassen konnte. Ich hätte am nächsten Tag auch den Zweigdiener aus der Schweiz in Berlin treffen sollen, um mit ihm wichtige Fragen zu besprechen, weil er nun für das Werk in Deutschland verantwortlich war.
Die Gestapo schien nun aber diese Pläne zu vereiteln. Gerade vor ihrer Ankunft ging ich in eines der Wohnzimmer und schloß die Tür von innen zu. Es wurde mehrmals kräftig auf die Türklinke gedrückt, aber die Gestapo ließ die Tür nicht gewaltsam öffnen. Wie oft haben ich und viele andere Brüder erfahren, daß die Gegner an uns oder an den Schriften, die sie suchten, direkt vorbeigingen. Es war, als ob Jehova sie mit Blindheit geschlagen hätte. So war es auch diesmal.
Nach drei Stunden verließ ich das Grundstück durch einen zweiten Ausgang. Da sie mich nicht fanden, wurde der Leiter der Magdeburger Gestapo beauftragt, nach Halle zu unserem Anwalt zu fahren, um mich dort zu verhaften. Es wurden zwei Wachen im Bethel zurückgelassen, die mich verhaften sollten, falls ich zurückkehren würde. Diese Einzelheiten erzählte mir der Anwalt zwei Tage später in Halle. Aufgrund dieser Ereignisse wurde mir nachher auch die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Als ich schließlich den Schweizer Zweigdiener in Berlin traf, kamen wir zu dem Schluß, daß ich in Deutschland nicht mehr viel tun könne, und deshalb sandte er mich nach Danzig (Polen).
Er selbst wurde dann von der Gestapo verhaftet und eine Woche festgehalten. Nach seiner Freilassung berief er mich nach Bern.
1936 wurde ich nach Prag (Tschechoslowakei) zur Mitarbeit im Bethel gesandt. Fast drei Jahre konnte ich dort tätig sein, und Jehova segnete unser Werk in jenem Lande sehr. Die Versammlungen beteiligten sich freudig an der Verkündigung der Königreichsbotschaft, und die Behörden machten uns damals wenig Schwierigkeiten. Als aber die Nazis 1938 das Sudetenland an sich rissen, war es jedermann klar, daß bald die ganze Tschechoslowakei in ihrer Hand sein würde. Als dann die Nazis an einem Morgen im März 1939 plötzlich in Prag einmarschierten, begannen wir sofort mit der Demontage der Maschinen und erhielten die Erlaubnis, sie nach Holland zu senden. Dann tauchten wir unter. Nachdem die Vorbereitungen zur unterirdischen Fortsetzung der Verkündigung der guten Botschaft von Gottes Königreich beendet wären, sollte ich gemäß Anweisung nach Bern fahren.
Als ich eines Abends zu später Stunde Prag verlassen hatte, erschienen am nächsten Morgen in aller Frühe Gestapobeamte im Bethel in Prag, um mich zu verhaften. Ich war überrascht, daß sie nicht vorher gekommen waren, denn sie waren schon vierzehn Tage in Prag. Nach einer schwierigen Reise kam ich über Ungarn wohlbehalten in der Schweiz an.
VIELE SCHÖNE JAHRE IN BERN
Wegen des drohenden Krieges waren die Schweizer Behörden darauf bedacht, daß alle Ausländer das Land verließen. Selbst Brüder, die schon viele Jahre im Berner Bethel tätig gewesen waren, wurden davon betroffen. Die Wachtturm-Gesellschaft hatte Vorkehrungen getroffen, daß diese Brüder nach Brasilien fahren und dort den Pionierdienst aufnehmen konnten. Alle Vorbereitungen dafür waren getroffen, die Schiffsplätze bestellt und der Abfahrtstag festgelegt. Doch eine Stunde vor unserer Abfahrt in Bern erhielten wir die Mitteilung, daß das Schiff von Genua (Italien) nicht abfahren würde, da Italien in den Krieg eingetreten sei. So mußten wir alle in Bern bleiben.
Ich habe nun hier im Berner Bethel viele Jahre gedient und bin reich gesegnet worden. Es war für mich eine Überraschung, als ein Schweizer Bruder mich 1950 einlud, nach New York zu fahren, um dem internationalen Kongreß beizuwohnen. Weitere Segnungen wurden mir zuteil, als mich die Gesellschaft zum Besuch der noch größeren Kongresse einlud, die 1953 und 1958 in New York stattfanden. Wie sehr schätzte ich doch die unverdiente Güte, die es mir ermöglichte, diese internationalen Kongresse zu besuchen!
Wenn ich jetzt auf die dreiundfünfzigeinhalb Jahre zurückblicke, in denen ich bisher im Vollzeitdienst stand, der mit meinen ersten Pioniertagen in Hamburg begann, bin ich sehr glücklich, daß ich die biblische Verpflichtung, die gute Botschaft von Gottes Königreich zu predigen, angenommen habe. Ich habe viele Jahre in Bethelheimen in verschiedenen Ländern gedient, wo ich mir nicht die Arbeit aussuchen konnte, die mir gefiel, sondern wo ich die mir aufgetragenen Aufgaben zu erfüllen hatte. Ich bin glücklich, daß ich stets bemüht gewesen bin, den Anweisungen Jehovas, die mir durch seine irdische Organisation zugingen, nachzukommen, denn dieser Gehorsam ist für mich eine Quelle reicher Segnungen gewesen.
[Bild auf Seite 351]
Das Bethelheim in Bern, Schweiz